Wer vermessen will,
wo das Gedicht steht, denkt am besten zunächst über seine Dimensionalität nach.
Die Dimensionen des Papiers, seine variable Höhe und Breite, ermöglichen ein (ebenso variables) Arrangement von Worten. Dieser materiellen Struktur entsteigt eine dritte Dimension, zu der Bilder, Metaphern, die Imagination des Autors wie des Lesers gehören. Ihr
Hineinreichen in die Realität. Ihr Berühren, ihre Tuchfühlung mit der Realität. Das
Wo des Standorts schließt als vierte, als Zeit-Dimension auch die Verankerung – oder zumindest Verbindung – mit der Gegenwart ein. Denn für das Gedicht, eine unter vielen Möglichkeiten menschlicher Äußerung, gilt meiner Ansicht nach das gleiche wie für die Kommunikation: Es kann nicht
nicht reagieren, selbst in der Verweigerung dessen, was gerade aktuell oder
en vogue ist. Gemeinsam mit seinem Urheber steckt das Gedicht in der Zwangsjacke seiner sechs oder sieben Jahrzehnte, eng umschlossen – umströmt – von kulturellen und sozialen Tatsachen, von virulenten Themen und bestimmten, bestimmenden Konnotationen.
Aber
wo steht das Gedicht? Und
steht es? Und ist dieses Wo auch der
Ort des Gedichts?
Nüchtern gesehen bedeutet das Präfix „post-“, auf das gerne bei Standortbenennungen zurückgegriffen wird, nichts als eine zeitliche Einordnung: Eine Sache liegt auf einem Zeitstrahl hinter einer anderen Sache. Das Präfix kann jedoch auch, wenn ideologisch-programmatische Schubfächer aufgezogen und Etikettierungen angeklebt werden, eine Abgrenzung, eine Verabschiedung
ad acta und zuletzt eine längst überfällige Überwindung meinen. Ich zweifle nicht daran, daß viele Formen und Inhalte des Gedichts
überholt sind, aber der Begriff „post-“, der sich ja auf ein Neues hin öffnet und aus der Position des Neuen heraus betrachtet, summiert entweder dreist die Diversität der Stile oder geht von nur einer führenden Stilrichtung aus. In beiden Fällen würde „post-“, so oder so, etwas als nicht mehr zeitgemäß definieren. Weil ich jedoch bezweifle, daß
alle etablierten Formen ausgereizt sind, bin ich bei solcher Wortwahl stets ein wenig skeptisch.
In dem Präfix „post-“ schwingt für mich eine gewisse Ratlosigkeit mit, eine Verlegenheit, wie die Gegenwart und das gegenwärtige Schreiben zu definieren seien. Mir scheint, daß dieses sicherlich notwendige Verorten sich heute vor allem an
Begrifflichkeiten orientiert, nicht an
Inhalten. Begrifflichkeiten wie beispielsweise
post-poésie implizieren nach meinem Verständnis eine normative Verbindlichkeit: Das Gedicht, will es ernstgenommen werden,
müsse sich an einem aktuellen Diskurs orientieren. Natürlich befindet sich das Gedicht bereits per se in einem historischen, kulturellen, sozialen, ästhetischen Kontext – umfaßt das Selbstverständnis des Gedichts auch seine Beziehung zu – und aus diesem Grunde quält mich immer die Frage, warum ein Stil mehr wahrgenommen wird als ein anderer Stil von gleicher Qualität. Je länger ich über bestimmte Begrifflichkeiten nachdenke, desto fadenscheiniger kommen sie mir vor. Was meinte
avantgardistisch? was heißt
experimentell? was bedeutet
traditionell? Diese Begrifflichkeiten – weil sie restriktiv verwendet werden – beschneiden das, was ich als Freiheit des Gedichts empfinde.
Als Leser ziehe ich unbedingt die Pluralität der Stimmen vor. Das aufgefaltete Papier, das aufgeschlagene Buch: sie entfalten sich zur Stil-Vielfalt. Hier mag auffallen, daß ich mich metaphorisch noch immer auf das Buch als das wichtigste Medium für das Gedicht berufe. Das hängt mit meiner persönlichen Rezeptions-Vorliebe zusammen: der solitäre Leser, der die visuelle Gestalt des Gedichts wie ein Gemälde genießt und die gelesenen Worte in sich Stimme werden läßt, Rhythmus und Sinn. Ich meine, das Gedicht soll seinem inneren Gesetz gehorchen, einer Art ästhetischer Gravitation, verflochten in einen RAUM-ZEIT-METATEXT, in dem Kategorien und Klassifizerungen allenfalls sekundär sind.
Wenn ich sage: Das Gedicht ist eine
Echolotung der Realität bzw. Gegenwart, dann bediene ich mich einer Metapher, die sicherlich nicht den neusten technologischen Standard repräsentiert. Und doch diente dieses Prinzip den Fledermäusen seit Jahrtausenden der Orientierung – man erinnere sich an Richard Wilburs treffliches Gedicht MIND. Natürlich, die Sprache ist dürftig im Hinblick auf Vermittlung des gesamten Spektrums der Realität(en), trotzdem scheint es mir ein wenig widersprüchlich, auf diese Tatsache mit Wörtern zu reagieren. Die Eloquenz, mit der oft die Sprache bezweifelt und dekonstruiert wird, ist erstaunlich. Mich dagegen interessiert sie mehr als ein – wie auch immer klapperiges und wackeliges – Instrumentarium, um uns über die
Welt zu informieren. Wer behauptet, die Deskription (freilich ästhetisch aufbereitet, nicht als ungenießbare Rohmasse) sei unreflektiert, banal, der hat die Lust am Sehen und Welterleben, Welterspüren verloren.
Was die Poesie heute von der mancher früheren Zeiten unterscheidet, ist ihre Möglichkeit und Notwendigkeit, sich
keinem Sujet zu verschließen. Aber hieße das nicht manchmal, Gold zu machen aus Scheiße? Ja, tatsächlich: das Gedicht ist eine Alchemistenküche. Ich kann mir heute sogar die luxuriöse Freiheit gestatten, das Lobpreisen zu bevorzugen. Nicht die Augen zu verschließen vor dem Müll, der Zerstörung, der Häßlichkeit, nicht die Ohren zu verstopfen vor dem Jammern und Schreien, sondern sie im Gegenteil weit aufzusperren – und sich dann zu
entscheiden, die klägliche Schönheit aufzulesen. Um ihretwillen zu schreiben. Das Gedicht kann seiner Heutigkeit nicht entkommen.
Können wir denn schreiben, was uns wert und würdig erscheint, wie es das titelgebende Zitat von Heinrich Albrecht, aus Anlaß des Endes des Dreißigjährigen Krieges, jubelnd verkündet?
Schreiben können – ist nicht bloß innere Disposition, Eingestimmtheit in/auf einen bestimmten Augenblick und Gegenstand.
Schreiben können – ist auch eine zivilisatorische Errungenschaft, die nicht in allen Weltteilen selbstverständlich ist. Manchmal ist sie dieserlanden ein allzu selbstverständliches Gut geworden, auf dem sich der Autor, arrogant und selbstvernarrt über allerhand Spitzfindigkeiten meditierend, ausruht. Die Debatten um die Lyrik – soweit ich sie verfolge – kreisen öfter um formale Aspekte als um inhaltliche, ich stelle mir dagegen, zugegeben idealerweise, ein Gedicht vor, bei dem zur Ästhetik und Reflexion inhaltliche Dringlichkeit tritt wie ein in den Bauch gerammtes Messer.
„Das Gedicht“, im Singular. Ein Hilfsbegriff hier, zur groben Orientierung. Und (so wollte ich im ersten Ideenanflug ergänzen) zur Abgrenzung von Börsenberichten oder Kochrezepten – Doch das wäre grundlegend falsch. Das Gedicht meint: die Dichtung, in ihrer Pluralität, und die soll permeabel sein, sich in alle Richtungen öffnen, sich sämtlicher zur Verfügung stehenden Medien und Möglichkeiten bedienen. Um Wirklichkeit in und zur Sprache zu bringen, um Gedichte durch Wirklichkeit und Wirklichkeit durch Gedichte zu wechselseitiger Teilnahme zu bewegen: „Reziproke Schöpfung“ (Pattiann Rogers). Ich glaube aber im Umkehrschluß nicht, daß
anything goes. Ich meine vielmehr, die Diskussion über den Zustand der Dichtung heute müßte nicht nur handwerklich-strukturelle Aspekte erwägen, sondern auch ein Instrumentarium entwickeln, das das Unwesentliche vom Wesentlichen trennt.
Das Gedicht, als Individuum, in Kommunikation zu anderen Individuen. – Aber wo befindet sich das Gedicht heute in
Deutschland?
Ein ketzerischer Gedanke sei zum Schluß gewagt: Wie wir es für zivilisiert halten, Gewalt nicht mit Gewalt zu beantworten, so sollte es für ästhetisch gelten, die Banalität der abzubildenden Welt nicht allein
salopp oder
ironisch wiederzugeben oder zu dokumentieren. Die Poesie des Zwanzigsten Jahrhunderts hat mit gutem Recht und ungestillter Neugier viele neue Möglichkeiten und Formen erschlossen. Sind alle haltbar? Ihre Überwindung – hin zu einer post-Banalität – das wäre, meiner Ansicht nach, zumindest eine Überlegung wert. Dem Gedicht in Deutschland fehlt manchmal Weite, Raum, wie man ihn beispielsweise in amerikanischen Gedichten findet, es ist quasi eine Kleinstaaterei in Wörtern, mit der Provinzhauptstadt des eigenen Kopfes.