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LYRIK-DISKURS   7

„Vielleicht hilft es uns“, schreibt Dieter M. Gräf in seiner Eröffnungsmail an Alessandro De Francesco, „wenn wir uns über post-poésie Gedanken machen, klarer zu sehen, wo wir derzeit stehen?“ Beide Dichter beschäftigen sich mit Entgrenzungen, mit anderen Medien, und werden nun in einer Korrespondenz für den poetenladen ihr Verständnis von zeitgenössischer Dichtung vorbringen und weiter entwickeln. In der Lyrik-Konferenz beziehen weitere Autoren Stellung.
Dieter M. Gräf  
Dieter M. Gräf, Jahrgang 1960, lebt nach seiner Kölner Zeit und Aufenthalten in Rom, New York und Vézelay nunmehr in Berlin. Er veröffentlichte 1994-2004 im Suhrkamp und Insel Verlag drei Gedichtbände sowie eine Anthologie; sein neuester Band, Buch Vier, liegt nunmehr bei der Frankfurter Verlagsanstalt vor. Green Integer veröffentlichte die Auswahlbände Tousled Beauty und Tussi Research (Los Angeles 2005/07).
Alessandro De Francesco  
Der 1981 in Pisa geborene, derzeit in Frankreich lebende Alessandro De Francesco debütierte mit Lo spostamento degli oggetti (Cierre Grafica/Anterem, Verona 2008) und bewegt sich mit seinen Texten, Performances und Vermittlungen international mit großer Selbst­verständ­lichkeit.

Siebter Brief | Dieter M. Gräf

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Siebter Brief
Die Zeit-Literaturchefin, lieber Alessandro, hat ihre Besprechung einer Veranstaltung mit zeitgenössischen Dichtern mit First Class Second Hand überschrieben, und ich möchte solche Ärgerlichkeiten gewiss nicht nähren, in einer Zeit, in der Dichter wie Les Murray oder Inger Christensen leben, und viele andere mehr, die die „Poesie“ ihrer Sprachen weiter entwickelt haben und weiter entwickeln. Freilich stimme ich Dir zu, dass wir immer in der Gegenwart schreiben, und meine darüber hinaus, dass Gegenwart die einzige reale Zeit ist, denn die Vergangenheit ist nicht mehr und die Zukunft noch nicht. Die letzte Sekunde und die nächste, sie sind nicht Wirklichkeit, sondern Erinnerung oder Vorstellung. So weit, so gut, aber dennoch habe ich als Dichter Probleme mit der Gegenwart. Mein neues Buch beginnt quasi am 12. September 2001, vor diesen CNN-Bild­schirmen in Taipeh, während der Taifun die Straßen überschwemmt. In der Hinsicht setze ich fast reporterhaft ein, aber schaut man genauer auf die Entstehungsdaten im ersten Kapitel, ist es ein nachgereichter Text, der diese Zusammenhänge klarstellt. Saddamdouble, Guantánamo, Ground Zero – das ist nah an der Gegenwart, aber letztlich selbst an diesen Stellen und auch eingedenk dessen, dass die Gedichte Monate oder Jahre vor ihrer Drucklegung entstanden sind, ein Blick zurück. In anderen Abschnitten könnte man fast von einem Retro-Touch sprechen, sind es doch nicht zuletzt die 70er Jahre, in denen ich aus meiner Kindheit herauswuchs, die mich beschäftigen. Was in den Nach-68ern geschah, hat mich sehr erreicht, die Dichtung dieser Jahre enttäuschte mich jedoch. Ab und an ist es ein Anliegen von mir, zeitverschoben Abhilfe zu schaffen, auch das ist ein Transfer.

Jedenfalls beschäftige ich mich, ich glaube im Unterschied zu Dir, in meinen Texten oft mit Personen und Konfi­gurationen der Geschichte und Zeit­geschichte, wobei ich stets versuche, für mich zu klären, wie man jetzt darüber schreiben kann. Das macht mich womöglich anfälliger für eine Bezugnahme auf die Moderne in ihrer heroisch-utopischen Zeit, die mich, wenn ich ein Geständnis machen darf, stärker fasziniert als die Gegenwart. Jedenfalls wurde ich in diesem Sog zum Dichter, und weiß nicht, was wäre, wenn ich heute aufwachsen würde. Die Moderne scheint mir ein Kraftfeld zu sein, das mein Schreiben auf den Weg bringt, aber mich dann auch „allein“ lässt. Ich kann also nicht in ihr aufgehen, in ihr verweilen, mit ihr auskommen. Auf das jetzt ließ ich mich besonders ein, als ich verstärkt mit meditativen Praktiken experimentierte, aber als Autor ist da immer Ambivalenz. Verstärkt in der Gegenwart zu sein, das bringt, auf das Literarische verkürzt und ohne die Problematik, dass es das Schreiben beenden kann, eine frische Wahrnehmung und scheint mir nach wie vor wichtig, um ein Werk gestalten zu können. Von hier kommt Lebendigkeit, Wärme, Wahrnehmung des Sichtbaren, das Persönliche. Aber das scheint mir nur eine Ebene zu sein. Wäre sie sehr dominant, hätte ich die Befürchtung, dass das Werk (ich denke hier nicht an das einzelne Gedicht, sondern an den Band, also an den Makrotext) mir zu persönlich wird, mir zu sehr menschelt. Hat das literarische Schreiben nicht auch diesen Zug ins Vergangene, so dass sich auratische Ablagerungen bilden können, und kommt nicht von daher, von den so möglich werdenden Schichtungen und Überlagerungen, Tiefe? Mir scheint ein Changieren nötig zu sein zwischen jetzt und Abstand. Dein anderer Einwand betrifft den Bezug von Leerfläche und Weite, insbesondere im geografischen Sinn: derzeit handhabe ich das so, aber meine nicht, dass das so gehandhabt werden muss, und auch Deine beiden neueren Gedichte scheinen mir ein weiterer Beleg für die Vielfalt der Möglichkeiten, die sich auftun, wenn man den Körper des Gedicht-Textes als Fläche begreift.

Unser Korrespondenzprojekt geht nun, jedenfalls in dieser Form, seinem Ende entgegen. Vor mir liegt die bei Wallstein erschienene Anthologie Keine triste Isolde. Gegenwartslyrik aus Flandern und den Niederlanden, deren Nachwort ich übrigens entnehme, dass es dort eine Diskussion um den auf Poesie bezogenen Begriff der Postmoderne gab. Beim ersten Lesen sind mir drei Dichter besonders aufgefallen: Tonnus Oosterhoff, der übrigens eine sehr schöne Homepage hat (www.tonnusoosterhoff.nl), Peter Verhelst und Dirk van Bastelaere. Derzeit lese ich Region der Unähnlichkeit von Jorie Graham, Urs Engeler Editor, ebenfalls eine zweisprachige, exzellent aufgemachte Publikation. Ich bin da noch am Anfang, aber meine, eine sehr besondere Dichterin vor mir zu haben. Zum Glück gibt es in Deutschland recht vielfältige Bemühungen, die Gegenwartsdichtung anderer Sprachen zugängig zu machen, aber manches gerät dann doch recht zufällig. So gibt es immer noch keinen Band mit Michael Palmer, der weder den Vorzug hat jung zu sein, noch tot ist, aber vielleicht einer der bedeutendsten Dichter der USA , die neue in die alte und die alte Welt in die neue tragend. Immerhin scheint nun kookbooks diese Lücke schließen zu wollen. Sehe mir nach, Alessandro, dass ich das jetzt ganz aus deutschem Blickwinkel betrachte. Ich finde, Du bist mit hiesigen Verhältnissen durchaus vertraut, aber in anderen Literaturen vielleicht noch mehr zuhause, so dass mich interessieren würde, ob Du uns den ein oder anderen Namen nennen könntest, der hier, im deutschsprachigen Raum, sehr fehlt und andeuten möchtest, was er uns geben könnte? Der freundlich-geschäftige Poesie­betrieb und natürlich die ganze Kulturindustrie bieten uns nicht wenig, aber machen uns auch lau, indem sie uns mit dem Mittelprächtigen über­schwemmen. Mit gutem Willen kann man stets Wertschätzendes aus sich herausholen, aber letztendlich befürchte ich, versäumen wir das Beste, das, was wir eigentlich suchen und brauchen, durch dieses Anpasslertum. So kommt es dann, dass Iris Radisch mit ihrem First Class Second Hand titelt. Weil ihr noch niemand gesagt hat, dass sie Zeitgenossin von Les Murray ist, und dass dessen Fredy Neptune neben den großen Epen der Menschheit gar nicht schlecht dasteht.
Die Antwort von Alessandro De Francesco (Brief 8) wird demnächst an dieser Stelle erscheinen.
30.10.2008         
  1. post-poésie (I)
  2. post-poésie (II)
  3. ästhetisch links
  4. against dualisms
  5. Transfer
  6. (anti)political and transfer process
  7. jetzt
  8. no first class second hand!
  1. Lucas Hüsgen:
    In einer Hoffnung auf Wildnis
  2. Sylvia Geist:
    Finden, Fiebern, Übersehen
  3. Jean-Marie Gleize:
    L'excès – la prose
  4. Noura Wedell:
    Prejudice Perception
  5. Jan Volker Röhnert:
    Poesie und Gedicht
  6. Jayne-Ann Igel:
    Was auf der Hand liegt
  7. Anja Utler:
    Unter dem post-Deckchen
  8. Han van der Vegt:
    The Body Poetic
  9. Tom Pohlmann:
    Entgrenzungen. Oszillationen
  10. Flavio Ermini:
    La passione del dire
  11. Christian Schloyer:
    Tractatus ...
  12. Jérôme Game:
    Poetics of the borders
  13. Jürgen Brôcan:
    „... daß wir können sicher schreiben ...“
  14. Hans Thill:
    Weder Gott noch Metrum
  15. Tom Schulz:
    Anstelle einer Poetik
  16. Norbert Lange:
    Lichtungen