LYRIK-KONFERENZ 14
„Vielleicht hilft es uns“, schrieb Dieter M. Gräf in seiner Eröffnungsmail an Alessandro De Francesco, „wenn wir uns über post-poésie Gedanken machen, klarer zu sehen, wo wir derzeit stehen?“ Beide Dichter beschäftigen sich mit Entgrenzungen, mit anderen Medien, und haben in einer Korrespondenz für den poetenladen ihr Verständnis von zeitgenössischer Dichtung vorgebracht und weiter entwickelt. Nun werden sich weitere Dichter und Lyrikexperten äußern.
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Hans Thill wurde 1954 in Baden-Baden geboren und lebt in Heidelberg. Er gehört zu den Mitbegründern des Verlags Das Wunderhorn, wo seine Gedichtbände Gelächter Sirenen (1985), Zivile Ziele (1995) und Kühle Religionen (2003) erschienen, für den er mit dem Peter-Huchel-Preis ausgezeichnet wurde. Zusammen mit Michael Braun gab er bei Wunderhorn die Anthologien Punktzeit (1987), Das verlorene Alphabet (1998) und nunmehr Lied aus reinem Nichts heraus, die jeweils die deutschsprachige Poesie in Dekaden zusammenfassen.
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In enger Zusammenarbeit mit dem Künstlerhaus Edenkoben verantwortete er die Publikationsreihe Deutsche Reise nach Plovdiv und ist Leiter des Übersetzungsworkshops Poesie der Nachbarn. Hans Thill gehört dem Präsidium des deutschen P.E.N.-Zentrums an und veröffentlichte zahlreiche Übersetzungen aus dem Französischen (Goll, Soupault, Sollers, Giono, Fénéon, Meddeb, Djebar, Ozouf, Joly, Apollinaire).
Vierzehntes Statement | Hans Thill
Weder Gott noch Metrum
Versteht ein Mensch etwas, das er für unbegreiflich hielt,
so freut er sich
(Orhan Veli Kanik)
Liebe Freunde, auch ich weiß nicht, ob die Poesie einen Anfang und ein Ende hat, ein Vorne und ein Hinten. Natürlich ist die Poesie nicht »ewig«, natürlich hat jedes Gedicht seine Zeit. Aber seine Quellen können, das zeigt auch diese Lyrikkonferenz, auf dem Zeitlineal an ganz unterschiedlichen Stellen stehen. Ob kurz hinter der Moderne oder im Mittelalter (Jerôme Game), ob im fernen Nirgendwo der Genesis, in einer Ur-Welt des Traums oder in einer »Hoffnung auf Wildnis« (Lucas Hüsgen). Dennoch, erstes Paradox, hält jeder dafür, daß das Gedicht zeitgenössisch ist. Meist jenseits der Moden und Trends, wie sie im Betrieb an jeder Ecke ausgerufen werden. Im Gedicht »muss die Kulturentwicklung der letzten Jahrhunderte zum Material werden« (Anja Utler).
Tatsächlich wird von den Kulturhistorikern ein Beginn poetischen Sprechens in dunkle Vorzeiten verlegt, in den paläolithischen religiös-kulturellen Komplex. Unter Dichtern ist die Vorstellung verbreitet, das poetische Sprechen nähre sich aus einem Denken vor der Vernunft, aus der Zeit vor der systematischen Philosophie. (Paul Wühr und Paul Valéry, aber auch Flavio Ermini: »L'esperienza poetica è una discesa esistenziale verso il pensiero prelogico«).
Die Geschichte der Avantgarden erzählt dagegen von der Befreiung des Gedichts. Je mehr der Bürger glaubte, die ganze Welt in der Tasche zu haben, desto frecher wurden die Dichter. Es gab Zeiten (an der Nahtstelle von mündlicher und schriftlicher Poesie), da waren sie beides zugleich: Außenseiter und Sprecher ihres Stamms. Vielsagend etwa die Biographien der Verfasser der Mo´allaqat, jener kanonischen Gedichte der Nomaden auf der arabischen Halbinsel aus der Zeit direkt vor dem Sieg des Islam (als die Mehrzahl der Stämme christlich war). Die Dichter dieser langzeiligen Sehnsuchtsgesänge, deren Rhythmus der Schritt des Kamelweibchens vorgibt, sind illegitime Fürstensöhne, verstoßene Prätendenten auf die Führung des Stammes, Trinker, Aussteiger, Versager. In ihrem Umkreis: gescheiterte Prophetinnen, Verbrecher aus Leidenschaft. Sie stehen außerhalb des Stammes und werden deshalb verehrt. Der Endreim geht auf sie zurück, ihre Lieder wurden erst nachträglich aufgeschrieben und in der heiligen Stadt Mekka ausgehängt. Die ersten Troubadoure Okzitaniens dagegen waren die Herrschenden ihrer Zeit, Fürsten, Haudegen, Kavaliere auf der Suche nach der elegantesten Form, ihre Liebesabenteuer zu erzählen. Wenn ich heute ein Gedicht schreibe, stehe ich in beider Tradition, aber tue ich dasselbe wie sie?
Umgekehrt: Schluß zu machen mit der Tradition, ein Post- auszurufen, ist eine verbrauchte Geste der Avantgarden. Von ihnen hören wir aber auch die schönsten Sätze der Befreiung: »Die Poesie wird mit dem Mund gemacht« (Tristan Tzara). »Ich nähere mich der Poesie: aber damit ich ihr fehle« (Georges Bataille). »Die Leidenschaft ist ein Express-Zug, der täglich um siebzehn Uhr vorbeikommt« (Philippe Soupault).
Allerdings gibt es nicht nur die europäischen Avantgarden. Jeder Kontinent hat seine Moderne, wie auch die Archipele, die sich über die Meere verstreuen. Edouard Glissant von den Antillen (Martinique) mit seinem Modell der Poesie als Welt-Beziehung nimmt das poetische Sprechen als Ausdruck der sich immer wieder erneuernden Verhältnisse unter den Menschen nach dem Kolonialismus. Vor ihm brachte Aimé Césaire mit der Négritude die Emanzipation der Schwarzen auf die Tagesordnung. Bereits seit mehreren Generationen betreiben arabische Autoren französischer Sprache eine Revision der eigenen Kultur. Als Dichter stellt sich Abdelwahab Meddeb in die lange Reihe der mystischen Sufi-Provokateure, als Philologe betreibt er eine Art emanzipativer Hermeneutik zur Modernisierung des Islam aus seiner eigenen Geschichte.
Soviele Gleichzeitigkeiten, alle im Namen der Poesie. Bereits der Begriff signalisiert Internationalität und ist vermutlich über die french-connection in unsere Konferenz eingebracht worden. In den poetologischen Debatten der jungen Leute um die Zeitschrift Bella Triste war nie von »Poesie« die Rede. (Außer bei Christian Schloyer – und da interessanterweise »als Sehnsuchtsform«). Es heißt immer »das Gedicht«, »die Lyrik« usw. Fürchtet man Verschwommenheit (weil es ja auch außerhalb der Lyrik Poesie geben kann)? Ästhetizismus? Der Begriff ist schillernd, soll auch hier schillern. Immerhin scheint er ab und zu in Verbindung mit avantgardistischen Bild- Texten wieder auf: »Konkrete Poesie«.
1. Hans Test und die Praepoesie
Um nichts zu suchen das war mein Sinn
J. W. Goethe
Seit Jahren arbeitet Test an einer Autobiographie der Sprache. Als Titel vielleicht: »Museum der Ungeduld«. Als die Wörter laufen lernten. Wann war das? Lange bevor man Hütten baute, geschweige denn Häuser.
Ein Gedicht legt weite Strecken in kürzester Zeit zurück. Es nimmt Dinge auf, andere läßt es liegen. Jedes Gedicht trägt etwas mit sich, das nicht hineinpaßt. Viele Zeilen sind lange probierte Sätze, andere entstehen rasch, als eine Forderung des Augenblicks. Jede niedergelegte Zeile verbindet das Aufbewahren von Zugeflogenem und Mühe der Aneignung. Der Rhapsode in mir rät: schön unregelmäßig schreiben! Damit bin ich auf der Höhe der Zeit, die Formen verbraucht, ohne mich um Erlaubnis zu fragen.
Der Rhapsode (griech. rhaptein aneinandernähen, zusammenflicken), einer, der die Stücke zusammenbringt. Was sind das für Fetzen und wo kommen sie her? Keiner weiß das vielleicht. Aber jeder von uns hat einen Verdacht. Ich meine nicht das Anekdotische: so kam ich zum Schreiben von Gedichten. Schon interessanter: So habe ich schreiben gelernt. Die Abrichtung des Schreibens. Das Sitzen vor dem Papier, an einem Füller kauend, Aufstriche, die sich mit Tinte füllen, zu Flecken werden. Die Ermahnungen. Der Schreck: das hatte ich mir leichter vorgestellt.
Dagegen das Sprechen. Es fällt uns leicht, es kommt von selbst. Daß dieses Sprechen für sich keinen Grund braucht, ist eine der naheliegenden Erklärungen für die Autonomie des Gedichts. Hier ist der Ort, wo sich das Individuelle mit dem Gesellschaftlichen verschränkt, der Körper mit der Welt, das Besondere mit dem Allgemeinen. Die »Körperpoetik« (Han van der Vegt) mit der »pensée pensive« (Jean-Marie Gleise), es entstehen »Mischungsverhältnisse« (Tom Pohlmann) zwischen dem Autor und seinem Text. Deshalb sind historische Prozesse mitunter seismographisch an Gedichten ablesbar. Die Unabhängigkeitserklärung der Lyriker Mitte des 19. Jahrhunderts, ihr Ablösungsprozeß vom Publikum, bis heute von zahlreichen Populisten beklagt, findet hier ihren Ausgang.
Helmut Heißenbüttel im kühlen Ton der 1960er Jahre: »Poesie ist ein Zustand der Sprache.« Und: »Was die Sprache aufbewahrt, zeigt, was die Sprache an Gemeinsamkeit der Sprechenden besitzt (aufbewahren in Sprache heißt gemeinsam haben).« Hier zeigt sich die soziale Seite der Poesie, ihr Mitteilungscharakter (im weitesten Sinn). Sie bringt etwas in die Welt und stellt es zur Verfügung. Was sie in die Welt gebracht hat, ist von eigener Existenz, es lebt weiter. Es kann auch wieder sterben. Das Gedicht ist vielleicht nicht für jeden von Interesse, aber es ist erreichbar für die meisten. Ein kurzes, technisch unproblematisches Medium, zugänglicher als Musik, Film, Malerei. Das »geringe Genre« (Dieter M. Gräf) stellt Verbindungen her unter den Kulturen und Sprachen. Der Chor einer vielsprachigen Kommunikation, wir müssen uns Babel als eine glückliche Stadt vorstellen: »schönes Babylon« (Gregor Laschen).
Die Poesie wird mit dem Mund gemacht: Das Gedicht ensteht im Selbstgespräch, es löst sich aus einem inneren Stimmengewirr, das zur »Pluralität der Stimmen« (Jürgen Brôcan) wird. Wenn die Sprache ein menschliches Organ ist, wie Wilhelm von Humboldt postuliert, dann ist das Gedicht zu allererst eine Nutzung dieses Organs. Ich mache einen Text und erhalte ein »Machwerk« (die wörtliche Übersetzung des Wortes »Poesie«). Ich mache einen Test. (Und so verstehe ich Jean-Marie Gleise, wenn er von einem »essayage« spricht, »qui relèverait peut-être d'une pensée pensive«).
Deshalb sind mir die unfertigen Formen auch in der Geschichte am nächsten. Etwa die Lyrik des 17. Jahrhunderts, der deutsche Barock (von den nachfolgenden Generationen bis ins 20. Jahrhundert hinein mit einem Naserümpfen zur Kenntnis genommen), in dem die elaborierte Form des Sonetts mit einem unfertigen Hochdeutsch realisiert wird, das in seiner Gestik zahlreiche mündliche Rückstände transportiert, schöne, mutige Patzer und manche dialektale Pointe. Die Klagen eines Gryphius, die »Wälder« eines Fleming. Wie sich Opitz an seinem Ronsard abarbeitet, das hat wirkliche Größe, verglichen mit den glatten Versen eines Gottsched nach der großen Sprachbegradigung.
2. Hans Test und die Parapoesie
Test würde gern einmal den Satz schreiben: wir leben in einer Zeit … Er denkt, die Zeit, in der ich lebe, ist babylonisch. Türme werden gebaut, Sprachen vermischen sich. Eine Zeit der Kreativteams, die ihre Sprache nutzen, um Verwirrung anzurichten.
In Zügen der Deutschen Bahn werden ständig Durchsagen vorformuliert und abgewandelt, Beschriftungen erfunden und relauncht. Sie sind das Ergebnis konzentrierter Sprachanstrengung eines hierarchischen Gefüges, ausgetüftelt von Sprachdesignern. Die Durchsage begrüßt und verabschiedet, entschuldigt sich für Verspätungen, empfiehlt, übt sich in Höflichkeiten. Es gilt ein lockerer Ton: »Schönen, guten Tag« – »Wir sagen Tschüß und auf Wiedersehen«. Der Text, der über ein Wagenmikrophon jedesmal neu eingesprochen werden muß, nennt aber auch Verbindungen, aktualisierte Fahrpläne, man ist also gezwungen, ihn als wichtige Information zur Kenntnis zu nehmen. Jede dieser Hauptdurchsagen hat eine deutsche und eine englische Hälfte, wobei die zweite zu einem Kauderwelsch aus einem (im besten Fall verständlichen) englischen Satzbeginn und (im schlimmsten Fall englisch ausgesprochenen) deutschen Ortsnamen gerät. Das ganze kulminiert in einer Formel, die den für Sprecher wie Hörer langweiligen und schmerzhaften Prozeß beschließt, deshalb gern belacht und mit dem jeweiligen Akzent des Zugführers in den Abteilen nachgeäfft wird: »sänk ju for träveling with deutsche bahn.« Es ist eine Danksagung in sprachlich aufgeweichter Form, als unschöner Wortmischmasch zusammengerührt aus Pidgin-English und einem farblosen deutschen Namen, der sich jeder Verfremdsprachlichung zu widersetzen scheint. Häufig in Blog-Beiträgen und you-tube-Filmchen karrikiert, mußte sie bereits als Titel für einen satirischen Bestseller herhalten.
Wir haben es hier mit einem mißlungenen Versuch zu tun, einen Text »zum Abnicken« (Dieter M. Gräf) zu produzieren. Eine Vielzahl gelungener Einfälle und witziger Spots steht dagegen. Auch sie drängen sich auf, auch ihnen ist nicht zu entkommen. Während die Marketingfachleute möglichst zielgenau einen vorher bestimmten Punkt treffen möchten, behauptet ein Gedicht das Gegenteil. Für die Verkäufer besteht der Zauber des Wortes im Kaufimpuls, den sie am liebsten als eine Stelle im Gehirn verortet sähen. Ein Gedicht steht für die ästhetische Autonomie der Sprache, es baut auf die Wörter und die Prozesse, die sie in Gang bringen. Man muß es suchen und finden. Es arbeitet im Verborgenen.
Über all die falschen Gebrauchsanweisungen, scheinbaren Nebenbeitexte und lauten Aufreißer kann man sich empören, man kann sie auch in ein Gedicht hineinnehmen. Der Name Aldi, ein seltsam infantiles Konstrukt, das nach angegammeltem Karton mit Fisch und Plastik riecht, ist in zunehmendem Maße auch in Gedichten zu finden. Ein Wink mit dem Zaunpfahl, musikalisches Wortsignal, wie es überraschend aus einem Text hervorleuchtet.
3. Hans Test und die Postpoesie
Test möchte sich nützlich machen. Er zählt die Schritte bis zu seiner Wohnung. Er kramt in seiner Tasche nach dem Schlüssel und findet einen zerknautschten Zettel. Der bunte Prospekt einer Ausstellung der Gruppe Cobra, neulich in Brüssel. Er hat kaum leserlich an den Rand ein Bildgedicht von Pierre Alechinsky und Christian Dotremont notiert:
»Wenn die Nacht kommt, zünde ich ein wenig Schrift an, damit ich etwas sehe, aber ich sehe nichts, also krieche ich unter den Buchstaben hindurch, um in dem, was ich gesagt hätte, davonzufliegen.«
Gleichgültig, ob wir heute »Postmoderne« haben oder »Zeitalter des Internet« oder »die Zeit nach den Nullerjahren«, eine Tatsache, die uns Schriftsteller direkt betrifft, ist die Verschriftlichung der Welt. Das ursprünglich heilige Zeichen ist in einem Jahrhunderte währenden Prozeß der Alphabetisierung zum alltäglichen geworden. Man nehme zur Veranschaulichung die Geniza, in der die antiken Juden ihre Textschnipsel bestattet haben, und stelle sie dem heutigen Altpapiercontainer gegenüber. Die Buchstaben- und Zahlenwitze auf den Autonummern, seit sie nicht mehr amtlich zugeteilt werden, sondern zur Wahl stehen, wären ein anderes Beispiel. Selten sieht man noch eine konventionelle Kombination aus Stadtkürzel, Buchstaben und Zahl. Scherzhafte Spiele mit dem Ortskürzel (KA-TZ für Karlsruhe oder MA-US für Mannheim) sind so oft zu finden, dass sich der Witz schon lange verbraucht hat. Wie auch Ziffernhäufungen, die man früher kurios fand, heute fast schon die Regel sind. So schnell kann der Zufall seine Kraft einbüßen. Kaum noch denkbar, daß eine Reihe von Neunen im späten Mittelalter dazu geeignet schien, den Teufel heraufzubeschwören. Gleichzeitig ist überall von Magie die Rede. Waren in der frühen Neuzeit die magischen Praktiken ein Versuch, die Maschine Welt für sich arbeiten zu lassen, sollen sie heute zur lustvollen Unterwerfung unter ein Universum aus Strahlen, Farben und Strömen dienen. Die ehemals elitäre Geheimwissenschaft der Esoterik ist als Hausfrauenphilosophie zu einer eigenen Industrie geworden.
Kann man in dieser Zeit einen Text auf dem Wort als magischem Zentrum aufbauen? Ja man kann. Gregor Laschen, Wulf Kirsten können. Kann man heute noch Naturgedichte schreiben? Hans Arnfrid Astel, Michael Buselmeier können, Friederike Mayröcker kann, Marion Poschmann kann usw. Eine Zeitdiagnose muß nicht unbedingt den »Totsagern« (Kurt Schwitters) in die Hände spielen. War das nicht eine zentrale Übereinkunft postmodernen Denkens: aufhören mit den Totsagereien?
Es geht also nicht darum, ob etwas möglich ist oder »unmöglich«. Vielleicht hat deshalb auch die mathematisch potentielle Poesie (OuLiPo) ihren Reiz verloren. Es geht um Vorlieben, Wünsche. Poetologischen Debatten fehlt es deshalb an Schwung. Der Amok-Läufer Breton aus dem 2. Surrealistischen Manifest wurde durch frustrierte Jünglinge abgelöst, die richtig Amok laufen.
Das Gedicht ist Produkt des Eigensinns. Wie Jayne-Ann Igel kommt es mir »auf das an, was ich nicht weiß«. Ich bevorzuge Formen, in denen die Sprache weiterarbeitet. Das Schriftliche erfordert Festlegung, haltbare Formulierungen. Was ich sage, ist dagegen fertig, wenn es in der Welt ist. Die traditionellen Formen kommen aus dem Mündlichen, arbeiten sich ins Schriftliche vor und erstarren dort. Ich weiß, was ich sage. Das Probieren beginnt auf dem Papier. Ich schreibe Sätze auf, die ich nicht sagen könnte. Schreibend begebe ich mich auf das Feld der »produktiven Unzulänglichkeit« (J. W. Goethe), verlasse den Bezirk des Schriftlichen. Das ist der Schreibimpuls, hier von Begehren zu sprechen, kann nicht falsch sein, oder, wie Sylvia Geist, von »Fieber«. Abweichungen vom Muster gehen in Richtung Pathos oder in Richtung Unsinn. Der sublimierende Fehler, das profanierende Mißverständnis sind Zeichen für die Autonomie eines Textes, seine ästhetische Qualität.
4. Hans Test und die Patapoesie
Auf einer Brücke über die Autobahn sieht Hans Test »UCK« gesprüht. Waren das nun die Kosovo-Albaner oder fehlt nur das F?
»Ni dieu ni maitre«, die alte anarchistische Formel (ein Titel von Daniel Guerin, wiederaufgenommen von Hans Peter Dürr für eine Zeitschrift mit dem Untertitel: »Anarchismus heute« im legendären Verlag Karin Kramer) erfuhr eine Abwandlung von Paul Feyerabend: »Ni dieu ni mètre – weder Gott noch Meter«. Die Welt ist vermessen, das Lineal verschluckt. Man muß patapoetisch denken. »The rule can change at any step, if I somehow feel that it's necessary« (Alessandro de Francesco). (Wie nennt Jean Paulhan die Zeit der anarchistischen Attentate der Pariser Belle Epoque, begangen von dem brutalen Ravachol oder dem vorsichtigen Félix Fénéon? »Der große Kampf für den freien Vers«.)
Es gibt in der scholastischen Rhetorik die Figur der Unähnlichen Ähnlichkeit. Der Mystiker Heinrich Seuse vergleicht die Sonne mit einem »Schwarzen Mohr«, um ihre Strahlkraft zu verdeutlichen: das Fernliegende kann unter Umständen plausibler sein als das Nahe. Mit diesem Kunstgriff schließt der mittelalterliche Visionär eine Klammer um die Gegensätze. Das Paradox ist ein Glücksfall der Logik. Eine aufschießende Erregung, wenn zwei starke Widersprüche in einen Sinn münden. Deshalb bleibt es im Gedächtnis haften, wird weitergesagt, als religiöse Wahrheit, als Weisheit, als Witz. Ich bin auch im Poetologischen für die Unterschiedlichkeit der Ansätze. Dafür spricht die bunte Reihe der Jungen Lyrik, die sich seit den späten Neunziger Jahren zu Wort meldet. Man sollte nicht die Hände überm Kopf zusammenschlagen, sondern aushalten, was uns die Moderne an Ungleichzeitigkeiten beschert.
Auch ein Suchauftrag (ricerca) ist mir noch zuviel poetische Absicht. Ich arbeite an einem Gedicht, bis ich es ertragen kann. Hier steht es mit seinem unverletzten Körper, seiner Wörtlichkeit. Statt Gelächter zu erregen, sollte es lachen. Statt anzurühren, sollte es klagen können. Es sollte nicht zu ewig sein. Es wird geschrieben in Lust und Mühe mit einem provisorischen Alphabet. Am Ende heißen meine Patrone Jean Arp, der Meister des »opus null«, und Harpo Marx, der stumme Bruder, wenn er unter seinem weiten Mantel einen unerwarteten Gegenstand hervorzieht.
Mit einem langen Eisen hole ich mir meine Zeilen aus einem inneren Geschehen. Sie sollten (sie wollen) sein wie die Welt, in der wir leben. Das Gedicht ist aus dem Stoff der Welten gemacht. Es gibt kein privilegiertes Thema, keinen speziellen Wortschatz des Poetischen. »Faire feu de tous bois«, ein Feuer aus jedem Holz anzünden, so nennt es mit einer französischen Redensart Michel Leiris. Mit diesem, dem Mündlichen entliehenen, Vergleich wären wir zurückgekehrt in die Welt der Sammler und Jäger. Wenn der Schriftsteller beim Verfassen eines Gedichts sämtliche Phasen menschlicher Tätigkeit durchläuft – nicht immer in der zeitlichen Abfolge, in der diese sich entwickelt haben: Paradiesbewohner, Nomade, Gartenbauer, Arbeiter, arbeitsloser Ecksteher –, so kann auch seinem Gedicht nichts Menschliches fremd sein.
5. Schlußzitat
Beim Blättern stößt Hans Test auf eine der typischen Synopsen, wie sie die Surrealisten gern aufgestellt haben. Es handelt sich um poetologische Zitate Valérys, konterkariert von Breton/Éluard. Die meisten sind schlicht negierend, nach dem Motto: wenn Du ja sagst, sage ich nein. Es gibt aber eines, aus dem man doch poetologisch einige Funken schlagen könnte. Zeigt es doch, wie Valéry in seiner zum Selbsthaß gesteigerten apollinischen Hochnäsigkeit die Probleme gesehen hat. Und die Antwort des großen Terminators und seines treuesten Adjutanten ist aufschlußreich, weil an ihr auf witzige Art vorexerziert wird, wie man den Knoten durchhauen kann – und plötzlich liegt die Literatur als neue Herausforderung vor einem, als hätte es den ganzen alten Quatsch nicht gegeben: damals, als die Surrealisten noch recht hatten.
Valéry: »Welch eine Schande zu schreiben, ohne zu wissen, was Sprache, Wort, Metapher, Gedanken- und Klangwechsel bedeuten; ohne Einsicht in die Struktur der Länge des Werkes, noch in die Bedingungen des Abschlusses, kaum in das Warum und schon gar nicht in das Wie! Rotwerden, weil man die Pythia ist …«
Breton/Éluard: »Welch eine Kühnheit, zu schreiben, ohne zu wissen, was Sprache, Wort, Vergleiche, Gedanken- und Klangwechsel bedeuten; ohne Einsicht in die Struktur der Länge des Werkes, in die Bedingungen des Abschlusses, schon gar nicht in Warum und Wie! Grün werden, blau werden, weiß werden, weil man ein Papagei ist.«
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- (anti)political and transfer process
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In einer Hoffnung auf Wildnis
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Finden, Fiebern, Übersehen
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L'excès – la prose
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Prejudice Perception
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Poesie und Gedicht
- Jayne-Ann Igel:
Was auf der Hand liegt
- Anja Utler:
Unter dem post-Deckchen
- Han van der Vegt:
The Body Poetic
- Tom Pohlmann:
Entgrenzungen. Oszillationen
- Flavio Ermini:
La passione del dire
- Christian Schloyer:
Tractatus ...
- Jérôme Game:
Poetics of the borders
- Jürgen Brôcan:
„... daß wir können sicher schreiben ...“
- Hans Thill:
Weder Gott noch Metrum
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Lichtungen
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