LYRIK-KONFERENZ 6
„Vielleicht hilft es uns“, schrieb Dieter M. Gräf in seiner Eröffnungsmail an Alessandro De Francesco, „wenn wir uns über post-poésie Gedanken machen, klarer zu sehen, wo wir derzeit stehen?“ Beide Dichter beschäftigen sich mit Entgrenzungen, mit anderen Medien, und haben in einer Korrespondenz für den poetenladen ihr Verständnis von zeitgenössischer Dichtung vorgebracht und weiter entwickelt. Nun werden sich weitere Dichter und Lyrikexperten äußern.
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Die 1954 in Leipzig geborene und nun in Dresden lebende Jayne-Ann Igel
veröffentlichte zu DDR-Zeiten bei Samisdatprojekten, 1989 das Poesiealbum 259 und im gleichen Jahr in der Collection S. Fischer den Gedichtband Das Geschlecht der Häuser gebar mir fremde Orte. Bei Urs Engeler Editor folgten unlängst die Prosabände Unerlaubte Entfernung (2004), Traumwache (2006) und
Berliner Tatsachen (2009)
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Sechstes Statement | Jayne-Ann Igel
Was auf der Hand liegt oder Der poetische Raum
Im literarischen Diskurs wird auch heute noch gern von „post-“ gesprochen, als hätten sich die Gattung als auch ihr Vermögen zur Modernität gleichermaßen erschöpft und alles folgende, d.h. gegenwärtige, wäre nur als Nachspiel zu betrachten. Entziehen sich aber Literaturkritik wie Literaturschaffende vermittels ihrer Argumentationen nicht auch ein Stück weit der künstlerischen Verantwortung? Solang immer noch eine Lyrik wie die des Barockdichters Quirinus Kuhlmann, die einer Else Lasker-Schüler, einer Edith Södergran oder die eines Jesse Thor oder Uwe Greßmann (um nur ein paar Namen zu nennen, und es könnten hier auch ganz andere stehen) so frisch und lebendig, so zeitgenössisch daherzukommen vermögen wie in ihrer Entstehungszeit, kann ich kaum glauben, dass die Zeit für Gedichte zu Ende sein soll oder die zeitgenössische Lyrik heute nur noch zu epigonalem Tun verurteilt ist. Zeigen sich nicht vielmehr gerade in der Aktualität längst geschriebener Werke Zeitlosigkeit wie Zeitgenossenschaft jedweder Dichtung, die sich an äußerste Punkte vorgewagt hat, in ihrer Grenzgängereigenschaft …
Der Anfang der 90er Jahren eingeführte Begriff der Postmoderne birgt m.E. nach wie vor den gültigen Moment der Moderne in sich. Aber was zeichnet moderne Dichtung aus? Und was bedeutet uns dieser Moderne-Begriff? Entfernen wir uns doch endlich von dem ihm unterstellten Aspekt des modischen. Lassen wir doch dieses Absprechen oder Zuweisen von Etiketten, diese Begriffshuberei, um etwas einzuordnen, das sich von Mal zu Mal der Einordnung entzieht, weil es lebendig ist, in einer Entwicklung begriffen. Nur daß diese Entwicklung nicht linear als Fortschritt interpretiert werden kann. Die Gedichte selbst sind es, die ich als Ortsbestimmungen betrachte, und ihr Werkzeug, die Sprache, als ein feines Instrumentarium für das Wahrnehmen von Wirklichkeit. Und genau da sehe ich den Ansatz für selbstkritische Reflexionen des Autors, was die eigenen Schreibbewegungen betrifft, wie für die Textkritik. Ich weiß nicht, warum der Zeitgeist dem Sprachgefühl und der Eigenbewegung der Sprache, ihrem Sensorium so wenig vertraut und mit dem Seziermesser statt mit Gespür an die Sache herangeht … Gedichten allerdings, die keinen Zauber, keine Atmosphäre haben, kann ich nichts abgewinnen, sie kann ich nur zur Kenntnis nehmen. Gedichte, in denen nichts mitschwingt, die lediglich handwerklich gut gearbeitet sind – davon gibt es genug. Innovativ ist ein Text dann, wenn er Wirklichkeit zu schaffen, zu begründen vermag, einen poetischen Raum, Schwingraum von Worten, eine Atmosphäre, die eigenständig und also in einer bestimmten Weise auch einzigartig ist, unvergleichlich … Dabei ist alles möglich, auch zu experimentieren. Mit Erfindungen schafft man das nicht.
Sylvia Geist bezeichnet in ihrem Statement das Gedicht als Ort der Findung, während ich es eher, und darin inbegriffen die Sprache, als Instrumentarium für Erkundungen betrachte, und den entstandenen poetischen Raum, den Raum des Gedichts als Ergebnis dieses Erkundungsgangs zugleich, ein Ergebnis, dem nichts Endgültiges eignet, das wohl aber Gültiges darzustellen vermag.
„Schreibbar wird mir“, sagt Sylvia Geist, „was in meinem Erleben der Fall ist.“ Da liegen sich unsere Auffassungen nicht fern – auch ich vermag nur aus eigenem Erfahrungshintergrund heraus zu schreiben, der „Gegenstand“ muß von mir erlebt, erfahren worden, durch mich hindurch gegangen sein, und sei es in vermittelter Weise. Als Phantasie in diesem Prozeß erachte ich nicht die Erfindung, schon eher die Findung, aber zu allererst die Fähigkeit, in einem Erlebten, Erfahrenen noch ganz andere Aspekte, Schichtungen auszumachen als die, die auf der Hand liegen, die Fähigkeit, zu abstrahieren, neue Räume zu eröffnen, Bezüge zu entdecken und zu schaffen … Mir kommt es auf das Unsagbare an, das zwischen den Zeilen mitschwingt und für das der Bedingungsraum oder -rahmen von Worten geschaffen wird, wenn man nur bereit ist, deren Eigenbewegung zu beobachten, ihrem Sich-selbst-Organisieren zu folgen. Mir kommt es auf das an, was ich nicht weiß und im Schreiben zugleich zu etwas Erkund- und Erfahrbaren mache. Nur das interessiert mich am Schreiben, nur das fordert mich heraus und gibt mir das Gefühl, unterwegs zu sein, auf ungesichertem Terrain. Und dies bedarf jeweils ganz eigener stilistischer Mittel, die für jeden Text im Prinzip neu erfunden werden müssen resp. erzwingt sie schon der „Gegenstand“ selbst. Was dann, vorausgesetzt, das Gedicht ist gelungen, auch dessen innovativen Charakter mit ausmacht. Dabei muß der entstehende poetische Text/Raum von innerer Notwendigkeit bestimmt, in diesem Sinne wahrhaftig sein. Weiter und weiser sein als ich im Augenblick seiner Niederkunft … Ein Augenblick, der ja doch zumeist ein Prozeß ist. Und dies alles vollzieht sich im Unbedingten, in der Bedingungslosigkeit, in der das Schreiben idealerweise statthat.
Die Lyrik-Konferenz wird an dieser Stelle mit weiteren Teilnehmern fortgesetzt.
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- post-poésie (I)
- post-poésie (II)
- ästhetisch links
- against dualisms
- Transfer
- (anti)political and transfer process
- jetzt
- no first class second hand!
- Lucas Hüsgen:
In einer Hoffnung auf Wildnis
- Sylvia Geist:
Finden, Fiebern, Übersehen
- Jean-Marie Gleize:
L'excès – la prose
- Noura Wedell:
Prejudice Perception
- Jan Volker Röhnert:
Poesie und Gedicht
- Jayne-Ann Igel:
Was auf der Hand liegt
- Anja Utler:
Unter dem post-Deckchen
- Han van der Vegt:
The Body Poetic
- Tom Pohlmann:
Entgrenzungen. Oszillationen
- Flavio Ermini:
La passione del dire
- Christian Schloyer:
Tractatus ...
- Jérôme Game:
Poetics of the borders
- Jürgen Brôcan:
„... daß wir können sicher schreiben ...“
- Hans Thill:
Weder Gott noch Metrum
- Tom Schulz:
Anstelle einer Poetik
- Norbert Lange:
Lichtungen
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