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LYRIK-KONFERENZ   15

„Vielleicht hilft es uns“, schrieb Dieter M. Gräf in seiner Eröffnungsmail an Alessandro De Francesco, „wenn wir uns über post-poésie Gedanken machen, klarer zu sehen, wo wir derzeit stehen?“ Beide Dichter beschäftigen sich mit Entgrenzungen, mit anderen Medien, und haben in einer Korrespondenz für den poetenladen ihr Verständnis von zeit­genössischer Dichtung vorgebracht und weiter entwickelt. Nun werden sich weitere Dichter und Lyrikexperten äußern.
Tom Schulz  
Tom Schulz 1970 in der Oberlau­sitz geboren, lebt nun in Augs­burg und Berlin. Er veröffentlichte insbesonde­re die Gedichtbände Vergeu­den, den Tag (KOOKbooks, Id­stein 2006) und Kanon vor dem Verschwinden (Ber­lin Verlag, Berlin 2009); als Herausge­ber veröffentlichte er zuletzt die Antho­logie alles außer Tiernahrung – Neue politische Gedichte bei Rotbuch.

Fünfzehntes Statement | Tom Schulz

Anstelle einer Poetik

You did this.
Pure genius at work. Darling, the composer
has stepped into fire.
Anne Sexton
 
Schreiben heisst voraussehen.
Paul Valery
Viele haben über Poetiken schon so vieles geschrieben, dass es beinah von allem zuviel ist. Und wenn ich etwas über Poetiken sagen möchte, dann mit Abstrichen dieses: Nicht nur der Teufel macht große Haufen –
Ich werde also beginnen, den Spatz in der Luft zu verschriftlichen.
Aber wie kann denn etwas, das fliegt oder sich zumindest bewegt, auf Katalo­gisierung aus sein? (Es gibt ganz sicher gutgemeinte und min­der­bezahlte Erklä­rungs­bücher, wie Gedichte entstehen. Und wenn jemand meint, er wisse es genau, dann ist diese Wissendheit wohl vornehmlich eine Hochfahrendheit. Kein Dichter möchte genau dies wissen, wie Ge­dichte entstehen, und das Publikum heute erst recht nicht, denn es liest in der Regel keine zeit­genös­sischen Gedichte.)

Aber zurück zur Poetik und dem Schusterhandwerk:
Es war einmal ein Wolf, der lebte in einem tief­schwarzen Wald und eines Tages begegnete ihm eine schöne Frau. Es stellte sich später heraus, dass sie, schön wie keine andere Frau des ganzen Waldes, die Tochter des Schusters war. Der Wolf wusste nicht, wie er diese unsagbar Schöne für sich gewinnen könnte und sagte: O Du Holde, ich werde für Dich die Bäche zum Klingen bringen und das Rauschen der Blätter wird reinste Musik werden!
Da antwortete die Schöne: Aber es ist doch Musik in den Bäumen und die Bäche klingen so lieblich, wie herrlich die Gräser zirpen! Der Wolf raunte zurück: Du irrst dich Kind, nur ich kann die Sinfonie des Waldes anstimmen, das kann kein anderer, nur ich! Da zerfiel die Schöne zu Staub und der Schuster weinte achtund­vierzig Monate um seine Tochter, und sein Schluchzen war so grässlich, dass die Bäume entlaubten und das Gras gram­schwarz wurde. Alles wurde zu Asche und Kohlenstaub. Selbst der Wolf geriet in eine Vortoten­starre und man ließ ihn schließlich ausstopfen.

Zurück zur Poetik und dem Blick in den Spiegel:
Meine Gedichte wollen doch eines nicht: eine Hilfswissenschaft evozieren oder gar anregen, die gern die Poetik des Autors genannt wird? Ich misstraue doch jeder Poetik und meiner eigenen am meisten? Ich misstraue doch den wortreichen Versuchen für das, was das Gedicht nicht einzuholen vermag, Erklärungshilfen zu geben, die darauf verweisen, dass das geschriebene Gedicht nur mit einer Gebrauchsanweisung lesbar bzw. verständlich sei!
Ach so.

Nun können Poetiken ganz anders sein oder es vorgeben, doch zumeist hat es etwas mit Hilflosigkeit und oder Aufgesetztheit zu tun, die oft rührend bzw. gespreizt wirkt, wenn Dichter/innen anfangen ihr poetisches Pro­gramm zu erläutern oder ihm sogar Allgemeingültigkeit verleihen.

Also:
Mein poetisches Programm ist ein so wenig verlässliches, denn es liebt die Flussläufe und das Mäandern mehr als den Strand und die Dünen dahinter. Es will aufs Meer hinaus ohne Flaschenpost und Schwimmweste. Es möchte es einem buntgefiederten Wasservogel gleich tun oder einem fliegenden Fisch.

In all den Jahren habe ich Gedichte geschrieben, die mich an meinem Verstand hin und wieder haben zweifeln lassen in dem Sinn, dass ich dachte, die Gedichte würden mich schreiben. Die Gedichte haben nichts ausgedrückt als etwas mir Innewohnendes. Was auch immer der oder die eine oder andere darin gesehen haben mag, es ging tatsächlich immer nur um die eigene Vervollkommnung mittels dichte­rischer Sprache. Dass diese Vervollkommnung ein Ziel war, das in der Ferne lag, musste ich begreifen lernen. Mit jedem halbwegs gelungenen Gedicht rückte es weiter in eine Ferne, die uner­reichbar schien. Doch an manchen Tagen kam mir die Ferne näher, wie ein Erdteil, der sich bewegte, wenn auch sehr langsam, bewegte er sich: auf mich zu.

Vor einigen Jahren habe ich das postmoderne Gedicht wie folgt beschrieben: Man muss es sich als ein leer­stehendes Park­haus vorstellen, in dem die Fiktionen auf mehreren Ebenen ein- und ausgehen. Die surrealen Momente fangen Feuer, die Absur­ditäten kippen Flugbenzin dazu. Das Parkhaus geht langsam in Flammen auf: der Tanz wird rasanter, die Betonbalken krachen, die somnambulen Giraffen recken ihre Hälse.
Bestimmt ist das genauso wenig plausibel wie jeder Versuch einer Verall­gemeinerung.
Und doch: zählt das Gedicht zur contemporary art? Berührt es seine Zeit, entflammt es sie und die Gegenwart, oder ist das Gedicht im 21. Jahr­hundert tendenziell nur mehr der verzweifelte Versuch Therapie­bedürftiger, eine in hohem Maße monologische und artifizielle Sprechweise ins immer mehr Narzisstische zu heben auf einem artis­tischen Seil?

Man mag sich um den Begriff des post­modernen Gedichts streiten und um seine Relevanz.
Mir scheint er trotzdem haltbar und keines­falls nur ein Button oder eine feuilleto­nistische Sprechblase. In guten Momenten verbindet er Elemente verschiedener Epochen in eine erweiterte Gegenwart. Und wenn ich post­moderne Dichtung sage, meine ich nicht Belie­bigkeit und Austausch­barkeit. Vielmehr eine Praxis, die für mich selbst zwischen Surrealismus und abstraktem Expressionismus zu verorten ist, und die sich ähnlichen Verfahren bedient, wie sie in der Bildenden Kunst oder Musik bereits seit längerem etabliert sind.

Wenn sich das Gedicht einer Tradition verpflichtet fühlen sollte, dann zuallererst der, sich von erstarrten Traditionen zu lösen, in dem man (der Dichter/die Dichterin) sie (die Jahrhunderte der Poesie) lesend durch­drungen hat und aufbricht ins Ungesicherte, ins Wagnisbehangene. Denn eines glaube ich, will das Gedicht, wie es am beginnenden 21. Jahrhundert geschrieben wird, am aller­wenigsten: es mag bei allen Referenzen oder Anklängen nicht Rosé trinken mit Rilke oder spazieren gehen in Georges Park, es möchte nicht Fingerhakeln mit Brecht bzw. in Schau­häusern ein-und-ausgehen mit Gottfried Benn …

Wo ich das zeit­genössische Gedicht sehe, wurde ich kürzlich gefragt. Ich sehe es inmitten einer Sprach­müllkippe; es steigt rauchend auf, mitunter lodert es. Und doch ist es am Rand angesiedelt einer medial über­dosierten Gesellschaft und alle Bemühungen einer fortschreitenden Kultur­verflachung mit dichterischen Mitteln etwas entgegen zu setzen, und sei es mit ästhetischer Niedlichkeit oder inhaltlicher Harm­losigkeit, wie es mitunter geschieht, seien doch zur Freundlichkeit gereicht und nicht der Lächerlich­keit Preis gegeben!
Dass sich hiermit auch der Wunsch verbindet, aus einer Vielzahl von Dichtern und Dichterinnen könnten sich einige untereinander/zusammen wieder in ästhetische wie gegenwartskritische Zusammenhänge ver­wickeln, die über die lyrische Vereinzelung hinausgehen und eine gesellschaftliche Aufmerksamkeit einfordern, möge man mir nachsehen. Wenn ich etwas einfordern würde, dann: dass Kunst einer Haltung bedarf, sei sie moralisch, ethisch oder politisch, unabhängig von stilistischen Kate­gorien und formalen Vorlieben.

Celan sah das Gedicht nah am Verstummen. Wir verorten es heute, an­gesichts einer kaum übersehbaren Redundanz gegenwärtigen Dichtens, nah am Rhetorischen. Es reichen mitunter Kleingärten und Allgemeinplätze, Kindheiten auf Streuobstwiesen, Erlebnisse in Streichelzoos, um die ly­rische Produktion ins Inflationäre zu steigern. Dieser ganz große Super­markt mit Doktoranden- und Bachelorlyrik, die ihren Worten freien Lauf lässt wie domestizierten Tieren und deren finale Produkte auf der Zunge liegen als salzige Chips oder erdbeerfarbene Kondome, genügt sich selbst.
Denn letztlich gibt es (zu) viele Wege für das Gedicht, die obschon sie mir z. T. als Holzwege erscheinen, für andere gehbar sein mögen. Wohin diese Wege führen, in welche Sphäre aus Vergeblichkeit und mit welcher Halb­wertzeit, wage ich nicht auszudenken. Es verhält sich doch einigermaßen so wie in Roy Andersons Film „Songs from the second floor“, in dem es über einen verwirrten jungen Mann heisst: „Er ist verrückt geworden, er schreibt Gedichte.“ Den Satz sollte man auch so verstehen, dass es kaum eine geringer bezahlte künstlerische Tätigkeit gibt, als Gedichte zu schrei­ben und diese zu veröffentlichen. Und dass es in deutschen Landen zehn­mal mehr Menschen gibt, die Gedichte schreiben als jene, die Gedicht­bände kaufen, verweist auf einen bedenklichen Zustand.

Schaue ich mir die deutschsprachige Gegenwartspoesie an, und hier vorrangig das noch nicht so stark Etablierte, Aufgesaugte und vom Kanon Vereinnahmte, dann sehe ich viel Kluges, viel Ausgeklügeltes, viel Konstruiertes und die dazu erforderliche Statik. Aus diesen Elementen lassen sich ganze Reihenhaussiedlungen an Gedichten erbauen. Zweck­dienliche, ja sogar mitunter geschmackvolle Reihenhausgedichte. Reihen­hausgedichte mit Stil und Flair, mit jeweils eigener Note, was den Garten angeht oder den Eingangsbereich. Reihenhausgedichte, die ganze Antho­logien füllen mit Attributen wie neu oder Zeitbestimmungen wie jetzt.
Aber ist dieses neu und jetzt bzw. sind die mit diesem Prädikat versehenen Gedichte in irgendeiner Form neu und oder auf der Höhe der Zeit? Worin könnte „das Neue“ bestehen und das Zeitgemäße? Dass man mich nicht missverstehe, neu hieße hier lediglich in Nuancen neu, im Sinne einer Verfeinerung und bedeutete nicht, etwas gänzlich neu zu erfinden wie den Pfau oder das Rad. Neu hieße womöglich, eine ästhetisch-ethische Textstruktur zu erschaffen, die den Versuch unternimmt, eine Relevanz zu erzwingen, die Dichtung als lebensnotwendig ansieht auf der Höhe der eigenen Zeit, die verrinnt und Feinstaub hinterlässt. Es ginge womöglich da­rum, die lyrischen Sammeltassen zum Zerspringen zu bringen anstatt Kunsthandwerk zu modellieren. Kunsthandwerk à la Schreibschule und Literaturkurs.
Neben dem vielen vielleicht auf kurz oder lang Überflüssigen, zu dem sich jede/r Autor/in vorsorglich zuerst selbst zählen sollte, gibt es jedoch poetische Entwürfe, für die es die Mühe lohnt, all diese Reihenhausgedichte zu durchstreifen um plötzlich „die Formel und die Stätte zu finden“ und also Dichtung, die uns an einen anderen Ort führt, wo Reihenhäuser undenkbar sind: Gedichte, die jene nach Dürftigkeit klingende Sprache hinter sich zurück lassen und diesem Verkümmern einen Gesang aus Verletzung und Emphase entgegensetzen! Gedichte, deren Fallhöhe nicht in wenigen Zenti­metern über einer Gymnastikmatte besteht. Gedichte, die mutwillig schön sein wollen, die verwunden wollen und gleichzeitig heilen, die ins Offene gelangen, an die Brandung, die Steilküste, auf die erschütterten Zielschiffe.

Zurück zur Poetik bzw. ihrer An- und Abwesenheit im Besonderen:
Das Geheimnis der Poesie ist nicht in Gänze auflösbar mittels Begriff­lichkeiten. Das Rationale, es hängt beim Verstehen von Gedichten immer ein Stück hinterher. Es scheint dafür zu wenig geeignet. Es muss also eine Form von kognitivem Fühlen gefunden werden, eine glückliche Symbiose aus Verstand und Empfindung, die auf ein Gedicht trifft/auf die ein Gedicht trifft. Ein lebendiger Austausch und die Möglichkeit des Dialogischen. Kein Fußnotentiefwasser, keine Verpflichtung zu Apparatbänden. Und anstelle des Suchens nach Bedeutung die Hoffnung auf Freizeichen und Freiräume jenseits der Klammern.
Der/die Schlüssel für die Kombinatorik und die Verfahren zeitgenössischer Kunst, und Poesie ist zuerst immer zeitgenössische Kunst oder sie ist nicht, können aus dem Geist, der Intuition, den Instinkten und kulturellen Erfahrungen gewonnen werden. Man kann sie, die Schlüssel, schöpfen aus dem Spiegel der eigenen Existenz.

Und was die vermeintliche Poetik angeht: sie ist schon eingewebt in die Textur. Sie ist wie ein hauchdünner Faden, der während der Operation, dem Entstehen des Gedichts, in den Körper des Textes eingenäht wird und sich dort von selbst wieder auflöst, wenn das Gedicht in seiner zur Vollendung hin drängenden Schönheit erscheint. Aber was ist das: Voll­endung der Schönheit in einem Gedicht? Mit Rimbaud gesprochen, hieße das, in der Bestürzung anzukommen, im Unbekannten. Nun bin ich geneigt zu sagen, die Dichter und Dichterinnen in der Vielzahl ihrer Gegenwart, sie kommen an Bahnhöfen oder Flughäfen an und versenden ihre Sprach­nachrichten. Wir wollen das gutheißen und ihnen mit einem Taschentuch zu winken, und wer etwas über (ihre) Poetiken wissen möchte, wähle die entsprechende Nummer … Doch da wäre noch etwas: eine Form von Leidenschaft, die sich nicht herbeireden lässt.
Sie ist denen vorbehalten, die Dylan Thomas den neunzehnten Whiskey einflößen möchten oder vielmehr ihn mit ihm trinken wollen! Das grenzt nun beinah an eine Sehnsuchtsform, die allzu gern belächelt wird; ich wieder­hole „eine Sehnsuchtsform“, die weniger auf einem Blatt Papier ein zu Hause finden kann als in der Vorsehung, einer Vision, einer Utopie, derer es letztlich bedarf. Es ist dies wohl eine Form von existentieller Auslotung, einem Verbrennen, Zugrundegehen: eine Art von Erleuchtung und Selbst­auslöschung, die wenigen vorbehalten ist. Wenige „mit der Verrücktheit allein und ihrer Lieblingsblume“, um John Ashbery zu bemühen. Die Wenigen, die uns Irdischen den Weg weisen durch eine Hölle der Alltäg­lichkeit hin zu den Refugien, in denen eine Paradiessprache leuchtet und abgabefreie Früchte an Bäumen und Sträuchern wachsen …
Tom Schulz   10.03.2010     
  1. post-poésie (I)
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