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Andreas Thamm
Der Zirkus


Der Zirkus kommt mit dem Frühling, die Seiltänzerin kommt mit den beiden Clowns dem Direktor und den Akrobaten, die wie Zwillinge scheinen im weißen Spandex, von hier oben zumindest. Ich schaue ins Tal auf das Zirkusdach in Pockenrot und Distelblau. Ich schaue vom Hügel ins Tal – die Weidefläche, die zum Zirkus weist, fleckt sich mit dem Frühling. Die Zirkus­leute schauen herauf und ich hebe die Hand und gehe zum Denken zurück.
  Die Mosaikhaftigkeit des Landes wollte ich zunächst nicht gelten lassen, sie erschien mir simpel; es ist aber nicht zu ignorieren: entfernt die Stadt, hier ich, zwischengeschaltet der Zirkus auf freiem Feld; im Rücken die Lawinen, zwi­schen­ge­schaltet das Dorf wie zum Schutz. Von oben ist der Lebens­raum der anderen nur ein Element, ein Baustein.
  Die Elemente stehen für sich. Sie könnten genauso gut irgendwo anders existieren, sie sind, inner­halb der Umgebung, aus der wir sie kennen, ersetzbar. Die Stadt bei­spiels­weise durch einen Stausee, durch einen Mischwald, einen Nadelwald, durch eine Aufschüttung, glaziales Geröll beispielsweise, ich kenne den Begriff, so etwas kommt hier vor. Der Zirkus hinterlässt ein launisches Nichts; die Fläche wird, wenn die Zirkusleute im Juni das Zelt zu­sammen­falten und in die Lastwagen verladen, zum über­sehenen Biotop.
  Das Wichtigste spielt sich innen ab, hinter dickem Zelttuch, das Meiste verbirgt man vor mir. Das bemisst einen Zeitraum von etwa 120 Minuten, den Zeitraum von kurz nachdem die Seiltänzerin ihr Aufwärmprogramm auf der Wiese abgeschlossen hat bis zu dem Moment, in dem die Zuschauer dem Zelt entströmen. Ich bilde mir ein, man könne einige erkennen, an Hüten bei­spiels­weise, am humpelnden Gang oder dem Gelächter, das der Wind den Berg hinaufträgt. Aber das stimmt nicht. Eigentlich weiß man, dass fast jeder einen solchen oder ähnlichen Hut besitzt, Details sind nicht auszumachen. Der humpelnde Gang schließt eine große, gesunde Gruppe der Stadtbewohner aus, das ist wahr, aber vielleicht ist das nur ein Stein im Schuh. Ich höre eigentlich niemanden lachen.
  Wäre die Stadt mit den Lawinen vertauscht, es wäre ein Leben ohne Vor­sichts­maß­nahme; die Schnee­massen ergössen sich anders­wohin. Wären wir mit dem Zirkus vertauscht, man zählte uns zur Stadt, unser Hof würde die Stadt vergrößern, der Zirkus wäre der Lohn für den Anstieg auf den Hügel. Wäre der Zirkus mit dem Dorf vertauscht, man könnte die Seiltänzerin beim Bäcker grüßen; vielleicht verwendet sie ein Parfüm, nach dem man riechen kann, viel­leicht spricht sie mit kaum hör­barer Stimme; man müsste ihre Worte für die Bäckerin wieder­holen. Vor den Aufführungen dehnt sie die Muskeln auf der freien Fläche vor dem Zelt. Ich bewundere die Unwahrscheinlichkeit des Spagats.
  Vor einem Jahr sah der Tiger im Käfig aus, als müsste ihn der Dompteur zur Aufführung in die Manege tragen. Er sah aus, als habe er jegliches Interesse an blutigen Fleischbrocken und jungen Tigerinnen und dem Applaus des Publikums verloren, als sehne er sich insgeheim nach dem Barbiturat, das ihm endlosen Schlaf verschafft. Im Frühling kam der Zirkus an den Stadtrand. Die Zirkusleute hatten ihre kleinen Wohnwagen dabei und schlugen die Tür hinter sich zu, sie hatten das Zelt und die Keulen dabei, mit denen der Direktor jongliert. Das einzige Tier im Tross war ein kleiner schwarzweißer Hund. Der fängt die roten Nasen der beiden Clowns, wenn einer wirft. Der Dompteur ist jetzt ohne Arbeit und kann nicht tanzen und nicht jonglieren.
  Der Tiger könnte tot sein, schmerzlos eingeschläfert nach jahrelangem Verdienst für den Zirkus, im Beisein der Kollegen sanft entschlummert. Dann verbrannt oder - ich weiß nicht, was man mit toten Zirkustigern macht. Vielleicht hat man ihn aber auch an einen Zoo verkauft oder ausgewildert. Vielleicht ist der Zirkus auf halbem Weg von Tierschützern überfallen worden; die haben den Tiger befreit, jetzt streift er durch die Stadt und schnappt sich Kinder von der Schaukel. Die kleine Seiltänzerin versucht nicht daran zu denken.
  Mir geht es ähnlich. Sie ist so süß, die kleine Seiltänzerin, so süß und fast greifbar nah, dass ich ganz angestrengt versuchen muss, nicht an sie zu denken. Wenn sie vorm Zelt steht, in ihrem weißen Overall, dann hebt sie ihr Knie bis vor die Nase und dreht sich auf dem linken Fuß und vielleicht, denke ich, vielleicht kommt sie mal hoch, schließlich winke ich. Ich sehe die schmale Figur vor der endlosen Kulisse, sehe, wo sie rund ist und wo kantig, ihr Kostüm kann nichts verbergen. Sie ist weit weg, meine Seil­tänzerin, doch ich kann mir vieles vorstellen. Ich wüsste, wohin ich meine Hände legte.
  Manchmal hängt der Nebel tief. Ich kann die Umstände erklären, und sage es am Abend voraus. Dann ist der Zirkus nur zu erahnen, ein schlieriger Farbklecks hinterm angestauten Dunst. Ich sitze vor dem Eingang des Hofs in der Wiese und warte, dass es aufklart, aber das dauert; oder es regnet. Wenn es regnet oder wenn ich eine Sache besser verstehen muss, gehe ich in die Stube zurück. Ich denke, der Zirkusdirektor schaut den Hügel hinauf, aber der Blick kommt nicht weit. Er glaubt es fehlt heute etwas, wie eine Art Talisman, dann streicht er sich über den Bauch und hofft wie ich, dass es aufklart; sonst fällt die Kleine viel­leicht von ihrem unters Dach gespannten Seil vor die Füße des Publikums. Die Akro­baten, ich vermute wirklich, dass es Zwillinge sind, wenn auch keine eineiigen, schauen nach mir, aber nur kurz, denn sie sind meist mit sich selbst beschäftigt; dann machen sie eine Art Räuber­leiter, der Jüngere springt über den Älteren, sie kommen Rücken an Rücken zum Stehen. Die beiden Clowns winken trotzdem, sie haben das quälende Gefühl, ihrer Rolle rund um die Uhr gerecht werden zu müssen.
  Ich sitze drin und schüre den Ofen an, nicht weil mir kalt ist, sondern weil mir die Motten, die ins Licht fliegen und im Feuer knis­ternd verbrennen, die Zeit vertreiben. Meine Seil­tänzerin wirft keinen Blick nach oben, den Hügel hinauf, in meine Richtung. Weil sie, wie ich, feststellte, dass sich ein Dunst ankündigt, der in diesen Gegenden meist tief an den Hügeln anliegt. Sie spult ihr Programm ab, auf der Wiese, aber sie weiß nicht, dass ich morgen womög­lich zu ihr kommen könnte.
  Ich kenne die Bedeutung dieser Gegend im Jahr des Zirkus: Wir sind die Zwischenstation in der Provinz, die Bergluft ist gut für die Form der Akro­baten, die Clowns langweilen sich, dann läuft man in Zürich ein oder Berlin und begeistert die Massen. Wir dürfen uns nur nicht überbewerten. Ich zähle die Tage herunter, bis der Zirkus weiter­zieht, und komme fast bis zur Null. Fünf März­tage lang spült sich die Stadt durch das rotblaue Zelt, die Menschen gehen anders in den Zirkus als sie herauskommen. Ich sitze auf der Schwelle zum Hof und bleibe derselbe, der Direktor sieht mich und geht gleich weiter, er hat seinen Hut vergessen, der dumme August verbeugt sich und fällt hin.
  Ich habe von vier Elementen der Umgebung ge­sprochen: Die Lawinen drohen uns in den Nacken zu stürzen, das Dorf ist mit wenigen Schritten erreicht; die Stadt ist das Ziel, der Zirkus bald wieder fort. Die Felder im Hinter­grund und dazwischen sind nur ein grobe Erscheinung, aus vielen dünnen Schlieren, die Lawinen sind nur die Gesamtheit der getürmten Kristalle, die Stadt gäbe es, wie das Dorf, ohne Häuser und Straßen nicht. Der Zirkus entsteht, wenn die Akteure unterm Dach eine Ordnung formen. Ich nehme einen Stein aus der Pyramide, die als Wegmarke dient, ich ziehe einen Keil aus dem Holzstoß vorm Haus.
  Ich kann die Dinge aus­einandernehmen. Es besteht die Möglichkeit hin­unter­zugehen. Der Trampel­pfad ist demo­kratisch, er stellt die intelli­gentes­te, die optimale Wegstrecke dar; die Serpen­tinen führen auf sicherem Grund ins Tal. Es besteht keine kon­krete Gefahr. Ich kann in das Gefüge der Bestandteile eingreifen, das Ganze mehr nach meinen Vorstellungen formen.
  Die Seiltänzerin sitzt im Gras, die Halme kitzeln ihre Kniekehlen, das heißt, der Winter ist vorbei. Sie geht zum ersten Mal mit nackten Füßen, ich könnte ihre Knöchel mit Daumen und Zeigefinger um­greifen, dass die Finger­kuppen sich berühren.
  Bald brechen die Zirkusleute auf, noch einmal klingelt der Dumme August mit der Kuhglocke, dann strömen zum letzten Mal die Bewohner des Tals ins Zelt. Die Seiltänzerin liebt den Stall­geruch des Heubodens und wie er weich unter den Schritten federt, die Seil­tänzerin schwingt sich hinauf und genießt die Möglichkeit, alle zum Heulen bringen zu können; sie ruht sich in ihren Bewegungen aus. Der dicke Direktor klatscht wie immer am lautesten. Und übermorgen haben die Zirkusleute eine Grenze hinter sich gelassen und die Seil­tänzerin schwingt sich hinauf und genießt einen Moment lang die Möglichkeit. Und jetzt weiß sie schon, dass der Direktor wieder am lautesten klatschen wird; und sie weiß nicht, in diesem Moment meine ich, dass noch immer die Möglichkeit besteht, dass ich mich auf den Weg mache, zu ihr.
Andreas Thamm  2012   

 

 
Andreas Thamm
Prosa