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Anja Kampmann

Jsem   '   Ich werde ihr erzählen.

Nach dem Wasser kam lange Zeit nichts. Und die Unbewegtheit, die man an­nehmen konnte, wenn man lange genug auf den Horizont schaute, verwandelte sich, wenn die Wellen an das Inselbein schlugen, wenn das Stahlgerüst des Bohr­turms zu wanken begann. Der Bohrmeißel fraß sich durch Kalk­stein­schichten in ein Erdin­neres, weit unter dem Meeres­grund fraß eine Sonde sich tiefer, während die Stahl­spule auf der Plattform sich unaufhörlich drehte und wir in zwölf Stunden Schichten bereit standen, weitere Ver­scha­lun­gen in dem Bohrloch anzubringen. Es war der Golf von Mexiko, es waren acht Wochen, die ich hier draußen war, und zum ersten Mal kam mir diese Zeit lang vor, dehnten sich die Abende mit den anderen Bohr­arbeitern in die Länge, wie sonst kaum. Ich war erschöpft und froh, wenn einer der Jüngeren in der Nähe war, einer dieser jungen Kerle, die mit ihren Fragen und ihrer großen Vorsicht so etwas wie einen Sinn in dieses Öl­treiben brachten, in dieses Geschäft, fernab, von allen, die ich kannte. Es würde nicht mehr lang sein. Carlos, so hieß der junge Mann, der aus Chile angeheuert hatte, und dessen Arbeitsanzug bald so voller Schlamm war, dass man ihn mit den meisten anderen hätte verwechseln können, schien seine Kräfte jetzt in der letzten Woche noch zu ver­dop­peln, wenn er neben mir die große Zange bewegte, wenn er neben mir darauf achtete, dass die Bremse ordent­lich in die Stahlspule fasste. Er hatte sein Geld hier gespart, ich wusste, wie viel es für ihn war, und bewun­derte ins­geheim sein frühes Zubett­gehen, die Konsequenz, mit der er den Alkohol, den wir unter der Hand weiter­reichten, ablehnte. Der kurze Moment, in dem er, bevor er das Licht ausknipste, unter sein Kissen griff, um ein Bild, von dem ich nur eine vage Vorstellung hatte, anzu­sehen, war eines der ersten Dinge, die mir einfielen, als ich auf dieser Liege erwachte, die noch schmaler war als mein Bett, unter einer Decke, auf deren hellem Weiß frühes Abendlicht lag. Man leuchtete mir ins Gesicht, ich musste einge­schlafen sein.

Ich habe nie geglaubt, wie viele Bilder aufsteigen würden, wenn ich einmal zur Ruhe kommen würde. An den Abenden hörte ich, wie der Wind an die Kabinen­wand drückte. Mein rechter Arm war noch immer taub nach dem Sturz, man sagte mir, ich würde mit dem nächsten regu­lären Hub­schrauber an Land gebracht, drei­einhalb Tage, in denen ein Sanitäter regel­mäßig meinen Puls nahm, in denen es Morgen und Abend wurde und wie auf einer Zugfahrt gab es diese Momente, in denen ich weg­dämmerte, es waren einfache Dinge in einer böhmi­schen Land­schaft, ein Sommer­garten und der Geruch von Heu in ihrem Haar, Vaclav, sagte man zu mir, und im Traum saßen Kinder auf Kirsch­bäumen und hielten Aus­schau nach dem fernen Mann, der ich zu Beginn noch für sie war. Es ist nicht schwer, so weit weg von all dem sentimental zu werden. Zwischen dem Kirsch­baum, den Zwölfer-Schichten mit dem jungen Carlos und der Kranken­liege lag ein Luft­raum aus Zeit, angefüllt mit Namen, Djakarta, Mumbai, Seoul, Karachi. Die Wochen zwischen den Schich­ten waren unter­gegangen in dem Hupen über­füllter Metro­polen, in Gesichtern, Nachtbars, deren Luft bewegt war von schwan­kenden Pro­pel­lern, die tief unter der Decke den feucht­warmen Atem von Touris­ten und jungen Mädchen ver­mengten. Es waren Wochen einer kaum zu beschrei­benden Enge, lange Morgen­stunden, in denen ich hinter halb­geschlos­senen Jalousien auf die Geräusche der Städte hörte, Motoren, die Rufe der Imame, Sirenen, Stimmen, die wie eine einzige mit den Zwi­schen­räumen der Häuser ver­schmol­zen. Sogar mit ge­schlos­senen Augen sah ich all diese Leute vor mir, die Tage hier schienen noch entfernter zu sein als die Tage der Arbeit. Noble Chuck Syring, North Rankin A, Rowan Gorilla IV Drilling Rig.
  Wir zwängten uns in die Überlebens­anzüge. Carlos hatte seinen Spint geleert, und stopfte, was er mitgebracht hatte in seinen See­sack. Ich schloss ihm den orangenen Gummi­anzug auf dem Rücken, drehte mich um, damit er das­selbe bei mir tun konnte, seine Berüh­rung war leicht, ich drehte mich um und folgte ihm aus dem Zimmer, sah die Platt­form bald unter uns ver­schwin­den, das Geräusch der Rotorblätter war ohren­betäu­bend laut. Er hatte mich nicht gefragt, wohin ich zu­rück­kehren würde, und so fragte ich auch ihn nicht. Die Hand, die er öffnete zum Abschied und das unge­klärte Bild, das zu seinem Kopf­kissen gehörte, ver­schwanden hinter einer Schiebe­tür aus Glas. Gewelltes Haar vielleicht, ein dünnes Stück Stoff. Genug für einen, der noch die Kraft hatte, daran zu glauben, dass das was er vorzufinden hoffte, tat­sächlich noch so auf ihn wartete.

Auf dem Weg in mein Motel bemerkte ich wie ich begann, Carlos von diesem Namen zu er­zählen, und davon, wie glücklich ich wäre, auf dem Rückweg zu sein. Vor dem Fenster erschien die Silhouette der Stadt. Das Taxi fuhr unter einem tauben­blauen Himmel, es war ausgestattet mit allerlei Plüsch, seit einer Stunde standen wir in einem Stau, aus dem es kein vor oder zurück gab, und ich konnte mir ein­reden, dass es mich unruhig machte. Ich konnte die Gesichter ansehen, die vor den Scheiben eiliger wurden. Carlos hatte mich bei meinem Vornamen gerufen und dann dort herunter gezerrt. Sie hatten mich ausgezogen, der Anzug war durch­weicht von Regen. Die große Zange, sagten sie, war zurück­ge­schnellt und gegen meine Schulter geprallt, im Sturz war mein Kopf gegen eine der Auf­bauten geschlagen. Vielleicht aus Nach­lässig­keit hatte ich mich nicht ge­sichert, der Karabiner hing nutzlos an meinem Bauch, eine kaum zu unter­drückende Müdigkeit, die hier ein Privileg der Älteren war. Anderen, die ich gekannt hatte, war ähn­liches passiert, die Platt­form rutschig im Regen, ein Warnschuss, die meisten waren nicht wiedergekommen. Vaclav. Auf dem Gehsteig drängten sich Menschen vorbei, jemand klopfte gegen das Fenster, ich gehörte nicht dazu, der Fahrer hupte, erst, als das Wasser aus dem Dusch­kopf rauschte, wurden die Straßen all­mählich leiser.

Ich werde ihr von dem Unfall erzählen, ich rede zu ihr in einer Sprache, die sie nicht versteht. Vaclav, wird sie sagen, fahr dahin, wo du her­gekommen bist. Als wäre es einfach, bloß eine Strecke mit einem Alpha und einem Omega, die man wieder zurück­fahren könnte, als wäre alles noch genauso wie zuvor. Viel­leicht wird sie nur mit dem Kopf zur Tür nicken, wenn die Zeit um ist. Es waren Felder vor dem Fenster, schwerer, dunk­ler Acker, Budejovice. Sie war müde an den Abenden. Ich berühr­te ihren Bauch, als ich fuhr. Hier wache ich müde auf, zerschlagen, vor mir auf dem Kissen liegt mein Arm, liegt meine Hand, fühllos die Finger, die auf irgend­etwas deuten, eine Rich­tung am Himmel, ein Bahn­damm, der lang und rich­tungs­los durchs Land geht. Eine Linie der Be­schleu­nigung. Es wäre eine Er­leich­terung, heute alle Sätze mit Ich zu be­ginnen, auf­zustehen, jsem, ich bin, ich weiß nicht, ich kämpfe, es wird ein­facher sein, durch Straßen zu kommen, die nicht zu mir gehören, nicht ich, und dennoch auf­findbar, mit Fremden zwischen Wagen und einem Himmel voller Fluglinien. Já, weiteste Ent­fernung, und die Un­möglich­keit dieses Wort in meiner Sprache zu ge­brauchen, ich, zu dem sie gehörte, die lange Zeit, unsere Wohnung in Budejovice. Kam, wo, das wäre die zweite Frage, wohin, es ist viel Zeit vergangen, draußen, auf See.
  In acht Wochen fliegt die Post mit dem Hubschrauber ein, ziehst du Ventile an, säuberst die Gehäuse und trägst Rost­schutz­farbe auf, wo Meerwasser an dem Metall zehrt, wartest du, und atmest voller Unge­duld, du solltest da sein, bei ihr, Station 3, tri, die See nimmt dir nichts ab, já, ich hoffe, liege abends wach, der Alko­hol ist verloren, er heilt nichts, kein Junge, kein Mädchen, aber ich bin gesund, sie schreibt, dann nichts mehr, lange nichts mehr, komm nicht mehr, ich lasse mein Ticket verfallen, arbeite, krank, Tage, Nächte, eine seltene Angst, já, ich, die Städte sind schnell und einsam, ein Kauder­welsch aus Englisch und bunten Lich­tern, ich gehe, schlafe leicht, schrecke hoch, gehe nie weit genug, nie so weit, zu erfahren was wirk­lich geschehen ist, nie weiter, als bis zu diesem Geräusch, das einem Klopfen ähnelt. Manchmal habe ich Angst, es zu ver­lieren, es ist nicht viel, nach sechs Jahren bei Arabic Drilling kann ich es noch immer hören, manchmal muss ich es suchen, sehr leise ist es immernoch da.
  Ein Taxi hält, ich lasse mich bis weit aufs Land fahren. Die Häuser werden niedriger, breite Straßen aus Sand, ein paar Hühner. Bald wird der Himmel weit, der Horizont ist beinahe ungestört. Einige flache Hügel, weit entfernt. Ich habe ihn bezahlt, damit er wartet. Entfernt ist der Himmel über der Stadt ein helles Orange, es wird nie richtig dunkel, seit ich fort bin. Seit sechs Jahren taktet Arabic Drilling meine Zeit, man sagt mir, ich sei weniger wachsam als noch zu Beginn. Und immernoch bin ich nicht anderswo, zwischen Steinen und Büschen, der Fahrer wartet, ich gehe unter Wolken und höre den Sand, entfernt auf einer Straße ver­schie­ben sich Liefer­wagen mit der Ge­schwin­dig­keit von Schilf, das auf einem Bach treibt. Beinah laut­los. Meine Arme werden kalt im Wind, der Fahrer schaltet die Lichter ein. Ich gehe. Alles wird selten und unbeweg­lich, flüchtig, jsem, ich bin, ich laufe, setze Schrit­te, die Kälte der Dämme­rung, erste Sterne, ich halte auf den Wagen zu, der Horizont, das ist, was sich in jeder Gleichung für uns einsetzen lässt. Seit sechs Jahren sehe ich den Bohrungen zu, Mumbai, Bangkok, die ver­schie­denen Meere, die Dach­terras­sen, die Hotels, die Bars, die Wüste, die größer ist als all das, die Wüste, die unter all dem liegt, eine andere Wüste, zu ver­ges­sen. Namen zu vergessen, eine Sprache nicht mehr zu sprechen, es ist dunkel, der Fahrer wartet, rot und fern schimmert die Stadt. Hätte ich eine andere Sprache gefunden, viel­leicht wäre es etwas leichter, würden die Orte, die Städte, die ge­duckten Häuser­reihen, Lehm­ziegel­bauten, Brun­nen mit Ziegen, Dat­tel­ge­flecht, würde all das wirklich entfernt sein. Eine böhmi­sche Land­schaft. Seit ich unterwegs bin, gibt es Bohrungen in 1600 Fuß Tiefe, ich bin mir nicht sicher, ist der Himmel, anders­herum, wirk­lich so hoch. Ich habe so lange in diesen Bil­dern gelebt, bis sie sich auf­zulösen begannen. Já, ich, die meiste Zeit daheim, wir liegen im Gras, der Geruch der Obst­wiesen, dann meldet sie sich nicht mehr. Du bist ein anderer schreibt sie, es ist dunkel als ich den Brief lese, das Land ist dunkel ringsum. Ich kenne keine Sprache, die mich weiter fortbringen würde, in der Wüste liegt dieses Pochen, das leiser ist als das Texasenglisch über den Wassern, Golf von Mexiko, Ara­bischer Golf, irgendwo tief verstaut, eine Sprache. Vaclav, sagt man zu mir, geh heim, mach Pause. Wind drückt an unsere Kabinen. Die Wüste wird kalt in der Nacht, já, ich, ich habe keine Worte mehr für die Entfernung, ich werde ihr erzählen, ich werde ihm erzählen, ich gehe, fern steht der Wagen, eine klare Nacht. Fern bewegt sich ein Licht durch die Ebene, ein kleines Licht, ein Lied.

Der Text erhielt den 1. Preis beim MDR-Kurz­geschichten­wett­bewerb 2013 und wurde erstmals in der Anthologie Risikoanalyse ver­öffent­licht.

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