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Andreas Altmann

das langsame ende des schnees

Sehen und Schweigen
Andreas Altmanns Archäologie der Sinnlichkeit

Andreas Altmann: das langsame ende des schnees
Andreas Altmann
das langsame ende des schnees
Gedichte
Aachen: Rimbaud 2005

Rimbaud Verlag

Andreas Altmann

Es gibt Bücher, die einen in eine schwer erklärbare Unruhe versetzen können. Beim Lesen von Franz Kafkas „Betrachtung“ mußte ich dieses Buch zuweilen aus der Hand legen, als könnte es mich verbrennen. Nach der Lektüre von Joseph Roths „Rebellion“ war ich geradezu schmerzhaft wach und versucht, über einen längeren Spaziergang Ruhe und Klarheit zurückzugewinnen. Ähnlich erging es mir mit Samuel Becketts „Molloy“. Allein, es gelang mir nicht. Die Gedanken zirkulierten unaufhaltsam weiter. Immer war es die Sprache, die dieses bewirkte. Ich sage dies, weil es mir soeben ähnlich ging: beim Lesen von Andreas Altmanns neuem Gedichtband „das langsame ende des schnees“. Es ist, als wären diese Gedichte Katalysatoren für mein Denken, als würde ich hineingezogen in Möglichkeiten, mich selbst zu hinterfragen, und hineingeleitet in eine nervöse Neugier, die mir kostbar erscheinen will und die ich gar nicht restlos aufklären möchte.

Der Gedichtband ist durchkomponiert, was die Wirkung der Gedichte steigert. Über acht Kapitel hin empfindet man den Aufbau einer sich steigernden Aufmerksamkeit.
    Zunächst stellt sich der Eindruck ein, an einer Art Expedition teilzunehmen, zum x-ten Mal auf der Suche nach der verlorenen Zeit zu sein. Altmann rekonstruiert frühe Erinnerungen. Er betreibt geradezu eine Archäologie der Sinnlichkeit im kantischen Sinne. Der Verstand ordnet und formt rückschauend das sinnlich gegebene Material mit den reinen Anschauungsformen Raum und Zeit. Altmann versucht mit den „ersten Augen“ zu sehen, er mißt das Gewicht der Worte und des Schweigens jener Zeit, in der die „augen noch zu hastig auf den dingen ruhten“ und extrapoliert das Ergebnis ins Heute. Einer seiner Befunde lautet: „jedes wort nahm abstand von mir.“ Ein anderer: „träume,/ aus denen wir nicht erwachen,/ schlagen die augen auf, lassen uns/ sehen woran das Gedächtnis erblindet.“ Ein weiterer: „nichts, was du siehst, braucht deine augen“.

In diesem Band findet sich keine Naturlyrik, auch wenn auf dieser Expedition reichlich Naturmetaphorik bemüht wird. Der Titel „das langsame ende des schnees“ ist eher Ausdruck einer Metaphorik der Vergänglichkeit, die den Band zugleich strukturiert. In diesen Kontext ordnen sich die Naturmetaphern ein: „... die spur deiner geschichte/ sinkt von jahr zu jahr tiefer/ in den schnee. die winter sind milder/ geworden, und untreu die worte,/ mit denen dein gedächtnis dir folgt.“

„Der schnee beginnt in den augen … du mußt dich entscheiden“, heißt es im Gedicht „vorrat“: „du mußt dich entscheiden …, welche wege du aufstellst fürs gehen“. – Das erinnert an Rilkes Imperativ aus dem „Archaische(n) Torso Apollos“: „… da ist keine Stelle, die dich nicht sieht./ Du mußt dein Leben ändern“. – Altmanns Gedichte thematisieren die Ernsthaftigkeit des Lebens, die Notwendigkeit der Orientierung in einer Zeit, in der selbst das Schweigen „geschwätzig wird“. „Ich schreibe Gedichte, um mich in der Wirklichkeit zu orientieren“, sagte Günter Eich einmal. Andreas Altmann könnte wohl Ähnliches von sich sagen.

Ein wesentlicher Teil der Gedichte thematisiert den für den Dichter existentiellen Zusammenhang von Dichtung und Sprache. Die „Augen der Worte“ sind auf ihn gerichtet. „Du stehst auf der seite der wörter,/ die dich erzählen“, heißt es im Gedicht „aus dem staub“, und, mit Bezug auf Hugo von Hofmannsthals berühmten Lord-Chandos-Brief, „andere sind begraben/ oder faulen im mund“.

Ein weiteres Merkmal des Gedichtbandes – und vielleicht die Ursache für meine kostbare Unruhe –: Andreas Altmann sucht Entsprechungen für das Unsagbare zu finden, weiß aber zugleich von der – wie es René Char einmal ausgedrückt hat – „Notwendigkeit, die wesentlichen Schatten zu bewahren“. Wie Joseph Roth, der das Schweigen mit der Rekonstruktion einer versunkenen Welt überschrieb, wie Franz Kafka, der das Schweigen mit Parabeln anrief, wie Samuel Beckett, der das Schweigen mit einem unaufhaltsamen Wortemachen grell beleuchtete, versucht auch Andreas Altmann mit seiner Archäologie der Sinnlichkeit dem zu bewahrenden Schweigen eine poetische Entsprechung zu geben.

Axel Helbig      21.07.2006

Axel Helbig
Essay
Gespräch