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Theo Breuer
Das gewonnene Alphabet

22mal WIR / 26mal SCHLACHT

Wortkräuter zur Gesundung in Theo Breuers Gedichtbuch Das gewonnene Alphabet
  Kritik
Theo Breuer | Das gewonnene Alphabet   Theo Breuer
Das gewonnene Alphabet
Gedichte
Pop Verlag: Ludwigsburg 2012


Dieses lyrische Lexikon, dieses Gedichtwörter­buch, dieses schäckernde Dichtwerk kommt gerade recht, mir den Herbst zu versüßen. Süßes zum Herbst? Herbes zum Herbst? Jedes jedes jedes Jahr hole ich mir (wo bloß?) eine fette Erkältung, verkriech mich, notgedrungen, mit einem ›guten Buch‹ ins warme Bett.

Das gewonnene Alphabet von Theo Breuer unter­hält nicht nur, und damit meine ich: breitet sein Wortnetz tragfähig unter mir aus, sondern verwirbelt mir zugleich die Sinne: Auf dem Bett liegend, habe ich diesen Rhythmus im Ohr, von welchem Gedicht mag er herkommen – di richi dir sprichi ist dis gidicht? Es stimmt nach­denklich (weißt du wie viel menschlein gestern oder gestern / oder gestern allein in syrien die feine for­derung nach freiheit mal / eben mit dem leben bezahlen), grauselt mich (variation auf einen grau­sattsam berüch­tigten anstoß) und inspiriert mich zum eigenen Text (was für ein fallen­flirren­fliegen­freun / ich wollt ich wäre ne flocke von schnee).

Als Antwort auf den Titel der 1999 erschienenen Jahrzehnt-Anthologie Das ver­lo­rene Alphabet (womit ich, zum Beispiel, unge­wolltes ›Schweigen‹, ›Nicht-schreiben-Können‹ assoziiere), die der Autor im turmhohen Bücherregal bewahrt, ist Das gewonnene Alphabet nicht nur ein Gedicht­buch – es ist ein großer Zyklus von A bis Z, in dem sich Atmosphären, Menschen, Orte, Pflanzen, Situa­tionen, Tiere, Zustände wieder­holen, poten­zieren, ergänzen und weiterdenken, erzählen, ja, zählen, fort­während mit­einander in Bezie­hung treten. Bensch, Kraus und Peer Quer sind dabei stets inter­venie­rende Indi­vi­duen, die mir bald vertraut sind und mit denen ich gern von Seite zu Seite ziehe. Als Leser kann ich mich in diesem ABC klar verorten (mache eine Pause bei D, bei O brauche ich länger, gehe zurück zu K, springe zu Q.)

Ein Herbarium. Dicht. Gepresst, getrocknet, konserviert, die gelben Blüten zu schwarzen (und ge­legent­lich grauen) Buchstaben geworden, finde ich unter S, gleic­hsam wie wellig gedruckt wirkend – sistiger haaresbreiten // SCHMÄRZ // sehen gestehen / ein schimmel­blick gräulichtlos / zerspricht · attrappe – und entdecke daselbst filigran: HUNDSTAG // bleiche schneidfeder / auf verbittertem grabstein / blüht · schmort im gleißstern, mit voran­gestelltem Zitat von Marcell Feldberg – fast wirkt's wie ein Beipackzettel: lernen zu verstehen, Feldwege zu gehen. Und so ist das ganze Gedicht­buch aufgebaut, mit vielen Hin- und 24 Quer-Verweisen, Zitaten und Unikaten, Über­legungen und Über­raschungen, Doppel­bödigem und Visuellem, Buch­staben­verschiebungen und Wortschöpfungen, Sprach­spielen und Ab­gründen, sortiert von A bis Z. Dabei rutscht die Amsel von B wie black bird nach O wie over the firewall, flat­tert auf englisch durchs Gedicht­buch, ist schwirrende Aus­einander­set­zung mit Celan-Versen, die, zu Beginn zitiert und am Ende ins Englische über­tragen, das Gedicht offenbar veranlasst haben, ihm den Rahmen geben.

Die Stoffe/Themen im gewonnenen Alphabet chan­gieren (wie die lyrischen Per­spek­tiven) zwischen Geschichte und Geschichten: Alltag, Gesell­schaft, Indi­viduum, Kosmos, Lite­ratur, Momente, (Gott und die) Welt, Zu­stände usw., dabei reflek­tieren/erproben die Gedichte immer wieder das Werkzeug bzw. den Baustoff, aus dem sie gemacht sind: die Wör­ter, die Buch­staben, den Rechner, den Schweiß, auch Mirabellen und Libellen – so fragt peer quer (lässig/lästig): gibt es / verwindungen zwischen harkarbeit /(die ich eben tat) und dichtarbeit /(die ich augenblicklich tue) ... / dieweil die drei gedanken (brune · / brinkmann · brambach) durch das gehirn / mäandern ... / und ich flitz · nicht im kaffeehaus stehend / und bedienung um schreibzeug bittend · / hinab in die lyrikkammer sitz im nu vorm / keyboard und bring fixflott den lenovo in gang

Ein ganz anderer, schwer­mütiger Tonfall begegnet mir in ohne sie ist welt tot ist ein unfug: ... ich rüste für den / abend dunkelrosen der nacht / ypsilon weglassen weglassen können / robinienbäume in den armen / öl auf eichenholz mit blumen am strand von cattolica im korbsessel / kauernd auf meinem scheitel schädel die / erde sumpfig und / regen fällt usw.

Weiter blättere ich in der Pflanzen­sammlung, finde einen ›schatz‹, einen Satz, finde einen Strang, eine Stange, einen Stengel: die schreibende / kraft / ist die // reibende / kraft / ist die // treibende / kraft / ist der // beileibe bleibende / saft. Sodann: ein Bild / eine Frage an den befreundeten Autor Axel Kutsch / eine moderne Version der Offenbarung des Johannes – gleich nach der schalen tsunami­zorn­radio­ansage reiben tausende / burkatragende regierungstote augen­strahlende zeugen auf / zehn verbote, denen das zerrinnungswild folgt – dieses Buchstaben-Gerinnungs­bild wirkt wie das unkenntlich gemachte Feld auf der Arbeits­unfähigkeits­beschei­nigung, die mir die Ärztin gab, jemand hat in einem Anfall behörd­lichen Wahnsinns lauter Buchstaben über­einander gestempelt, um so das Wesent­liche zu verbergen, aber der auf­merksame Leser hat ja stets einen Schlüssel (wenn die Buchstaben rot wären, könnte ich eine rote Folie darüber legen …), und wenn ich genau hinsehe, wird eins der magischen Blätter Friederike Mayröckers sichtbar.

Und übrigens: dieser Breuer! Bedient sich ja selbst solcher Mittel als – unbedingt parodis­tisches – Spiel: Da werden Wortteile einfach überbalkt: man murmelt und munkelt: / nirgends · an · keinem · ort / werde das wort / so flink verdunkelt / wie · im · g|e|r|i|c|h|t – – – / soll wohl ein tollwitz sein: / wie im GEDICHT?

Ein Gedicht, himmelstürmer, ist (eingedenk Jandls kleiner Verschiebungen und Rühmkorfs höchster Höhen) um 90 Grad gedreht, im einem weiteren ist nur der Teil eines Wortes gedreht, durch ein anderes fließt der Verkehr, im nächsten sprudelt Kohlensäure ... So viel­fältig die Formen und Stimmungen, gemeinsam ist ihnen der parodistisch jonglierende, artistisch-ironische Umgang des Autors mit Sprache und Literaturen, Sprech­weisen und Figuren.

Die Überschrift dieses Essays ist übrigens ein schöner Zufall. Aufmerksam lese, summe, überfliege ich das Glossar (unter Z wie Zufall, schöner), wundere mich über 34mal grau und 4mal it, finde die Gegenüberstellung von wir und schlacht sehr aufschlussreich. Nicht verwunderlich das 110malige Vorkommen des Hilfsverbs ist – auch ein Hinweis auf die große poetische Behauptungskraft des Autors, was jetzt dringend die Frage nach sich zieht, wer denn TB überhaupt ist ...

Antworten finde ich wunderbar im Buch verborgen, so auch im Essay, der Das gewonnene Alphabet beschließt. Dort schildert Breuer die Ent­stehung des Buches, berichtet von eigener Geschichte. Dieses Scharnier zwischen Leben und Kunst, das viel mehr erzählt, als dass es erklärt, macht den Autor greifbar .... zeigt ihn lebendig: Noch bevor er lesen und schreiben kann, bringt ihm die Mutter ein ABCdarium nahe, pflanzt ihm die Liebe zur Sprache ein – in einem Haushalt, in dem kein Chopin gespielt wird, in einem Dorf im Rheinland, dessen Namen niemand kennt.

Von Theo Breuer sind – über Jahre und oft im Wechsel – Gedichtbände und Monografien erschienen, Bücher vom Zustand der Lyrik hier und jetzt. Und das nicht von abge­hobe­nener Warte, sondern in Verbindung, Freundschaft, direktem Kontakt mit den schreibenden Kollegen. So zurückgezogen Breuer auch zu leben scheint (in der tiefsten Eifel), so sehr ist er – wie die Pflanze, die unterirdisch gigan­tische Wurzeln treibt – mit einer Menge Literaten verbunden.

Wer mit Theo Breuer kommuniziert, wird immer wieder wachgerüttelt, so ein aufmerksamer Zuhörer und Sprecher ist er, Beobachter / Leser von Umwelt und Natur. Sein Wesen drückt sich für mich auch in den gleich im ersten Gedicht keckernden Elstern aus, die, laut Kosmos­verlag, schackern, in meiner Erinnerung allerdings schäckern, wobei aber das Kecke, der Witz, der helle Geist fehlen, und eben das hält Breuer im ersten Gedicht fest, welches – admission free and daily open to the public – Lust aufs Weiter­lesen macht, hier und jetzt: (...) die amsel hockt · wie jeden jeden jeden tag · auf der schwarzen leitung die unser haus mit – bis auf weitres – unbesetztem [grau verschalten] nachbarhaus verkuppelt – ›no man is an island‹ · john donne – und singt und singt gegen die ein paar gärten weiter rurumo­rende motor­säge an (...)

Hier und jetzt erhalte ich eine flüchtig geschriebene, aber keines­wegs unwichtige E-Mail von Ilka aus dem Kulturamt: »Schreib mir doch bitte nochmal euren Ter,on ... «, gemeint ist ›Termin‹, aber ›Ter,on‹, dem Tempo beim Tippen der E-Mail geschuldet, ist doch ein drolliges Wort. Offenbar lebe ich schon die versenwelt. Ange­steckt bin ich, gesunde im Nu, hüpfe hoch vom Kranken­bett.

Und nun: Lesen Sie langsam. Nehmen Sie sich Zeit. (Axel Kutsch · Feier des Wortes)

versenwelt leben

beispiel loser sport: versenke
horch auf das wort WORT – – – versitze
denk nicht an [hast last] verschwitze
gib was du (fast) hast verschenke

liebe aus sichten versiebe
schlüssig sei faß bar verseuche
fürchte v w nicht: verscheuche
termin termine ― ― verschiebe

aus wuchs chimäre · versteige
übel schlag los frau verschwöre
unanständig frei verstöre

eigensinnig sei (verschweige)
horten von worten? verschwende
fix den deckel drauf – v·e·r·s·e·n·d·e

Chrstine Kappe   29.11.2012    Druckansicht  Zur Druckansicht - Schwarzweiß-Ansicht    Seite empfehlen  Diese Seite weiterempfehlen

 

 
Chrstine Kappe