Was sind „instabile Texte“? Als Cézanne zu malen begann, sagte man, seine luftigen, das Papier nicht deckenden Kombinationen von Farbflächen seien instabil, und das war kein Kompliment. Wegweisend war seine Betonung des Materiellen doch. Und schön, kenntlich. Auch beim Lesen von Nancy Hüngers Gedichten in freien oder rhythmisch bewußten Versen oder in Prosa wird man immer wieder an die weißen Stellen zwischen den flüchtigen und oft auch abweisenden Worten verwiesen. Ihre sparsam eingestreuten Substantive bieten kaum Halt: Winter, Berg, Bett, Fenster, Dorf, Hand. Wenige sind außergewöhnlich, viele stehen in einem ins Unbestimmbare abdriftenden Plural. Verben im Konjunktiv stehen ihnen zu Diensten. „Alles zerlief oder zerfiel“, sagt sie selbst über ihre Eindrücke aus der Ukraine, aus Israel und aus Thüringen, die in den drei Kapiteln des Buches angedeutet werden. „Alle Fenster sind zugeklebt, abgeklebt, weil der Winter so eisig und kalt durch die Spalten zieht, selbst hier, in meiner Küchenstube, zuweilen Schreibstube: Da kann es noch schneien. Nur eine Luke in der obersten Ecke lässt sich öffnen, aus der Luft schleppend, mühsam scheints, hindurchkriecht.“ Archaismen in Wortschatz („die Sanftmut seiner Locken“) und Wortstellung („wenn wir die Augen aufschlügen, unversehens | ins Gleißen der Sonne einen Blick riskierten“) unterstreichen den Eindruck der blassen Ferne, den die meisten Gedichte entstehen lassen. Wie vieles in der Welt ist da, ohne etwas zu bedeuten – diese Einsicht, der sich adoleszente Systeme verweigern, wird von Nancy Hünger sorgfältig und – paradoxerweise, darf man sagen – sprachlich vorgeführt. Heraus stechen einige deutliche, neue Bilder. Auf einer Zugfahrt heißt es: „Vom Reisen wissen nur die Knochen | liegen zugespitzt und gewogen in den Kojen | abzählbar zur Nacht.“ Der Titel des nach Thüringen, in die Heimat der Dichterin zurückführenden Schlußkapitels ist natürlich auch ein Fund: „Heimsuchung“. Einfach ist Rückkehr nie. Die mythische Tiefe der Geschichte und der Märchen, in die viele Gedichte verweisen und aus der sie sich speisen, figuriert im Großen als „Dämmerzonen zwischen den Jahrtausenden“, im Kleinen, Nahen, in das sie einbricht, als „ein leichtes Augenbeben“. Es sind diese Momente der Deutlichkeit, die der zugegebenermaßen weltsüchtige Rezensent am meisten schätzt. Die Stabilität also, und damit etwas, was nicht im Mittelpunkt der Texte steht? Vielleicht. Aber auch die elegante Syntax, der Respekt für die Schönheit einfacher Sätze – das sind inmitten der Verstrickungen und ständigen Übermalungen unseres Alltags unverschriebene Stellen befreiten Atmens.
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Christophe Fricker
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