poeten | loslesen | gegenlesen | kritik | tendenz | news | links | info | verlag | poet |
Was heißt beim literarischen Schreiben eigentlich „Handwerk“? Von Christophe FrickerBacke hinhalten!
I
Ein Berufspolitiker ist aber genau das: ein Fachmann fürs Politische. Er versteht sein Handwerk. Gut in Erinnerung sind noch Wolfgang Schäubles teils schadenfrohe, teils sorgenvolle Reden aus den Monaten nach der Regierungsübernahme durch Gerhard Schröder und Joschka Fischer. Bei Gesetzesvorlagen fehlten Seiten, bei Abstimmungen erschienen die Vertreter der Regierungsparteien nicht in ausreichender Zahl, und immer wieder mußten im Interesse der Verfassungsmäßigkeit Entwürfe nachgebessert werden. „Sie können es einfach nicht“, rief Schäuble ein ums andere Mal in volle Säle. Aber dann lernten Schröder und Fischer es auch. Denn Regieren läßt sich lernen. Daß nur Beamte etwas lernen sollen, damit sie die Genialität von Politikern richtig kanalisieren, ist nicht nur wenig effizient, sondern auf Dauer brandgefährlich. Der andere Beruf, den man um Gottes willen nicht lernen darf, ist der des Schriftstellers, der im Extremfall „Dichter“ genannt wird.1 Er sollte sich ungebunden seiner Inspiration hingeben und sich bloß nichts vorschreiben lassen. Neu soll das sein, was er schreibt, frisch und rebellisch. Diese Einstellung ist teils noch verbreitet, aber hier deutet sich eine Verschiebung an. Zugegeben: Die Idee vom ungebundenen und stets alles erneuernden Autor hat eine gewisse Überzeugungskraft. Das Gedicht als „Augenblick der Freiheit“ haben Autoren von Ernst Jünger bis Hilde Domin, von Walt Whitman bis Joseph Brodsky wortgewaltig als uneinholbaren Anspruch in unsere Mitte gestellt. Ihre oft schwierige, oft aber auch ganz einfache Sprache stellt Gewißheiten in Frage und erlaubt uns einen neuen Blick auf das Vertraute, durch den dieses Vertraute im Idealfall für uns wieder lebendig wird. Genau diese Erfahrung des Neuen im Vertrauten straft aber die Ideologie von der Unerlernbarkeit des Dichtens Lüge. Wer im Augenblick der Freiheit seine Mitwelt schreibend oder lesend neu erfährt, kann das nur, weil die angeblich so geniale Literatur zwei Eigenschaften hat, die sich sehr wohl lernen lassen und die eng zusammenhängen. Es sind Weltbezug und Verständlichkeit. Literatur wird uns unser Leben und das Leben anderer in neuem Licht zeigen, wenn sie sich auf die Welt bezieht und wenn sie verständlich ist. Diese Begriffe bedürfen der Erläuterung. Auf ihnen aufbauend möchte ich dann Grundelemente einer Theorie des literarischen Handwerks vorschlagen. Zunächst: Weltbezug und Verständlichkeit. Weltbezug heißt nicht, daß das dichterische Wort das, was es in der Welt gibt, einfach nachvollziehen und beschreiben oder gar objektiv abbilden könnte. Die Suche nach obsessiver Genauigkeit haben in den 1890er Jahren die Naturalisten durchgespielt und sind damit, wie es Stefan George ausdrückte, in die „offenbare Narrheit“ geraten. Denn auch wenn man hunderte von Adjektiven aneinanderreiht, wird man den Frühling nicht fassen: „Betörendst, / berückendst, bezauberndst, beglückendst, bedrängendst, bedrückendst, / berauschendst, / verzückendst, zerstückendst“ usw. steht im Phantasus von Arno Holz, und so geht es dort seitenlang weiter. Weltbezug heißt auch nicht, daß Dichtung das, was sie vorfindet, wie eine Gebrauchsanleitung erklären soll. Eine solche Einschränkung würde die Bedeutungsfülle, die jedem Wort innewohnen kann und die es zur Grundlage seiner befreienden Wirkung macht, ungebührlich und unnötig einschränken. Weltbezug heißt aber, daß sich die Sprache eines Autors an der Sache, über die sie unweigerlich spricht, schulen muß. Wer in einem Roman, der in der Ära von Elisabeth I. angesiedelt ist, über Musik am Hof schreiben will, muß wissen, was dort von wem wann auf welchen Instrumenten gespielt wurde. Wer ein Gedicht über die Liebe zu seiner Freundin schreibt, muß dieser Liebe auf den Grund gehen. Das schuldet er ihr und das wird dem Text, seiner Liebe und der Freundin – und dadurch insgesamt auch ihm selbst – gut tun. Selbst wer ein Gedicht über sein leeres Blatt oder seine Einsamkeit als Dichter schreibt, oder ein Gedicht über Einträge in einem Wörterbuch, oder Lautfolgen im Straßenverkehr, der muß diese Sachverhalte kennenlernen, bevor er sie in Worte faßt. Indem er sie in Worte faßt, wird er sie noch besser kennenlernen. Das alles ist ein Lernen, das sich lernen läßt. Daß es Texte gibt, die nicht „über“ etwas geschrieben werden, sondern aus der Sprache selbst kommen und sich gleichsam in die Sprache selbst zurückfalten, ist ein Mythos, den sich Stéphane Mallarmé in den 1870er Jahren eine Zeitlang geleistet hat, den Hugo Friedrich 1956 in seiner Struktur der modernen Lyrik auf magerer Textbasis und mit viel normativer Verve in Stein geschrieben hat und der seitdem, auch bei Language Poets und Konkreter Poesie, fröhliche Urständ feiert. Eine angemessene Analyse dessen, was auch jene Autoren machen, ermöglicht er nicht. Der zweite Aspekt von Literatur (sei es Dichtung, sei es Prosa, sei es Drama), der es ermöglicht, daß wir uns selbst, unsere Mitwelt und unsere Sprache neu sehen, ist die Verständlichkeit dieser Literatur. Verständlichkeit heißt nicht, daß ich jedes Wort eindeutig, objektiv und nachprüfbar auf einen Gegenstand beziehen kann. Was „Warum gabst du uns die tiefen Blicke“ oder „schwarze Milch der Frühe“ oder „den / wind grub. hügelan. tiefer. / richtet“ genau heißt, läßt sich nicht sagen. Daß es aber immer wieder etwas bedeuten kann, ist nicht zu bestreiten. Bedeutung ist nie objektiv. Ein Leser gewinnt sie aus einem Text. Er wendet Worte und Zeilen auf etwas in seinem Leben an. Bedeutung ist immer Bedeutung für einen bestimmten Leser. Das heißt aber nicht, daß der Autor sich mit diesem Prozeß der Anwendung nicht beschäftigen muß. Denn Bedeutung kann nur da gewonnen werden, wo Bedeutsamkeit nicht unterbunden wird (was letztendlich auch nicht geht, denn deuten kann man alles, aber ein Autor kann es einem Leser schon sehr schwer machen). Natürlich: Ein Dichter darf sich nicht zum Sklaven des Publikumsgeschmacks machen. Wenn er seine Aufgabe, ein abgestumpftes Publikum zu sensibilisieren, wahrnehmen will, kann er nicht nur das Erwartete liefern. Erwartbares und Berechenbares, das Schielen nach Marktwert und Unterhaltungswert sind nicht unbedingt unmoralisch, aber auch selten mutig. Trotzdem: Es kann nicht angehen, daß Autoren mit dem Bade der undurchdachten Selbstverständlichkeit auf Seiten des Lesers auch das Kind der durchdenkbaren Verständlichkeit ihres Textes ausschütten. Wer nicht will, daß ein wohlwollender, neugieriger Leser einem Text nachgeht und darin auch etwas für sich entdeckt, an dem er gern festhält, darf sich auch nicht darüber beschweren, daß er am Ende keine Leser mehr hat. Die Literatur der Hochmoderne, die auf den Sturm und Drang zurückgeht und den Gedanken an das Genie, den Experten für Einzigartigkeit, nie aufgegeben hat, hat ihre Leser zu einem Gutteil deshalb verloren, weil sie sich von ihnen abgewandt hat. Die Leser des 20. und 21. Jahrhunderts sind nicht weniger interessiert an Dichtung, als es frühere Leser waren, sie bekommen nur weniger davon geboten. Verantwortlich für diese Entwicklung sind nicht der Ästhetizismus oder die Avantgarde, sondern der Ästhetizismus und die Avantgarde. Der Ästhetizismus der Pariser Autoren um Mallarmé hat in seinen weißesten Stunden das leere Blatt zum Ideal erkoren, daß seine Bedeutsamkeit radikal bestreitet. Die Avantgarden um Marcel Duchamps und die Gebrauchslyrik haben Banalität oder Provokation produziert, wehren sich aber ebenfalls dagegen, daß ihre Produkte auf Dauer für den Museumsbesucher bedeutsam sein dürfen. Wenn die Provokation von Duchamps' Urinal abgeebbt ist, steht kein neues Sinnangebot bereit, sondern nur ein kleines Urinal, das niemand benutzen darf, weil es im Museum steht. Die Avantgarde mit ihren Provokationen stellte das gelingende Werk und eine selbstsichere Lebenserfahrung unter den Generalverdacht des Anachronismus und der Dogmatik. Der Ästhetizismus machte das Umgekehrte: Er verdächtigte das Handfeste des Lebens als unwürdig und banal. Das Ergebnis war die klirrende Kälte konfligierender Konzeptionen und die mißmutige Konfrontation von Autoren und (potenziellen) Lesern. II
Der Vorwurf, der mir am häufigsten gemacht wird, wenn ich so argumentiere, ist, ich wolle den Künstler zum Kunsthandwerker degradieren. Dieser Vorwurf ist nicht nur eine ebenso unverhohlene wie unverfrorene Abwertung des Handwerkers, sondern auch eine grobe Verkennung dessen, was ein Handwerker eigentlich macht. Aber die geläufige Argumentation geht so, daß man eine Kunst nicht lernen kann, sondern allenfalls ein Handwerk. Daß diese Trennung in bezug auf das Handwerk nicht überzeugt, zeigt ein einfaches Gedankenspiel. Stellen Sie sich vor, Sie müßten morgen eine Ausbildung zum Klempner anfangen. Das würde Ihnen wahrscheinlich schwer fallen. Mir jedenfalls. Oder: Erinnern Sie sich einmal daran, wie sie zuletzt von Ihrem Dachdecker enttäuscht waren. Der Punkt ist der: Auch ein Handwerk kann man nur zu einem bestimmten Grad erlernen. Auch zum Handwerk braucht es Talent. Nicht jeder kann einfach ein guter Klempner werden. Umgekehrt gilt für den Künstler: Nicht alles an der Kunst kann man lernen, aber vieles schon. Das beginnt mit schiefen Formulierungen („Übergewichtige Kinder haben stark zugenommen“), wie sie der Zwiebelfisch oder der „Hohlspiegel“ im Spiegel aufgreifen, und geht bis zu Ken Folletts Bemerkung über Tolstoi, daß es keine gute Idee sei, zwei Prinzessinnen denselben Namen zu geben, zumal dann, wenn sie auch noch nebeneinander wohnten. Den Rang von Tolstoi schmälert das kaum (auch wenn Follett das behauptet), aber daß Tolstoi nicht ein besserer Tolstoi hätte sein können, ist eine Unterwerfungsgeste seitens des Lesers, aus der unter Umständen weitere Mißverständnisse hervorgehen können, denn sie bezeugt eine sehr enge Wahrnehmung. Es ist eben nicht wahr, daß ein Handwerker alles machen kann und daß ein Künstler nichts machen muß. Auch Handwerker haben auf ihre Fähigkeiten, auf die Eigenschaften ihres Materials und auf die Wünsche ihrer Kunden Rücksicht zu nehmen. Wohlgemerkt: Dieser letzte Punkt ist nur einer von vielen. Ein Handwerker ist kein Sklave seines Kunden oder seines Auftraggebers. Der Stolz des Handwerkers liegt darin, daß er eine Sache gut macht, daß sie zunächst einmal in sich einen Wert hat. Erst danach hat sie ihren Preis, der sich auch aus ihrem Nutzen bestimmt. Richard Sennett hat diesen Punkt in seinem Buch über das Handwerk stark gemacht.2 Seine Ergebnisse lassen sich auf das Handwerk des Dichters übertragen – oder genauer gesagt, auf denjenigen Teil der Arbeit eines Autors, der handwerklich geprägt ist. Sennetts Buch hilft zu sehen, wie groß dieser Anteil ist. Es hilft zu sehen, daß Handwerker keine Maschinisten sind, keine blinden Programmierer. Literatur ist gern sperrig und Leser sind manchmal träge, aber die Möglichkeit der Begegnung von Literatur und Leser ist gegeben, weil im Schreiben – wie übrigens im Lesen, das man ja auch nicht einfach so kann – Handwerk ist. Man kann das Schreiben üben, man kann sich darin verbessern und dadurch seinen Bezug zur Mitwelt, zu der auch der Leser gehört, verfeinern. Kein Autor bleibt sich immer gleich. Und seine Veränderungen sind nicht allein seinem Willen oder der Gnade Gottes oder der Muse oder dem Zufall zuzuschreiben. Das diebische Interesse vieler Leser an den Juvenilia von Autoren rührt oft daher, daß man sehen will, wie er war, als er es noch nicht recht konnte. Der Anteil des Willens, Gottes und des Zufalls sei nicht bestritten, aber eben auch nicht überbetont. Die führenden Vertreter deutscher Schreibschulen zeigen das, aber bezüglich der Begriffe Handwerk und Werkstatt verhalten sie sich ausgesprochen zaghaft. Hanns-Josef Ortheil spricht von der Roman- und der Schriftsteller-Werkstatt und meint mit Bezug auf seine eigene Arbeit seine wachsenden Notizen (sein enzyklopädisches Sammelinteresse inmitten der Fülle der Welt), sein „Tage-Buch“ (die fremden Materialien, die er sichtet und zuweilen auch ordnet) und die „Chronik“ (eine Art knapper Rechenschaftsbericht über einen Tag).3 Er stellt dar, wie sich aus dieser Ursuppe eine Idee herausbildet und als „Durchbruch eines Faszinosums“ die Phantasie in Gang setzt. Jetzt werden bestehende und neue Anknüpfungspunkte ausgewählt, arrangiert und ausphantasiert. Der Autor sucht nach ihnen, öffnet sich, setzt sich ihnen aus. Er fragt und fragt weiter, er nährt seine Idee. Die äußere Welt verleibt er sich ein, sagt Ortheil. Man könnte all das, sicher ganz in Ortheils Sinne, ein Handwerk nennen, aber Ortheil tut es nicht. Das verstellt unnötig den Blick auf das, was er beschreibt. Und es führt dazu, daß Klaus Siblewski von Ortheil den Begriff der Werkstatt übernimmt und ihn ebenfalls in einem zu engen Sinn verwendet. Zur Werkstatt gehört für Siblewski nämlich all das nicht, was er – sehr großzügig – Veröffentlichen nennt: Gespräche zwischen Autor und Lektor und zwischen Autor und Freunden, Exposés und alles, was explizit der Suche nach Selbstvergewisserung im Angesicht von Anderen dient. Wo bleibt da für Siblewski die Werkstatt? Sie liegt vor jeder Veröffentlichung, also auch vor allen Gesprächen. Sie gehört zur „introvertierten“ Phase. Siblewski könnte aber sehr gut und im Rahmen seiner Position sehr konsequent argumentieren, daß das Handwerk offen, heute würde man sagen: vernetzt ist. Er hält statt dessen nolens volens am Bild des „einsamen Handwerks“ fest, das er eigentlich umgehen möchte. Immerhin spricht er an anderer Stelle in handwerklichen Bildern vom Autor, der „praktisch“ und „professionell“ arbeitet und die „Position des Architekten und Handwerkers am eigenen (Roman-)Bau“ einnimmt.4 Und er kritisiert Autoren, die in der Öffentlichkeit sein wollen, die die Annäherung an die Öffentlichkeit aber als unwürdig empfinden. Statt dessen gelte es anzuerkennen, daß ein Roman in „Zusammenarbeit“ zwischen Lektor und Autor fertig gestellt werde. Der Lektor werde spätestens dann zum „Mitautor“. III
Erstens, asymmetrische Rollenverteilung. Im Handwerk arbeiten Menschen zusammen, deren Erfahrungen und Kenntnisse sich unterscheiden. Die Autorität des kenntnisreicheren und erfahreneren Meisters beruht auf seiner Fähigkeit, ein gutes Produkt zu schaffen und andere, weniger Erfahrenere dazu auszubilden, ein ähnlich hochwertiges Produkt zu schaffen. Dienst und Gehorsam von Gesellen und Lehrlingen erhalten ihre Würde und ihre Rechtfertigung daraus, daß sie dem Meister vertrauen, aus ihnen selbst die Fähigkeiten zu entwickeln, im Umgang mit Material und Werkzeug und mit der Welt, für die sie das Produkt herstellen, die Meisterschaft zu erreichen. Sie sollen nacheifernd lernen und Erfahrungen machen, die sie verändern, und nicht blind kopieren. Das bedeutet, daß sich die Gemeinschaft der Arbeitenden durch die Arbeit selbst einstellt, also durch den Bezug auf die Sache, nicht etwa durch Unterwerfungsgesten oder Diskursstrategien. Ein Autor lernt, indem er liest und indem er spricht. Er lernt von anderen, die geschrieben haben und die besser schreiben als er. Er lernt auch von sich selbst, indem er Vorstufen liest und verbessert. Im Regelfall lernt man vom Besseren. Aber auch Scheitern und Verunglücken, das negative Beispiel, „wie man es nicht macht“, kann man sich zeigen lassen. Dieses Zeigen selbst ist asymmetrisches Lernen. Zweitens, persönliche Nähe. Die Arbeit wird gemeinsam getan. Die persönliche Ebene kommt dadurch zustande, daß Gesellen und Lehrlinge mit dem Meister von Angesicht zu Angesicht umgehen. Er sitzt nicht zehn Stockwerke höher in der Vorstandsetage. Der Meister ist für die Ausbildung der fachlichen Fähigkeiten, aber auch allgemein für die persönliche Entwicklung seiner Gesellen und Lehrlinge verantwortlich. Ein einsames Handwerk gibt es nicht. Handwerk ist Gemeinschaft. Wer als Autor handwerklich arbeitet, muß sich nicht darum sorgen, daß er keine Leser findet, denn wer sich um seine Mitwelt kümmert, wird ihr nicht verborgen bleiben. Der Lohn des Handwerkers besteht darin, daß er seine Welt neu erfährt und auf sein Produkt stolz sein darf. Diese Freude wird er mit seinen Lesern teilen. Für den Komponisten ist das selbstverständlich. Man geht nach Karlsruhe und lernt von Wolfgang Rihm, wie man Musik schreibt. Dasselbe gilt für Bildende Künstler. Nicht erst Michelangelo hatte eine Werkstatt, und im 20. Jahrhundert ist diese Tradition nicht abgebrochen. Literarische Schulen hat es immer gegeben, von Sappho über Hans Sachs und die Meistersinger bis zur Schule für Dichtung in Wien. Selbst die einsam-inspirierten Romantiker haben durch enge Freundschaften verlorene produktive Gemeinsamkeit wieder hergestellt. Die moderne Schulfeindschaft im Literarischen ist ein historischer Sonderfall, der vielleicht auch mit dem beklagenswerten Zustand vieler Schulen um die Wende zur Moderne zu tun hat. Wedekind hat das in Frühlings Erwachen dargestellt. Inzwischen gibt es aber Schreibschulen wie das Deutsche Literaturinstitut und die Textmanufaktur in Leipzig oder den Studiengang Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus in Hildesheim. In den USA ist es ohnehin undenkbar, daß ein Autor nicht mit den Programmen, die einen Master of Fine Arts verleihen, zusammenarbeitet. Das ist aber nicht alles. Denn auch in der direkten Begegnung mit dem Buch, dem sich der lernende Autor widmet, findet ein Lernen statt. Auch das ist eine Form der Unmittelbarkeit im Umgang mit dem Vorbild, dem Untersuchungsgegenstand. Heißt das also Diplome für gutes Dichten, und Dichten nach DIN-Norm wie beim Klempner? Bringen nicht die genannten Schreibschulen einen austauschbaren Schulstil hervor, wo einer wie der andere klingt und keiner Überraschungen bietet? So arg ist es nicht: Ein Text gleicht einem anderen nie so sehr wie ein Maschinenprodukt einem anderen. Es ist gar nicht möglich, zweimal den gleichen Text zu schreiben (Borges wußte das). Aber daß man einander schreibend näherkommt, wenn man voneinander lernt, ist wahr. Man macht sich verständlich. Nur geschieht das nicht aus blindem Gehorsam, sondern aus sorgfältiger Prüfung heraus. Nicht alles, was ein anderer schon einmal gemacht hat, muß deshalb schlecht sein. Umgekehrt heißt das natürlich nicht, daß alles, was aus einer Schreibschule kommt, auch gut ist. Es gibt ja nicht nur gute Schulen und gute Lehrer, sondern auch schlechte. Aber daß das gemeinsame Lernen besser ist als das einsame Beharren auf dem Nicht-Lernen, haben sie glücklicherweise gemeinsam. Letzendlich bleibt „Handwerk“, wie „Schule“, ein Modell-Begriff für das Schreiben – ein Begriff, dessen Tragfähigkeit man prüfen muß. Ich glaube aber, daß es ein sehr gutes Modell ist. Drittens, produktive Tätigkeit. In einer Werkstatt streben Menschen danach, ein qualitativ hochwertiges Produkt zu schaffen. Das vom Meister geschaffene Produkt trägt, ebenso wie die Art, wie er es präsentiert, den Charakter des guten Beispiels, nicht des Befehls. Die Auszubildenden sollen in der Arbeit am Gegenstand, beim Formen von Materialien und im Üben von Arbeitsprozessen sinnvolle Aufgaben erfüllen, Probleme entdecken und Probleme lösen. Ihre Ausbildung ist sachorientiert, nicht karriereorientiert. Konkret: Man kann als Autor einen Habitus lernen, aber ein Autor ohne Buch ist auf lange Sicht kein Autor. Die Werkfreude muß immer der Fluchtpunkt sein. Viertens, soziale Sonderstellung. Der Handwerker weiß sich in einer langen Tradition, die über die Jahrzehnte und Jahrhunderte, vielleicht gar Jahrtausende hinweg objektivierbare, teilweise und verschieden explizierbare Standards etabliert hat. Hier werden Erfahrungen gemacht, vermittelt und erhalten. In bezug auf die Gesellschaft ist der Handwerker durch seine besonderen Kenntnisse ausgezeichnet. Er ist es, der die Qualität eines Erzeugnisses nicht nur prüft, sondern auch garantiert. Dadurch wird aus seiner Sonderstellung eine mit der Gesellschaft verbundene Position. Er hat Verantwortung. Diese Rolle schreibt die Öffentlichkeit dem Autor gern zu. Er ist moralische Instanz wie Grass oder Böll, der sich auch zu tagespolitischen Fragen äußern soll, eben weil man annimmt, daß er die Gesellschaft als Ganze, die die Tagespolitik betrifft, genau deshalb besser versteht, weil er sich ihr schreibend widmet. Autoren sind aber auch Anhaltspunkte für den korrekten Sprachgebrauch: Wie erleichtert waren die Gegner der Rechtschreibreform, als sich Ernst Jünger in ihrem Sinne äußerte. Wie freut man sich, wenn man in Grimms Wörterbuch findet, daß „schon Schiller“ eine bestimmte Formulierung benutzt hat und sie dadurch ermöglicht. Wie froh sind Lateinschüler, wenn sie bei Cicero eine grammatische Unregelmäßigkeit finden, denn dann ist das, was sie selber regelwidrig geschrieben haben, kein Fehler, sondern eine sanktionierte Ausnahme. Auch in diesem dritten Beispiel lernt man als lesender Autor nicht, daß „die Großen“ sich jede Idiosynkrasie leisten dürfen und daß es nur darauf ankommt, als erster eine Regel zu brechen. Man erhält nicht die Sanktion zur Genialität. Sondern man lernt den bewußten, beherzten Umgang mit der Sprache, der diese auch bei bleibender Sach- und Bedeutungsorientierung nicht versteinern läßt. Dazu gehört die Orientierung an guten Beispielen – nicht die sklavische Befolgung von Befehlen. Die Vorstellung, man könne einen Text einzig und allein anhand derjenigen Kriterien beurteilen und weiter entwickeln, die er selbst aus sich heraus nahelegt, ist letzten Endes nicht ehrlich. Sie übersieht die implizite Verbundenheit eines jeden Textes mit anderen Texten. Sie ist ein Münchhausen-Argument. Der fünfte und letzte Punkt steht etwas außer der Reihe: Tätigkeit und Produkt des Handwerks sind von der maschinengetriebenen Industrie auf der einen Seite und der geniebesessenen Idiosynkrasie auf der anderen abzugrenzen. Die verschiedenen Produkte einer Werkstatt sind einander ähnlich und so erkennbar, gleichen einander aber nie so wie ein maschinell erzeugtes Produkt dem nächsten. Die Maschinenwelt führt zum Überangebot an Waren; das menschliche Maß des Handwerks ist bescheidener. Das Handwerkliche enthält Variationen und manchmal Fehler. Der Handwerker wird in der Moderne – manchmal im verklärenden Rückblick – zum Symbol des Menschlichen und zum Gegenbild der Maschine. Zu den Verfechtern dieser Idee gehörte John Ruskin. Ruskins Handwerker strebt nicht in erster Linie nach Originalität. Sein Werk steht nicht außerhalb aller Maßstäbe; es schockiert nicht, sondern bleibt zu beurteilen. Sennetts Sicht des Handwerks kristallisiert sich in seinem Diktum, handwerkliche Produkte seien „eher aus der Praxis destilliert als von der Theorie diktiert“. IV
Juli Zeh hat das einmal sehr schön angedeutet, indem sie sagte, ihr handwerkliches Training sei in ihr schöpferisches Tun eingegangen.6 Wer sein Handwerk gelernt hat, schöpft auch anders, hat andere Ideen. Das hat nichts mit Konditionierung oder Einschränkung zu tun, sondern im Gegenteil mit einem geschärfteren Blick für innere und äußere Gegebenheiten. Peter Sloterdijk hat in seinem Buch Du musst dein Leben ändern darauf hingewiesen, daß Richard Sennetts Buch einen Paradigmenwechsel andeuten könnte. Es unterstreicht die lebendige Beziehung zwischen dem Schaffenden, seinem Werkstoff und seiner Mitwelt. Es zeigt an, daß in jedem Machen ein ethisches Moment enthalten ist. Es erinnert den Machenden an seine Unabhängigkeit und an seine Verantwortung. Und es fordert unüberhörbar dazu auf, sich vor gegebenen Einsichten und Erfahrungen nicht zu verschließen, seien es diejenigen anderer Menschen, seien es auch die eigenen. Es wäre schön, wenn in Gesprächen über Literatur einiges davon ankäme. Sicher läßt sich einiges davon dann auf die Politik übertragen. 1Der Einfachheit halber verwende ich nur die männliche Form. Gertrude Stein und Elke Heidenreich sind aber immer mitgemeint, wenn es hier um Autoren und Leser geht. Dieser Aufsatz ist erschienen in L. Der Literaturbote, Heft 101, herausgegeben vom Hessischen Literaturforum in Frankfurt.
|
Christophe Fricker
Prosa
Lyrik
Aufsatz
|
poetenladen | Blumenstraße 25 | 04155 Leipzig | Germany |
virtueller raum für dichtung |