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Christopher Weber
Hymnen an die Nachtschicht I Die Nachtschicht wird uns auseinander reißen, dich und mich. Unsere Träume verpassen sich. Unsere Hände existieren in verschiedenen Zeitzonen. Ich schreie in mein Telefon, wenn du am anderen Ende der Leitung bist. Ich schreie gute Nacht ins Telefon und dass ich dich natürlich liebe und verschwinde dann mit einem dieser Mädchen mit brillenglasgedeckelten Engelsaugen für eine ganze Weile im Chemielabor. Ein Gesicht, ein Hals im Halogen- und Neonlicht. Wir verzichten auf Handschuhe, Schutzbrillen und Laborkittel. Wir sind bereits kontaminiert. Nicht mehr zu reinigen. Wir liegen zwischen Reagenzgläsern und Fläschchen mit winzigen Totenköpfen, versuchen uns, lassen unsere Münder aufeinander los. Unsere flackernden Augenlider sind das Schönste, was die Nacht zu bieten hat. Mediziner sagen uns: Die Schlaflosigkeit zersetzt eure Gehirne. Aber wir haben keine Wahl. Unsere Leben sind verspielt. Abgebrochene Ausbildungen, übertrieben lange Kleinstadtaufenthalte, zu den Akten gelegte Träume und deprimierende Hobbys machen unsere Lebensläufe unbrauchbar. Die Personalverantwortlichen seriöser Firmen wickeln ihre halb aufgegessenen Pausenbrote in unsere Motivationsschreiben ein. Wir sind die Nachtschicht. Wir sind Pförtner, Wächter, Träumer, Polizisten, Fabrikangestellte, Wissenschaftler, Dichter, Nagetiere und verirrte Partygäste. Unsere Städte sind unbelebt, die Fenster unserer Häuser dunkel und leer. Auf unseren Straßen fahren keine Autos. Wir brauchen keine schnellen Fortbewegungsmittel, wir haben es nicht eilig. Mit erhobenen Armen balancieren wir auf dem Mittelstreifen vierspuriger Straßen und singen aus vollen Hälsen, weil uns so gut wie sicher niemand hört. Wir sind unüberfahrbar. Unsere alten Freunde rufen uns schon lange nicht mehr an. Wir haben die Besuche aufgegeben. Unsere Besuche kamen zu früh oder zu spät. Wir sind es leid, in Familienfrühstücke oder Fernsehabende hinein zu platzen und beim Frühstück vor Erschöpfung einzunicken oder mitten im Film unsere Sachen einzupacken, weil wir zur Arbeit müssen. Unsere Lieben sind von kurzer Dauer. Wir verlieben uns im Halbschlaf, mit halben Herzen und halben Gehirnen. Wir sprechen in Extremen, lallen gleich Ich liebe dich, wenn sich ein netter Mensch neben uns stellt, weil es so wenig Menschen gibt in unserer Welt, weil alles kalt und leer und dunkel ist, wenn wir wach und auf den Beinen sind. An freien Tagen liegen wir auf unseren Betten und starren unsere Zimmerdecke an. Im besten Fall schlafen wir einfach durch. II Am Eingang der Nacht habe ich dich getroffen. Du kamst heraus, ich ging hinein. So stießen wir zusammen. Dann standen wir im Zwielicht, ich sagte meinen Satz und deine Antwort war das müdeste und schönste Lächeln aller Zeiten. Im Zwielicht stießen unsere Leben aneinander, da konnten wir koexistieren, da berührten sich unsere Worte, mein Schon und dein Noch. Im Zwielicht reiben wir uns auf. Deine Sonne leuchtet heller als die Summe aller meiner Sterne aller meiner Nächte. Du sonnst dich noch, wenn ich schon Feuer fange. Ich bin die Nachtschicht. Zu jedem Zeitpunkt träumt die Hälfte meiner Nervenzellen. Ich kann immer nur eine meiner Hände kontrollieren und nur ein Bein bewegen, die andere Hand, das andere Bein schläft. Ich schleife es mit und lege alle Wege humpelnd zurück. Es macht nichts. Unter meinen Füßen schmelzen alle Mittelstreifen. Milch an und bald schon in den Schuhen. Mein Humpeln geht in Fließen über. III Wir spielen unser Spiel. Du sagst, dass wir nicht zueinander passen. Dass ich ein Nachtschichtmädchen finden werde. Mit blauen Augen, blauer Haut. Mit dem ich in der Nachtschichtpause durch Passagen mit verrammelten Geschäften bummeln werde. Wir, damit meinst du schon mich und das Nachtschichtmädchen, werden die heruntergelassenen Rollos und Bretter in den Schaufenstern studieren und uns überlegen, welche Rollos und Bretter wir für unsere Wohnung kaufen sollen. Möglichst engmaschig und dick müssen sie sein, weil unser Zuhause eine sonnenlichtfreie Zone bleiben muss. Nur dann finden wir Ruhe. Wir sind nur schön im Dunkeln und im Neonlicht. Fluoreszierende Blässe um unsere Nasenspitzen. Wir, zweifellos meinst du damit noch immer mich und das ausgedachte Nachtschichtmädchen, werden im Restlicht stehen, unsere Pupillen groß wie Murmeln, und uns mit den ganzen wachen Hälften unserer Herzen lieben. Nein, sage ich. Nein, nein, und versuche deinen Kopf mit der gerade von mir kontrollierten Hand zu streicheln. Ich sage, ich will nicht mehr die Nachtschicht sein. Aber ist man einmal für die Nachtschicht eingeteilt, gibt es keinen Ausweg mehr. Man ist für die normalen Schichten nicht mehr zu gebrauchen. Geht man zur Personalabteilungsleiterin und klagt und sagt, ich will nicht mehr die Nachtschicht sein, erntet man im besten Fall einige Mitleidsblicke und nach oben gekehrte Personalabteilungsleiterinnenhandflächen. Anschließend wird man wortlos von der Sekretärin Richtung Ausgang eskortiert und fragt sich draußen vor der Tür: Was hat die Nachtschicht bloß aus mir gemacht? IV Wir sind die Nachtschicht. Wir haben uns schon abgefunden. Wir geben der Einsamkeit und ihren Kumpels Kosenamen um sie zu verjagen. Wir wissen gar nicht mehr, wie es sich anfühlt, wach zu sein. Wir sind Blutgruppe Koffein. Wenn uns nach kurzen Sommernächten die Morgensonne auf dem Heimweg überrascht, vergraben wir die Nasenspitzen in den Jackenkrägen. Die Empfindlichkeit unserer Netzhaut ist außerhalb des Tierreichs unübertroffen und der Preis dafür, dass wir im Dunkeln sehen können. Hinter unseren Augen befinden sich Restlichtverstärker. Wir lassen uns kein Lichtteilchen entgehen. Unsere Orientierung funktioniert wie bei den Fledermäusen über Schall. Seufzen wir in einen dunklen Raum hinein, verrät uns das an den Wänden reflektierte Seufzen die genauen Ausmaße des Raums, die Art und Zahl der abgestellten Gegenstände und die Beschaffenheit der Wände. Stoßen wir bei unseren Rundgängen auf einen anderen Menschen, spüren wir ihn schon, bevor er um die Ecke kommt. Die äderchendurchzogene Haut um unsere Augen herum reagiert auf Wärmestrahlung. Treffen sich zwei Nachtschichtmenschen, nicken sie sich nur stumm zu. Wir vertragen keine Händedrücke. Unser ganzer Körper ist extrem berührungsempfindlich. Wenn wir uns in den Räumen oder zwischen den Maschinen, die wir überwachen sollen, lieben, wozu es in der Euphorie des Halbschlafs ab und zu kommen kann, lieben wir uns wie zwei Porzellanfiguren oder überaus zerbrechliche Tiere. Wo andere sich küssen, behauchen wir uns. Unser Immunsystem ist dünner als Geschenkpapier und im Grunde auch nur zur Verzierung da. Unsere Ernährung ist eine Ernährungskrise. Wir haben nach dem Aufstehen einfach keine Kraft, uns irgendwelche Butterbrote einzupacken. Allein schon das Wort Butterbrot zieht uns die Socken der Selbstbeherrschung aus. V Wir stehen als einziges beseeltes und mit Verantwortung beladenes Wesen versunken in Maschinenschluchten und passen vorschriftsmäßig auf, dass nicht zuviele rote Lämpchen auf einmal blinken. Wir werden von dir angerufen, weil du wieder nicht schlafen kannst. Du fragst mit dünner Stimme, die beinahe vom Maschinenlärm begraben wird, warum ich mir kein Nachtschichtmädchen suchen würde. Weil Nachtschichtmädchen mit gefletschten Zähnen schlafen, schreie ich. Wie du, sagst du. Wie wir alle, schreie ich. Versteck dich nicht immer hinter diesem Wir, das es nicht gibt, sagst du. Die Nachtschicht sei nicht das Problem. Natürlich ist die Nachtschicht das Problem, schreie ich. Dass wir die Nachtschicht sind ist das Problem. Und natürlich gibt es uns. Wir sind einige. Dann wünsche ich dir wütend einen guten Schlaf und lege auf. In meiner Nähe fangen alle roten Lämpchen an zu blinken und die Maschinen husten fürchterlich. Wenn wir uns Sorgen machen, wird uns die Schicht zum Wachalptraum. Jede schlafende Nervenzelle in unserem Kopf ist eine sich sorgende und unsere Sorgen an die nächsten Nervenzellen weitergebende. Kleine helle Blitze breiten sich in unseren Köpfen aus. Die Müdigkeit macht es den Sorgenblitzen leichter. Die Müdigkeit trägt alle unsere Dämme ab. Schon entstehen winzige Gewitter und die letzten tapferen Gedanken gehen im Prasselregen unter. Wir werden nicht weich, wir überspringen die Weichheit und werden gleich zu etwas Fließendem. Schon auf dem Boden unter den Maschinen liegend rufe ich dich an und spare nicht mit großen Worten. Ich verzichte auf Erklärungen und springe gleich zu den Entschuldigungen. Es tut mir leid, dass ich so nächtlich bin, schreie ich, mein Körper im roten Lichtgeflacker dutzender nervöser Lämpchen auf dem Boden zwischen den Maschinen ausgebreitet. Du antwortest, dass du eigentlich schon geschlafen habest und mein Anruf dich aus gar nicht mal so üblen Träumen risse. Dann schlägst du ernsthaft vor, dass ich mit einem koreanischen, japanischen oder anderswo auf der gegenüberliegenden Globusseite befindlichen Mädchen vielleicht besser beraten wäre, weil wir, damit meinst du mich und das koreanische oder japanische Mädchen, dann geteilte Wach- und Schlafenszeiten hätten. Nach einer kurzen Nachdenkpause schreie ich, dass wir, das heißt das koreanische oder japanische Mädchen und ich, uns dann aber nicht küssen oder umarmen könnten, niemals, obwohl das doch für zwei durch ihre Lebensumstände oder ihren Wohnort in die Nachtschicht hineingeworfene Menschen unverzichtbarer Bestandteil einer lohnenswerten Koexistenz sei. Davon abgesehen wolle ich eigentlich gar keine koreanisches oder japanisches Mädchen, sondern dich. Dich, hier, im Zwielicht. In diesem Fall müsse die Nachtschicht aber bald ein Ende haben, sagst du schon milder, gähnend. Wir verabreden uns im Morgengrauen des herandrängenden Tages. Dann stehen wir uns verschlafen gegenüber und du nimmst meine Hand und führst mich, weil ich noch deutlich müder bin als du, zur Personalabteilungsleiterin, der wir anschließend unser Leid mit vielen Adjektiven und Blicken unterschiedlichster Erschöpfungsstufen schildern. Du weist auf meine rötlichen pulsierenden Augen, fährst meine Augenringe in der Luft vergrößert mit den Armen nach als wären sie groß wie Traktorenräder. Zum Abschluss dieser für mein Empfinden recht gelungenen Vorstellung sinke ich auf den unendlich weichen Teppichboden des Büros der Personalabteilungsleiterin und rolle mich in Schlafhaltung zusammen. Ich muss tatsächlich eingeschlafen sein. Denn wieder aufwachend finde ich mich auf der Treppe vor dem Ausgang des Gebäudes wieder, in dem sich unsere Personalabteilung wohl befinden muss. Das morgendliche Zwielicht geht schon ins erbarmungslose Licht des Mittags über. Alle echten und imaginären Vögel sind schon heiser und krächzen ihre alten Songs mit letzter Kraft. Du hast dich über mich gebeugt, damit ich nicht so schutzlos in der Sonne liege. Ich frage, ob wir bis zur Kammer, in der Personalabteilungsleiterin ihre Menschlichkeit versteckt, durchgedringen sind. Ob alles vorbei ist. Ob ich nicht mehr die Nachtschicht bin. Und während ich an mir hinabblicke und zähle was an mir noch heil geblieben ist drückst du zur Antwort meine Hand ein bisschen fester und sagst, Ja, ja, ja, du musst nicht mehr die Nachtschicht sein, weil du entlassen worden bist, du bist jetzt arbeitslos. Arbeitslos, endlich, sage ich. Und seufze still in mich hinein, um das Ausmaß dieser neu entstandenen Leere in mir abzuschätzen. Und nehme deine Hand, ohne zu fragen, mit hinüber in den Schlaf.
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