Wenn man als Rezensent nach beendeter Lektüre einmal tief durchatmen muss, sich dann an seinen Schreibtisch setzt und plötzlich das Gefühl bekommt, mit keinem, wirklich keinem einzigen Wort den Gehalt des zu besprechenden Buches berühren zu können, hat man ein Problem. Der Roman „Das Matratzenhaus“ von Paulus Hochgatterer kann zu einem solchen Problem führen. Dann atmet man nochmals tief durch, schlägt das Buch erneut auf und versucht, eine Lösung zu finden. „Wie es gewesen sein muss“ heißt Kapitel Eins, nicht zu verwechseln mit dem darauf folgenden Kapitel „Eins“, und es führt anhand seiner Metaphorik in Titel und Text bereits tief in einen Schlund. Das indische Mädchen, das da gerade von einer namenlosen Frau weiteren namenlosen Menschen ausgehändigt wird, ist noch ahnungsloser als der Leser. Neugierig zeigt es auf ein Neuntöterpärchen im Distelgebüsch, „auf einen Bretterverschlag mit aufgemalten Gesichtern und auf einen alten Mann, der in einem Plastikstuhl sitzt und schläft.“ Damit sind bereits wesentliche Elemente des Grundgerüsts vorgezeichnet, anhand dessen der Autor seine Geschichte um Gewalttätigkeit im Allgemeinen und Kindesmissbrauch im Besonderen aufzieht. Furth, Mittelkleinstadt im österreichischen Irgendwo und Hochgatterer-Kennern bereits aus der „Süße des Lebens“ vertraut, hat seine eigenen Probleme. Aktuell sind es misshandelte Volksschulkinder, die die ganze Stadt samt ihrer zuständigen Pädagogen, insbesondere aber Psychiater Raffael Horn sowie Kriminalkommissar Ludwig Kovacs, beschäftigen. Erschwerend kommt hinzu, dass niemand sich vorstellen kann, wer den Kindern die Blutergüsse auf Kopf, Schultern und Rücken zufügt. Die „schwarze Glocke“ ist eine vage Information eines der Kinder, davon abgesehen will nichts heraus finden aus den seltsam gefasst wirkenden Opfern, denn: „Wenn ich rede, passiert mir das Gleiche.“ Im Verlauf ihrer Nachforschungen müssen sich beide, Kommissar und Psychiater, der jeweiligen Vergangenheit stellen, nur um zu erkennen, dass Grundzüge dessen, was sie bekämpfen, ihnen selbst – selbst ihnen – passiert sind. Als Opfer, wie auch später als Täter. Beide haben den Mut, ihren väterlichen Verfehlungen ins Auge zu blicken, was nicht zuletzt dazu führt, dass Kovacs' Tochter, überrumpelt darauf angesprochen, nur noch fassungslos „Du sagst so blöde Sachen“ stammeln kann. Und auch Horn bekommt auf einen launigen Kommentar von seinem sechzehnjährigen Sohn zur Antwort, er sei „sowas von arg!“ Dabei gibt es auch außerhalb der Schwierigkeiten, die die Kindererziehung mit sich bringt, Gemeinsames zwischen den Hauptfiguren. Beide neigen zu Trotz im Umgang mit ungeliebten Obrigkeiten, beide sehnen sich nach einer, wenn schon nicht heilen, so doch einigermaßen intakten Familie, beiden schließlich bereitet ihr persönliches Scheitern darin umso mehr Grund, sich in berufliche Belastungen zu stürzen. Und die haben es ziemlich in sich. Horn sieht sich täglich mit suizidgefährdeten und (auto)aggressiven Patienten konfrontiert, Kovacs muss sich mit der für ihn erheblich dringlicheren Frage herumschlagen, ob der junge Weghaupt durch Schicksal oder Absicht vom Baugerüst gestürzt ist. Bei Kovacs hat der Alkohol, wie der Leser erfährt, bereits einmal seine Wirkung getan, bei Horn wird er kurzfristig zumindest zur Option. Zwischen diesen Kapiteln, die den Großteil des Romans ausmachen, melden sich jedoch noch andere, nicht zu vernachlässigende Stimmen zu Wort. Eine Lehrerin, der das unheimliche Geschehen um ihre Schulkinder schmerzliche Erinnerungen aus der eigenen Vergangenheit heraufbeschwört, die einem geheimen Verhältnis mit einem Priester und Religionslehrer ihrer Schule nachgeht, welcher selbst mit inneren Stimmen und Halluzinationen ordentlich bedient ist. Und schließlich Fanni, das dreizehnjährige Mädchen aus Indien, das sich intensiver mit asiatischen Tötungstechniken beschäftigt, als man das über weite Strecke gern begreifen würde. Wenn Fanni der kleinen Switi aus dem Initialkapitel neben einigen tröstenden Pelikangeschichten eindringlich verschiedenste „Fluchtwege“ erklärt, macht sich allerdings eine Ahnung breit, was in dem Haus mit den vielen Matratzen in seinen Zimmern tatsächlich vor sich geht. So wie der Autor seine Erzählerstimmen changiert, wechselt er auch das Tempus. Horn und Kovacs schürfen auktorial im Präteritum nach Ursachen und Gründen; die Geschichte der Lehrerin wird personal erzählt, immer im Präsens – dadurch unmittelbar; und Fanni schließlich ist die einzige, die im gesamten Roman „ich“ sagen darf, wenn ihre unfassbaren Eindrücke zwischen den Trümmern abgetöteter Emotionen hervorblitzen. Dabei begeht Hochgatterer nie den Fehler, etwas wirklich Bedeutendes auszusprechen, er deutet bloß an, komponiert seine Geschichte aus scheinbaren Nebensächlichkeiten und schafft dadurch eine Brutalität, die sich der Leser selbst zu imaginieren gezwungen ist. Gerade zwischen den Zeilen schneiden sich Eindrücke unter die Haut, die tiefer gehen als die Rasierklingen der jungen Sabrina. Denn nicht nur auf des Psychiaters Station gibt es Menschen, die mehr zu sagen haben als die Gesellschaft um sie hören will. Wenn einen das Buch nach der letzten Seite dann einigermaßen ratlos zurücklässt, sollte man es ein zweites Mal zur Hand nehmen. Hatte man zuvor schon das Gefühl, dass da einfach alles stimmt, erfährt man schließlich Gewissheit. Übrigens: Manche Vögel, erklärt eine Biologin, flögen nicht mit in den Süden. Sie heißen „Zugsverweigerer“. Nur jene, die geeignete Mechanismen entwickeln, überstehen den Winter.
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Daniel Kindslehner
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