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Harald Martenstein
Gefühlte Nähe
Nähe – geschüttelt, nicht gerührt
Kritik |
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Harald Martenstein
Gefühlte Nähe
Roman
C. Bertelsmann, August 2010
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Vor allem ZEITmagazin-Lesern wird der Name Harald Martenstein untrennbar mit beißend-absurden Kolumnen hintergründigen Humors verbunden sein; nun legt er seinen zweiten Roman vor, mit welchem sich sein Rang als ernstzunehmender Autor endgültig gefestigt haben dürfte.
Über dreiundzwanzig Kapitel unterschiedlichster Machart und Tonlage breitet der Roman eine Chronologie eines halben Menschen- und insbesondere Liebeslebens aus; über jenes der N., wie die Protagonistin durchgehend verknappt genannt wird. N. als lolitahafte Schülerin, die sich zu Beginn der Geschichte ihren Deutschlehrer während einer Klassenfahrt als ersten Liebhaber auserwählt, der mit seinem Tabubruch nicht fertig wird und schließlich – genauso wie N. selbst – die Schule wechselt. Zurück bleiben enttäuschte Nebenbuhler und der nunmehr eröffnete Raum für eine Jahrzehnte umfassende Geschichte um Nähe, Verletzlichkeit, Abweisung und Distanz.
Dabei ist es niemals N. selbst, die der Autor zu Wort kommen lässt. Jedes der dreiundzwanzig Kapitel beleuchtet die kurze Phase im Leben verschiedenster Männer, in der N. für Gefühlsturbulenzen sorgt. Viele der Charaktere sind in späteren Kapiteln am Rande oder auch zentral plötzlich wieder da, haben Karriere gemacht, sind verunglückt, kriminell geworden beziehungsweise von der Halbwelt direkt in die Politik aufgetaucht, haben aber in jedem Fall einen Einschnitt in N.s Leben hinterlassen. N., deren Existenz die männlichen Lebensabschnitte einem roten Faden gleich miteinander verknüpft, bleibt dabei durchgehend ungreifbar und rätselhaft, entsprechend ihren unsteten Beziehungsauffassungen. Allenfalls wird ihre Figur umrissen, blitzen für Momente nachvollziehbare Gründe für das eine oder andere Motiv ihrer Flucht auf.
Denn es ist immer Flucht, die N. von Einem zum Nächsten treibt und die ihr privates Glück scheinbar unmöglich macht. Dabei muss N. die Erfahrung machen, dass äußerliche Reize vergänglich, ihre innere Leere dafür dauerhaft ist. Der zeitliche Rahmen der Geschichte reicht von den späten Sechzigerjahren mit dem Aufkommen des Hippie-Kults, Antikriegsdemos und freier Liebe bis hinein ins unmittelbare Heute – mit dem letzten Kapitel vielleicht sogar in eine sehr nahe und beklemmende Zukunft. Der Leser begleitet – von der Fremdperspektive der verschiedenen, mal Ich-erzählenden, mal personalen Erzähler geführt – ein kontinuierlich anwachsendes, sich stetig verdichtendes Ensemble männlicher Perspektiven(-losigkeit) beim Erwachsenwerden. Sei es die Unbeschwertheit der Siebzigerjahre, die aufkeimende Panik vor Aids in den Achtzigern, der Berliner Mauerfall oder das Aufkommen sinnentleerter Fernsehtalkshows bis hin zur selbstverständlichen Benutzung von Handy und iPod, Martenstein entwickelt seine Geschichte immer hautnah am Puls der jeweiligen Zeit.
Und das tut er höchst unterhaltsam. Wer allerdings ein satirisches Feuerwerk erwartet, wird enttäuscht werden. Ein Gutteil des Humors in diesem Roman entsteht durch aberwitzige Wendungen auf der Handlungsebene sowie durch den sich kapitelweise verändernden Duktus, der von beleidigt hin zu melancholisch oder aggressiv immer gekonnt die (häufig vermauerte) männliche Sichtweise widerspiegelt. So lässt der Autor einen frühen Liebhaber und Langweiler in einem Brief an N. von der Zeit schwärmen, in der „uns beiden nichts mehr einfällt und wir beide nichts mehr sagen, sondern nur noch dem anderen beim Atmen zuhören.“ Andere kleine Tragödien verschieben sich in ihrer Gewichtigkeit, sobald ein dritter sie erzählt, und weisen den Liebeskampf des einen relativiert durch die Schilderungen des anderen als bloße Plattitüde aus. Oberflächlichkeit also, die zwischen N. und ihren Liebhabern hin und her pendelt und durch deren Beschreibung die Tiefe der darunter liegenden Ängste sichtbar gemacht wird. Vor allem in dieser Hinsicht beeindruckt die Psychologie des Romans. Zwischendurch wird auch große Literatur zitiert. Analog zu Kleists „Marquise von O.“, die schon im Anfangskapitel lapidar erwähnt wird, kommt es dann auch an der gealterten, komatös betrunken gemachten N. zu einer Vergewaltigung. Der Täter wird später zu ihrem „Retter“, indem er der mittlerweile arbeitslosen Trinkerin Kur und Kunstgalerie zinslos vorfinanziert – aus für N. gänzlich nicht nachvollziehbaren Gründen.
In unpathetischem Ton erzählt und frei von Klischees entwirft Martenstein ein aus zahlreichen originellen Charakterstudien sorgfältig komponiertes Beziehungsgeflecht, das als Roman mindestens so gut funktioniert wie Daniel Kehlmanns ähnlich gebauter „Ruhm“ (2009), allerdings ungleich näher an einer nachvollziehbaren Form von Erlebbarkeit, und ohne schlussendlich auf Phantastik verzichten zu müssen.
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