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Ellen Wesemüllers
Können Arbeiter meine Gedichte verstehen oder bin ich ein Arbeiter?
Essay |
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I. Im Hasenzüchterverein
II. Eine Lehr-Stelle
III. Auf dem Beifahrersitz des Baggers
IV Können Arbeiter meine Gedichte verstehen oder bin ich ein Arbeiter?
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Literarische Texte als politisch zu begreifen, wenn sie die sogenannte Arbeiterrealität aufgreifen und verarbeiten, war eine der prominentesten Thesen zur Literatur des 20. Jahrhunderts.
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I. Im Hasenzüchterverein
Seitdem ich literarisch schreibe, sagen andere in Werkstätten über meine Texte, sie seien „pädagogisch“. Manchmal wird auch in die Schatztruhe der weniger wissenschaftlichen Worte gegriffen und das nach DDR oder linoleumverklebten Heimfluren riechende „erzieherisch“ herausgezogen. Ich müsse aufpassen, dass mein Romanprojekt nicht „zum Bildungsroman verkomme“, sagt man mir in den Seminaren, manchmal bemüht sogar jemand das Fremdwort „didaktisch“.
Meine Texte seien „zu intellektuell“, „zu thesenhaft“ „zu reflektierend“, ich sei „programmatisch zu verplant“ und „ideologisch“, ich versuche, den Leser zu „überreden“, sei „suggestiv“ und gegenüber meinen Figuren „denunziatorisch“.
Wenn es jemand mal gut mit mir meint, nennt er meine literarischen Texte, den Essay Sartres „Qu'est-ce que la litérature?“ zitierend: engagiert. Ich fühle ich mich dadurch nicht geehrt, sondern jedes Mal so, als schriebe ich in der gleichen Absicht, in der man einem Hasenzüchterverein vorsitzt, für Ökostrom wirbt oder Neuköllner Unterschichtskindern Nachhilfe im Fach „Ethik“ gibt. Es stellt sich kein Stolz ein, sondern Scham und ich merke, dass dem Wort „engagiert“ anders als zu Sartres Zeiten nicht der emanzipatorische Kampf, sondern der gutmenschelnde Krampf, meinen Texten doch noch etwas Positives abzugewinnen, anzumerken ist. Ich kann mich nicht des Gedankens erwehren, dass dieses Ringen einer Art repressiven Toleranz gleicht, die milde lächelnd Anerkennung heuchelt, um sich dann unauffällig abzuwenden und die Schublade mit mir und meinem Text darin mit einem sanften Schubs zuzuschlagen.
Diese Adjektive, die ich in die oberste Ecke der Blätter meines Notizbuchs schreibe, unter die imaginierte Rubrik „Kritik, die ich nicht verstehe“, beschäftigen mich, sie lassen mich nicht in Ruhe. Ich kann die Ablehnung, die in ihnen zum Ausdruck kommt, nicht einordnen, ich kann sie nicht verarbeiten, nicht einarbeiten in meine Texte, weil ich überhaupt nicht weiß, was pädagogische oder didaktische oder ideologische Literatur sein soll.
Wenn ich schreibe, dann, um etwas über Menschen in sozialen Beziehungen zu sagen, die sie zurichten oder die sie retten, über ihre Alltage, in die sie verstrickt sind. Ich beobachte, ich schreibe auf, nicht, um meine Zeit totzuschlagen, nicht, um mit meinem Leben klar zu kommen, sondern damit andere Leute das, was ich zu sagen habe, lesen, und zwar möglichst viel von denen, daran riechen, etwas fühlen, danach denken (nachdenken!) über die Welt, in der sie leben. Ich forme und formuliere darüber, wie die Dinge zusammenhängen, Thesen, von denen ich erstmal annehmen muss, dass sie richtig sind, sonst könnte ich mich selbst nicht ernst nehmen. Ich hoffe so, etwas beitragen zu können zu Welterkennungsmethoden, zu Wahrheitsfindungsstrategien, zu Glücksfang und Unglücksbekämpfung, etwas auszusagen über gesellschaftlich Wahrscheinlichkeiten und Unwahrscheinlichkeiten, über Widerstand und die Lücken im System. Nicht zuletzt beizutragen zu meiner eigenen Erkenntnis, über die Revision meiner Gedanken durch andere, über die Widerlegung durch erfahrene Praxis, um zu neuen Erkenntnissen zu kommen, die dann im nächsten Text münden.
Wäre das nicht so, mir käme der Sinn von Literatur abhanden.
II. Eine Lehr-Stelle
Seiner Definition nach, so heißt es manchmal, sei der Essay ein Textwerk „ohne Belehrung“. In Übereinstimmung mit meiner beschriebenen Erfahrungen und eingeordnet in das Bewertungssystem diverser Glamour-Magazine stelle ich fest: Belehren lassen, auch eines Besseren, ist out. Die Vorsilbe „Be-“ klingt an Bevormundung, erinnert an Gängelung und Passivität, das Suffix „-ung“ klingt nach Vereinheitlichung, verwandt mit Engstirnigkeit und Dogma. Auf der In Liste hingegen lässt sich im Umkehrschluss verzeichnen: die literarische Verarbeitung von Welt zum Zweck der aktiven, emotionalen Teilhabe am Gefühlsleben anderer, die mitnehmen, bewegen, ja erschüttern kann, aber schlechte Laune möchte man davon nicht bekommen.
Keine Thesen, sondern Lust. Keine Erkenntnis, sondern Einfühlung und Identifikation.
Und zwischen „Be-“ und „-ung“: die „-lehr-“-Stelle, die sich als Leerstelle ausstellt. Denn dass die Abwertung über das Wortfeld „Lehre“ von den Institutionen des Bildungsbürgertums selbst kommt, einer Schicht also, die die Bildung sogar im Namen trägt, der die Lehre von der Lehre somit inhärent ist – Literaturinstitute, Textwerkstätten, Feuilletons, Literaturzeitschriften –, bleibt ungesagt.
„Wer ist denn hier belehrend?“, könnte man also zurückrufen. „Ist nicht das ständige Belehren, nicht belehrend sein zu dürfen, überhaupt das Belehrenste von allen?“
Weil das aber niemand ruft, bildet sich ein Paradox. Bildung wird einerseits im kollektiven Gedächtnis als „gut“ abgespeichert. Außer Acht bleibt dabei die Frage: Wer bildet wen, worüber und zu welchem Zweck? Andererseits wird eine künstliche Wand eingezogen – vielleicht gerade, um nicht an den Klassencharakter der Bildung, an die Scheinfreiheit des Geistes erinnert zu werden – die die „Belehrung“ von der Lehre trennt und abwertet: Bildung ja, Belehrung nein.
Dabei gibt es einen inneren Widerspruch, auf den schon Adorno hinwies: Die geistige Freiheit, an die der Essay mahnt, wird selbst unfrei, wenn sie dem Willen des gesellschaftlichen Bedürfnises nach Kundenschaft folgt. Und wonach sonst, wenn nicht nach Kundenschaft, sollte sich ein Essay richten, der gelesen, der publiziert werden möchte?
III. Auf dem Beifahrersitz des Baggers
Noch nie hat jemand augenbrauenhochziehend, leicht kopfschüttelnd und schwer einatmend über einen meiner Texte gesagt: Dein Text ist zu politisch.
Vielleicht sind meine Texte auch gar nicht politisch. Vielleicht aber, so denke ich, kommt dieses Adjektiv nur nicht über die Lippen, weil sich niemand zutraut zu sagen, was politische Literatur eigentlich sein soll. Das ist umso erstaunlicher, als dass in Zeiten der Krise eines finanzmarktdominierten Kapitalismus' gleichzeitig offen bekundet wird, man sei auf der Suche nach Erklärung und Bedeutung und verspüre eine Sehnsucht nach politischen Texten, die sich nicht zuletzt an Schriftsteller heftet.
Man könnte nun auf diese, in krisenhafter Regelmäßigkeit wiederkehrende Frage, was ein politischer Text sei, antworten: Geht in die Jobcenter dieses Landes, stellt euch an der Schlange an, befragt den Menschen vor und den Menschen hinter euch und schreibt darüber! Aber anscheinend ist das schwer. Und anscheinend geht das so auch nicht.
Literarische Texte als politisch zu begreifen, wenn sie die sogenannte Arbeiterrealität aufgreifen und verarbeiten, war eine der prominentesten Thesen zur Literatur des 20. Jahrhunderts. Hier ist das Subjekt der Ausbeutung zu finden, so die Überlegung, hier formiert sich der Widerstand gegen dieselbige, darüber zu schreiben bedeutet, politisch zu schreiben.
So einfach und plausibel das klang, so wenig war klar, welche Praxis daraus zu folgen hatte. Schon in der Weimarer Republik stritten sich links-intellektuelle Bildungsbürger mit Arbeitern im Bund proletarisch- revolutionärer Schriftsteller darüber, ob Erstere über Letztere authentisch schreiben könnten und ob andererseits Letztere, die über sich selbst schrieben, die Arbeiter, überhaupt zum literarischen, das hieß: ästhetischen Schreiben in der Lage wären.
In der DDR wurden die Arbeiter konsequenter Weise nicht mehr als Subjekte der Ausbeutung angesehen und dennoch zählte die Arbeiterbeobachtung durch Schriftsteller zum guten Ton. So musste etwa jeder Student des Johannes-R.-Becher-Instituts in Leipzig ein Praktikum in einem Betrieb absolvieren. Am Rührendsten und zugleich Tragischsten ist das Scheitern dieser Idee nachzulesen beim Absolventen Ronald M. Schernikau, der sich in „Tage in L.“ Gedanken über die Wirkung seiner extravaganten Schuhe auf die Genossen macht, während er sich auf dem Beifahrersitz des Baggers im Braunkohletagebau unendlich nutzlos vorkommt. Einen besseren Beweis für anthropologische Zoologie, für literarischen Klassen-Tourismus, für das Nicht-Eins-Sein der unterschiedlichen Milieus im Arbeiter- und Bauernstaat gibt es nicht.
Aus dieser notwendigen historischen Erfahrung heraus ist nur niemand schlau geworden. Die einzige Konsequenz ist der Umkehrschluss, heute partout nicht mehr auf die Straße, in die Fabrik, auf die Ämter gehen zu müssen, sondern die Frage nach politischer Literatur ausschließlich auf Podien zu heben und in Zeitschriften zu behandeln.
Das ist umso absurder, als dass sich die politischen Ereignisse zu überschlagen scheinen, die man versuchen könnte, zu beschreiben, einzufangen und weiterzutreiben: den arabische Frühling, die Anti-Atom-Bewegung in Japan, die Occupy-Bewegung, die Generalstreiks in Spanien und Griechenland, die Riots und Plünderungen in England.
Anderswo ist jedoch nicht hier. Denn während die Occupisten aus New York auch hierzulande begeistert rezipiert werden, inklusive ihrer essayistischen Verarbeitung, findet jeder die Occupy-Bewegung in Deutschland irgendwie niedlich.
Das hat sicherlich etwas mit denjenigen zu tun, die sich hierzulande unter dem Label Occupy versammeln. Das hat zu tun mit der Lethargie und Ideenlosigkeit aller, die sich nicht versammeln. Vor allem aber hat es damit zu tun, dass sich keiner vorstellen kann, dass hier wirklich einmal etwas völlig Neues passieren könnte.
So werden sich umgekehrt proportional viele Gedanken über politische Literatur gemacht, wie sich nichts tut. Getreu dem Motto: Sagen kann man alles, nur machen kann man nichts.
Dass es politische Literatur trotzdem geben kann, ist dabei richtig und falsch zugleich. Jeder Text beschreibt Gesellschaft und macht damit einen mehr oder minder offensiven Vorschlag, welcher Natur gesellschaftliche Konflikte sind, ob und wie man sie lösen kann. Da unterscheidet sich Judith Hermanns Zu-zweit-auf-dem-Boden-Mitgebrachtes-vom-Chinesen-essen nicht von Dietmar Daths Cyborg-Visionen, in denen drei Verliebte im Körper der jeweils anderen leben. Beide Gesellschaftsporträts sind politisch, das eine romantisch-konservativ, das andere zukunftsweisend-kommunistisch.
Richtig ist, dass Literatur nicht politisch sein kann, wenn sie keine Auswirkungen auf die Welt hat und sich deren Verfasser in keiner sozialen Praxis verankert sehen, die „Leben“ heißt, die „Politik“ ist. Und das sehen eben nicht alle so.
IV Können Arbeiter meine Gedichte verstehen oder bin ich ein Arbeiter?
Dem Gedanken der „politischen Literatur“ liegen zwei wesentlich unrichtige, da nicht-dialektische Dichotomien zu Grunde: Zwischen Leben und Schreiben, zwischen Produktionsprozess und Produkt.
So titelte DIE ZEIT in einer Literaturausgabe: „Wie leben die Schriftsteller? Leben sie überhaupt oder schreiben sie nur?“ Sie fragt die Schreibenden: „Stört das Leben Sie beim Schreiben?“
Bei solchen Titeln frage ich mich, ob die Journalisten nicht wissen oder absichtlich verschweigen, dass die wichtigsten (nicht nur deutschen) Literaten im vergangenen Jahrhundert neben dem Kindergroßziehen auch lohnarbeiten mussten, des Weiteren aktive Mitglieder in der Kommunistischen Partei waren, nebenbei gegen den Nationalsozialismus in Deutschland und – nach der Flucht, weil es eben geboten war – gegen den Faschismus in Spanien kämpften, zwischendurch im Gefängnis saßen und manchmal sogar im Konzentrationslager.
Doch nicht nur Journalisten, auch Schriftsteller bedienen das Klischee vom schreibenden anstatt lebenden Menschen. So erzählt Marguerite Duras in ihrem poetologischen Essayband „Schreiben“, dass sie nur isoliert literarische Texte verfassen könne, währenddessen keine Liebesbeziehungen sondern allerhöchstens Affären zu führen in der Lage wäre und niemals ihre unveröffentlichten Manuskripte herzeigen würde, um sie mit jemandem zu besprechen.
Wenn man so „lebt“, schreiben sich Romane sicherlich schneller zu Ende. Doch gibt es nicht Umstände, die erfordern, etwas anderes zu tun, als einen Roman schnell zu Ende zu schreiben: Eine Beziehung zu erhalten? Vielleicht. Ein Kind zu bekommen? Sicher. Ein Haus mit anderen zu bewohnen? Kommt vor. Aber eine Revolution voranzutreiben? Das erscheint dann doch ein bisschen zu zeitaufwändig.
Die Trennung von Leben und Schreiben ist zwar „falsch“, entspricht aber einem „wahren“ Bedürfnis, das wiederum der krisenhaften Realität entspringt, der man entfliehen, von der man nicht Teil sein möchte. Auch ich habe mit dem Schreiben angefangen, weil ich fälschlicher Weise annahm, es sei keine Arbeit. Doch das Romanschreiben ist Arbeit und nicht, wie gehofft, Nichtarbeit. Es ist nicht nur nicht Nichtarbeit, manchmal denke ich sogar, dass Künstler Selbstregierungspraktiken einüben, die später in anderen Bereichen genutzt werden können: Wir üben, unsere Arbeit nicht als Arbeit zu bezeichnen, sondern als Lust und wenn sie uns mal keinen Spaß macht, sind wir selbst Schuld. Wir üben, nicht bezahlt zu werden für das, was wir tun, nicht für unsere Textveröffentlichungen, Lesungen oder Vorträge, kaum bezahlt zu werden für unsere Buch-Publikationen. Wir üben, uns ständig selbst zu aktivieren, unsere stärksten Kritikerinnen zu sein, uns den Wecker freiwillig zu stellen, ihn auch am Samstag und Sonntag nicht auszuschalten, Timelines aufzuhängen, Zielvorgaben zu erarbeiten, zu netzwerken, uns auf Stipendien, Wettbewerbe, Preise und Aufenthalte zu bewerben und uns so nebenbei unsere eigene Finanzierungsgrundlage zu schaffen, dann doch wieder zu lohnarbeiten, weil das alles nicht geklappt hat, weil wir zu viele waren. Dann gehen wir „richtig“ arbeiten, wie wir sagen. All das sind Gebrauchsanleitungen für die Betriebe von morgen, oder besser: Wir sind die Betriebe von morgen. Und morgen ist heute.
Und obwohl ich mache, was ich will und es sich eigentlich nicht nach Arbeit anfühlen sollte, fühle ich mich leer und durcheinander und aufgebraucht, werte mich ständig selbst aus und auf und ab und wieder auf und die anderen mit ihrer Kritik machen mit, machen vor, und die meisten meinen es gut mit mir, damit ich schonmal üben kann, damit ich vorbereitet bin, weil die Kritik spätestens in den Feuilleton-Rezensionen steht.
Manchmal hätte ich dann gerne eine Lochkarte und eine Kantine, wie mein Vater sie gehabt hat, dann würde ich jeden Tag die Kantinenfrau mit Namen begrüßen und sie mich, und mein Zug führe immer dann und dann nach Hause und um die Kinder könnte ich mich so leider gar nicht kümmern.
Aber ich habe keine Lochkarte und keine Kantine, ich habe noch nicht einmal ein Büro. Ich habe auch keine Kinder und an dem Ort, an dem ich wohne, ist niemand und wenn ich nicht dort bin, stört es nicht weiter und ich kann mich immer um alles kümmern.
In der Idee von „politischer Literatur“ gibt es die Vorstellung eines „politischen“ Schreibens, ohne dass es ein „politisches“ Arbeiten, ein „politisches“ Leben geben müsste. Das ist absurd, würde man doch einer Kassiererin kein „politisches Kassieren“, einem Maurer kein „politisches Mauern“ und einem Postbankangestellten kein „politisches Kontoeröffnen“ unterstellen, würde er nicht an seinem Arbeitsplatz selbst politisch agieren, das heißt, sein Schicksal als kein Schicksal zu begreifen, seine Interessen am Arbeitsplatz erkennen und erkämpfen, sich zu diesem Zweck mit anderen zusammenschließen.
Genau das ist jedoch mit „politischem Schreiben“ nie gemeint. Gemeint ist die Sprache, vielleicht noch die Kommunikation über die Sprache, keinesfalls jedoch eine gemeinschaftliche Kooperation im Arbeitsprozess, das Handeln gegen die eigenen Arbeitsbedingungen.
Das mag daran liegen, dass die Vorstellung einer l'art pour l'art, die sich außerhalb jeder gesellschaftlichen Bedingungen imaginiert, die den Künstler als Künstler und nicht als Arbeiter sieht, über ein Jahrhundert nach ihrer Entstehung immer noch virulent ist.
Bisher liefen jedenfalls meine Versuche, einmal einen Text zusammen mit anderen zu verfassen, ins Leere. Frage ich in die Runde, lächeln die Menschen milde, dann wechseln sie elegant das Thema und ich merke es zu spät.
Das ist den Künstlern nicht anzulasten. Es ist eine Reaktion auf die Anerkennungsmechanismen des Literaturbetriebs, der Würdigungen nur an Individuen vergibt. Die Autorenschaft muss dafür klar erkennbar, trennbar und einzeln bewertbar bleiben.
Das wäre alles sehr niederschmetternd, ließe sich nicht daraus ableiten, was zu tun ist: Kollaborieren, die eigenen Produktionsbedingungen hinterfragen, nicht mehr hinnehmen. Der Musiker und transgender-Aktivist Terre Thaemlitz sagt dazu: „Der ikonische, am Hungertuch nagende Künstler, der sich freiwillig ohne Lohn selbst verwirklicht, ist ein Streikbrecher, ohne dass er es weiß. Wenn Kulturindustrien zusammenbrechen, sobald wir angemessene Bezahlung für unsere Arbeit fordern, dann sei es eben so.“
Um festzustellen, was politische Literatur heute ist, um zu sagen, ob jemand politisch schreibt, kann die Frage heute nicht mehr lauten: Kann ich die Arbeiter verstehen? Noch: Können die Arbeiter meine Gedichte verstehen? Sondern: Bin ich ein Arbeiter?
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Ellen Wesemüller
Essay
Lyrik
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