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Ulrich Peltzer
Angefangen wird mittendrin. Frankfurter Poetikvorlesungen

Symptomleser der Welt
  Kritik
  Ulrich Peltzer
Angefangen wird mittendrin
Frankfurter Poetikvorlesungen
S. Fischer 2011
176 Seiten, 17,95 €


Zu schreiben anfangen – das kann ein Wagnis sein, denn wohin ein Text führen soll, steht zu Beginn nicht unbedingt fest. Ein Satz ist da, ein Sound vielleicht, eine Szene, von wo aus das Schreiben beginnt, von wo eine Bewegung in Gang gesetzt wird, deren Stationen und Ziele noch ungewiss sein mögen. Eine Schreibbewegung ins Offene, der man sich in dem Vertrauen anheim gibt, sie werde einen schon irgendwo hintragen, in Bezirke eines neuen Sinns. Solches Vertrauen ist umso wichtiger, je weniger dem Vorhaben ein Plot zugrunde liegt, in dessen narrativen Bahnen der Text einigermaßen sicher läuft. Der Plot aber ist das, was in der Moderne zum Problem geworden ist, die Erzählbarkeit der Welt, deren Zusammenhänge für den Einzelnen kaum noch herzustellen sind, und deren Hetero­gentität ihn herausfordert. Sich dieser litera­rischen Heraus­forderungen zu stellen bedeutet, die Fragmentation und Komplexität der Verhältnisse nicht durch die Kon­struktion eindeutiger narrativer Zusammenhänge rück­gängig machen zu wollen, sondern stattdessen für die allgemeinen Auflösungstendenzen eine Repräsentationsform zu finden – dies ließe sich als kleinster gemeinsamer Nenner moderner Programmatiken formulieren. In die Tradition dieser Moderne stellt sich Ulrich Peltzer mit seinen Frankfurter Poetik­vorlesungen, die er im Winter­semester 2010/11 gehalten hat und die kürzlich bei S. Fischer erschienen sind.

Den herausragenden Gewährsmann für eine solche Auffassung von Modernität erblickt Peltzer im Autor von Ulysses. Im Unterschied zu Joyce erfährt der heutige Schriftsteller die Beschleunigung und Atomi­sierung der Welt jedoch in exponen­tiellem Maße gesteigert. Darum kann das Stiften von Beziehungen nun, knapp hundert Jahre später, wieder als Angelegenheit des Schrei­benden erscheinen, selbst­verständlich in dem Bewusstsein wie fragil und offen jede narrative Konstruktion ist: „Denn das scheint mir heute eine, wenn nicht die Aufgabe zu sein: die Geschichte als Geschichte zu retten (wiederzufinden), indem man den Verhältnissen ihre eigene Fall- und Zer­falls­geschichte erzählt, weil anders sie zu überwinden nicht in der Macht des Künstlers liegt.“

Die Geschichte retten – das kann im Zeitalter der Globalisierung und vermeintlich totalen Medialisierung für Peltzer aber allenfalls ein „Tasten nach Zusammenhängen“ sein, das sich noch in der Syntax niederzuschlagen habe, in einem mäandernd suchenden Satz, der sich seiner Referenz nie sicher sein kann. Das Verhältnis des Texts zum Realen bleibt weiterhin brüchig.

Mit dem Realen ist ein zentraler Begriff moderner Lite­ratur­produktion markiert. Hinzu kommt ein zweiter: die Peripherie. Ein Begriff, der einen aus dem Zentrum hinaus­katapultiert. Das Zentrum, das ist der Ort der Macht, wo die herrschen­den Werte das Individuum zurichten, wo sich das Individuum gemäß den Anforderungen der Gesellschaft selbst in Form bringt. Freiheit, Selbst­bestimmung dagegen ist an den Rändern zu finden, wo sich Normen auflösen und der Zwang der Identität einer lustvollen, zweckfreien Bewegung weicht. Es sind diese Flucht­linien aus der Herrschaft des Codes, an denen sich die Literatur entlang schreibt. Als sprachliche Erkundung ins Offene, mit der sie von den Versuchen und dem Scheitern der Emanzipa­tionsbemühungen ihrer Helden erzählt, „aus der Perspektive der Peripherie über die Peripherie“.

Vor allem Autoren der angel­sächsi­schen Sprachwelt stehen dem Berliner Autor dabei nahe. Neben Joyce, auch Defoe, Gaddis oder Mark Twain, dessen Huckleberry Finn für ihn den Ausreißer par excellence darstellt, der auf Konventionen pfeift und sich auf seinem Floß den Strömungen des Missis­sippi ergibt, ein literarischer Nomade auf dem Weg Richtung Freiheit. Die Passagen über diesen „ersten Konquistador des Offenen“ zählen zu den spannendsten und schönsten des Bandes. Dabei macht es nicht den geringsten Wert der Vorlesungen aus, dass sich Peltzer durch seine Bezugnahmen auf andere Schriftsteller nicht bloß als historisch reflektierten Autor präsentiert, sondern mit seinen immer wieder emphatischen Beschrei­bungen (Huck Finn sollte man einmal im Jahr lesen!) macht er außerdem große Lust auf das Lesen selbst.

Freiheit in der Flucht – redet Peltzer einem Eskapismus das Wort? Das wäre zu einfach. Wenn er von Robinson schreibt, dass die Selbstbestimmung unter „obwaltenden Bedingungen nur zu haben ist, indem man sich verdünni­siert“, dann tut er das auch mit realistischem Blick auf die post-utopische Gegenwart, in der wenig revolu­tionäre Tendenzen auszumachen sind. Im Zeichen von Konsum und Media­lisierung bietet sie dagegen immer mehr eine bloße Scheinfreiheit.

Der Schriftsteller Peltzer jedenfalls verdünnisiert sich nicht. Wie schon der letzte Roman Teil der Lösung zeigen diese Vorlesungen einen Autor, der sich wie kaum ein anderer in der deutschen Gegenwarts­literatur thematisch und formal den Herausforderungen stellt, die eine längst unüberschaubare globale Welt dem Schreibenden abverlangt. Das geschieht in diesem Vorlesungsband teilweise mit nicht geringem begrifflichem Rüstzeug. Mehrmals tauchen die Namen der franzö­sischen Philosophen Foucault und Deleuze auf. Vor allem letzterer findet nicht nur terminologisch Eingang in diese Überlegungen zu „Deterritorialisierung“ und „minoritärer Sprache“, selbst sein Sprachduktus klingt stellenweise bei Peltzer durch. Das ist weniger eine stilistische Schwäche, als dass es vielmehr demonstriert, wie ein engagiertes Nach­denken über diese immer heteregonere Welt sprachlich nicht umhin kommt aus verschiedenen Diskursen zu schöpfen.

Denn fließend ist der Übergang in diesem Band zwischen Theorie und Literatur, Reflektion und Erzählung. So geht in der letzten der fünf Vorlesungen unversehens Poetologie in Poesie über, und der Leser befindet sich plötzlich mittendrin in Peltzers nächstem Romanprojekt.

„Schriftsteller“, schreibt Peltzer, „lesen die Symptome der Welt; selbst wenn sie nichts davon wissen wollen.“ Dass Ulrich Peltzer nicht nur lesen will, sondern tatsächlich Entzifferungs­arbeit leistet, beweisen diese Vorlesungen.

 

Felix Lampe    11.04.2011    Druckansicht  Zur Druckansicht - Schwarzweiß-Ansicht    Seite empfehlen  Diese Seite weiterempfehlen

 

 
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