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Hanna Sokolov-Amichai

Das Gespräch führte Amadé Esperer für die poetin
»Sie sind die Gedichte, die Sie schreiben, selbst!«
  Gespräch

Foto: privat
poetin nr. 27   externer Link

Die 25. poetin ist eine besondere poetin: Das Thema Autorschaft und Elternschaft wird nicht nur in Gesprächen und Essays behandelt, sondern spiegelt sich auch in den Prosa- und Lyrikbeiträgen wider.
Hanna Sokolov-Amichai wurde 1938 in Petach Tikvah (Tor der Hoffnung) geboren. Nach zweijährigem IDF-Dienst studierte sie an der Hebrä­ischen Universität in Jerusalem Literatur, hebräische und allgemeine Geschichte sowie Pädagogik. Von 1970 bis zu ihrer Emeritierung war sie Dozentin an der Pädagogischen Fakultät der Hebräischen Universität Jerusalem. 1962 lernte sie Jehuda Amichai kennen und heiratete ihn. Sie hat mit ihm die beiden Kinder David und Emanuela.


 

Amadé Esperer: Mich beeindruckt immer wieder, dass Jehuda Amichai, der in Würzburg als Ludwig Jehuda Pfeuffer geboren wurde und dort aufwuchs, später einer der bedeutendsten Lyriker hebräischer Sprache wurde. Wie kam es, dass Amichai, dessen Muttersprache Deutsch war, so versiert im Hebräischen wurde und in dieser Sprache solch fantastische Lyrik schreiben konnte?

 

Hanna Sokolov-Amichai: Amichai wurde ja in eine jüdisch-orthodoxe Familie hineingeboren und ging mit dem Vater schon sehr früh in die Synagoge. Dort begegnete ihm zum ersten Mal das Hebräisch der Bibel. Im jüdischen Kindergarten und später in der jüdischen Schule in Würzburg lernte er das Hebräisch, das sich durch die jüdische Aufklärung in Deutschland herausgebildet hatte. Als er dann mit zwölf Jahren nach Palästina kam, war das zwar ein guter Grundstock, aber man sprach dort in den jüdischen Gemeinden Neuhebräisch, das er rasch lernte.

 

A. Esperer: Soweit ich weiß, hat er auch später in Jerusalem, wohin die Familie 1947 gezogen war und wo Amichai die Hebräische Universität besuchte, nie aufgehört, mit seinen Eltern Deutsch zu sprechen, da sie wenig Hebräisch konnten. Er scheint auch immer auf dem Laufenden geblieben zu sein und hat ja Werke deutschsprachiger Autoren und Autorinnen ins Hebräische übersetzt.

 

H. Sokolov-Amichai: In Palästina sprach er natürlich hauptsächlich hebräisch, aber er vergaß sein Deutsch nicht. Er sprach es mit den Eltern und übersetzte 1960 einige Werke von Else-Lasker-Schüler, Hermann Hesse und Rolf Hochhuth. Er schrieb allerdings selbst wenig auf Deutsch, sprach es aber auch im Alter noch flüssig.

 

A. Esperer: Es gibt da eine Anekdote über den Besuch von Paul Celan in Jerusalem. Celan sollte eine Lesung geben, konnte aber zu wenig Hebräisch und bat daher Amichai, ihm bei der Übersetzung der vorzutragenden Gedichte zu helfen. Hanna, kannst du uns ein bisschen mehr über den Besuch von Celan bei euch erzählen?

 

H. Sokolov-Amichai: Paul Celan besuchte Israel und Jerusalem im Oktober 1969 auf Einladung der israelischen Autorenvereinigung. Es war sein erster und letzter Besuch in Israel. Er war extrem gut gestimmt und fühlte sich sichtlich wohl in Jerusalem. Er sagte, Jerusalem baue ihn auf, während Paris, wo er damals lebte, ihn »herunterziehe«. Er hatte viele Pläne und nichts deutete daraufhin, dass er knapp sieben Monate später Selbstmord begehen würde. Celan war damals 49 Jahre alt, etwas füllig von Gestalt, mit hoher Stirn, dunklen Augen und lebhaften Bewegungen. Wenn er sprach, waren seine sinnlichen Lippen sehr ausdruckstark.


Jehuda Amichai (Foto: privat)


 Als er ankam, fand ein erstes Treffen in Jerusalem statt, dem einige junge Leute aus Czernowitz, Celans Geburtsstadt, und zahlreiche Literaten teilnahmen. Darunter die Lyriker Jehuda Amichai, Dan Pagis und T. Carmi sowie der Autor Aharon Appelfeld und die Übersetzer Manfred Winkler sowie der Herausgeber Shmuel Huppert. Huppert wollte Celan am an­deren Tag interviewen. Celan stimmte unter der Bedingung zu, dass das Interview bei uns zu Hause zusammen mit Jehuda stattfand. Am 8. Oktober erschien dann Celan sehr früh und wartete mit uns in der Küche auf Huppert. Das Interview fand dann auch in unserer Küche auf Deutsch statt. Celan antwortete auf Hupperts und Amichais Fragen rasch und sehr überlegt. Er erzählte, dass er als Kind Hebräisch gelernt hatte und sich noch an einige Gebete erinnerte, die er von seinen Eltern und Großeltern gelernt hatte. Aber er konnte seine Gedichte nicht ohne Hilfe ins Hebrä­ische übersetzten. Er las aus seinem Band »Niemandsrose«, der 1963 herausgekommen war, das Gedicht »Mandorla«. Amichai fragte ihn unter anderem auch nach der »Todesfuge«, worauf Celan sagte, die »Todesfuge« gehöre einer früheren Periode an. Er bedauerte, dass man immer die »Todesfuge« hören wolle und keine anderen Ge­dichte von ihm kenne. Amichai und Huppert übersetzten das Interview anschließend ins Hebräische, wobei Celan von Zeit zu Zeit geistreiche Kommentare zu einzelnen hebräischen Begriffen gab.
  Am nächsten Abend fand dann Celans öffentliche Lesung im überfüllten Agron Haus statt. Viele junge Leute, meist Studenten, waren erschienen, aber auch namhafte Dichter wie Gershom Sholem, Leah Goldberg und der Haartz-Herausgeber Gershom Schocken. Winkler, der wie Celan aus Czernowitz stammte, eröffnete die Lesung, und Amichai gab eine Einführung in Celans lyrische Sprache, bevor Celan dann seine Gedichte las.
  Zwei Monate später erhielt Amichai einen Brief von Celan aus Paris, in dem er sich überschwänglich über das Zusammentreffen mit Amichai äußerte. Er schrieb, dass ihn Amichais Gedichte stark beeindruckt hätten und dass er vor allem deren Authentizität möge. Wörtlich: »Sie sind die Gedichte, die Sie schreiben, selbst.«
  Amichai schrieb ihm zurück und gab seiner Freude Ausdruck, wie sehr ihm Celans Besuch und Gedichte gefallen hätten. Ich zitiere: »Sie haben wirklich einen großen Eindruck auf mich gemacht. Lieber Paul Celan, ich beneide, wie Sie in ihrer Sprachkunst aus Wörtern und Bildern etwas Objektives machen, und alles im Dienst größtmöglicher Subjektivität. Meine Dichtung, die in der Realität verankert ist und pragmatisch von den Ereignissen diktiert wird, beneidet Ihre Dichtung. Meine Bilder sind nur das Rasseln von Ketten, die mich an die Lebensereignisse fesseln«.

 

A. Esperer: Das war sicher ein großartiges Zusammentreffen zwischen diesen beiden großen Lyrikern, die sich offenbar sehr schätzten. Ich kann mir gut vorstellen, dass ein für uns Heutige hochinteressanter Briefwechsel entstanden wäre, hätte Celan weitergelebt. Amichai hat vom Tod Celans während eines Aufenthaltes in London erfahren und das kurze Gedicht »Tod von Paul Celan« geschrieben, wo es in der letzten Zeile heißt: »Ein letztes Bild / Leben ist wie der Tod / (Dasselbe Wasser, Wasser, Wasser)«. Man merkt der Lakonie dieses Gedichts an, wie sprachlos Celans Tod Amichai gemacht haben muss.

 

H. Sokolov-Amichai: Er schrieb noch ein längeres Gedicht über Celan. Es ist Teil des Langgedichts »Namen, Namen, an anderen Tagen und in unserer Zeit«, das im letzten Band »Offen Verschlossen Offen« enthalten ist.

 

A. Esperer: Interessant, dass er über Celan zwei Gedichte geschrieben hat. Über Leah Goldberg, die er auch sehr bewunderte und als seine Lehrerin bezeichnete, hat er zum Beispiel nur eins geschrieben.

 

H. Sokolov-Amichai: Nun, Amichai hat auch noch über andere Lyriker, die er kannte, Gedichte geschrieben.

 

A. Esperer: Ja, mir fällt das schöne Gedicht ein über Takis Sinopolis, den griechischen Lyriker. Amichai vergleicht darin Sinopolis mit Odysseus: »Er ist nach außen ein Dichter, im Inneren ein Arzt / Ich weiß, selbst wenn er nicht das Meer ist / ist er doch Odysseus …«.

 

H. Sokolov-Amichai: Ja. Aber er hat auch Gedichte über Dichter ge­schrieben, die vor langer Zeit lebten, wie Jehuda Halevi oder Ibn Gabirol, deren Lyrik ihn beeindruckte. Und er hat auch dem berühmten jüdischen Gelehrten und Weltreisenden Benjamin von Tudela ein literarisches Denkmal gesetzt.

 

A. Esperer: Du spielst auf das lange Gedicht »Reisen des letzten Benjamin von Tudela« an.

 

H. Sokolov-Amichai: Genau. Hier benutzt Amichai den historischen Benjamin von Tudela als lyrisches Alter Ego, der über sein Leben vor dem Hintergrund der Ereignisse des Zwanzigsten Jahrhunderts berichtet.

 

A. Esperer: »Die Reisen des letzten Benjamin von Tudela« gehören zu meinen absoluten Lieblingsgedichten, denn hier benutzt Amichai stilistisch nicht nur eine Art magischen Realismus, sondern verleiht dem Gedicht durch Alliteration, Assonanz und Wortspielereien eine außerordentliche Klanggestalt. Es wurde in dem Band »Nun im Aufruhr« veröffentlicht, der damals, 1968, stark kritisiert wurde. Einige Kritiker warfen Amichai sogar vor, ein post-zionistischer Dichter zu sein.

 

H. Sokolov-Amichai: Amichai kann man nicht als post-zionistischen Autor ansehen. Obwohl er sich oft kritisch geäußert hat, geschah dies immer innerhalb des zionistischen Diskurses.

 

A. Esperer: Wie ist die gegenwärtige Rezeption von Amichai in Israel?

 

H. Sokolov-Amichai: Amichai ist immer noch sehr beliebt und wird oft zitiert. Ich verfolge Google-Alert und erhalte fast täglich aus aller Welt Mitteilungen, dass irgendwo aus seinen Gedichten zitiert wurde.

 

A. Esperer: Hat sich die Rezeption von Amichais Werk in den letzten Jahren in Israel verändert

 

H. Sokolov-Amichai: Nein. Amichai gilt noch immer als derjenige, der die moderne hebräische Literatur revolutioniert hat und als bekanntester israelischer Dichter.

 

A. Esperer: Daran hat sich auch Seit seinem Tod 2000 nichts geändert?

 

H. Sokolov-Amichai: Nein.

 

A. Esperer: Enthalten die israelischen Schulbücher noch immer Amichai-Gedichte? Gehört sein Werk noch immer zum Curriculum der Literaturwissenschaft?

 

H. Sokolov-Amichai: Ja. Allerdings in der Schule weniger, da dort die Unterrichtszeit in Literatur in letzter Zeit stark gekürt wurde.

 

A. Esperer: Schätzt man in Israel Amichais Lyrik mehr als seine Prosa?

 

H. Sokolov-Amichai: Seine Lyrik ist besser bekannt. Sein erster Roman war seinerzeit sehr innovativ und wurde gemischt aufgenommen. Er hat ihn in einem fantastisch-realistischen Stil geschrieben, den Jahre später auch Gabriel García Márques in seinem Roman »Hundert Jahre Einsamkeit« verwendet hat.

 

A. Esperer: Hanna, ich habe jetzt noch eine Frage zu Jona Wallach, die ja eine zeitgenössische Kollegin von Jehuda Amichai war. Hatten die beiden Kontakt, tauschten sie poetische Themen mit einander aus? Haben sie sich gegenseitig inspiriert? Ich habe neulich das Gedicht » (Gebetsriemen)« von Jana Wallach übersetzt und dabei starke Parallelen zu einigen Gedichten von Amichai gefunden. Mir fällt da etwa sein Gedicht »Geradewegs aus deinem Vorurteil « ein, in dem Amichai neben anderen religiösen Anspielungen auch die Gebetsriemen in einem hocherotischen Kontext quasi verfremdend verwendet.

 

H. Sokolov-Amichai: Amichai hatte keine Verbindung zu Jona Wallach. Er hat diese Gedichte, in denen er die Gebetriemen und Ähnliches in einem erotischen Zusammenhang benutzt, völlig unabhängig von Wallach ge­schrieben. In Wahrheit ist es gerade andersherum, Wallach hat, wie die ganze Generation jüngerer Autoren (m/w) auch, viele Dinge von Amichai aufgegriffen.

 

A. Esperer: Es gibt in Israel einen Amichai-Preis. Was hat es damit auf sich?

 

H. Sokolov-Amichai: Der Amichai-Preis wird an Lyriker verliehen, die auf Hebräisch schreiben. Es ist der wichtigste israelische Literaturpreis.

 

A. Esperer: Liebe Hanna, vielen Dank für das interessante Gespräch.
  Dieses Gespräch
und weitere Gespräche
zur deutschen und hebräischen Literatur
in poetin nr. 27

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Hanna Sokolov-Amichai / Amadé Esperer
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