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Matthias Kehle
Die letzte Nacht

Der verschluckte Fußball
  Kritik
  Matthias Kehle
Die letzte Nacht
Erzählungen
Lindemanns Verlag 2015
160 Seiten, 14,80 Euro


Das Buch ist die Einlösung eines Versprechens. Als er wieder einmal die Gräber von Angehörigen auf dem Friedhof in Ettlingen bei Karlsruhe besuchte, fragte sich der Lyriker und Erzähler Matthias Kehle, was er über die Verstorbenen eigentlich wisse – was von ihrem Leben geblieben sei. Außer materiellen Hinterlassenschaften wenig bis nichts, wurde ihm dabei deutlich. Ein guter Grund für den heiligen Vorsatz, ihre Geschichte(n) zu erzählen.
  Und so sind die elf Erzählungen von Die letzte Nacht insgeheim zugleich Epitaphe, Grabinschriften. Auf wenigen Seiten setzen sie den Verstorbenen ein Denkmal, überliefern ihren Charakter, ihre geistige Physiognomie – freilich ohne darüber im einen oder anderen Fall die physische Erscheinung zu vernachlässigen. Seinen kugelrunden Bauch etwa erklärt Onkel Willi im Freibad einem neugierigen Knirps damit, dass er einen Fußball verschluckt habe.
  Sein Neffe, Autor und Icherzähler der köstlich-kernigen Auftaktgeschichte, ist da selbst noch ein Kind. Ihm erzählt der Onkel von seinen Erfahrungen in französischer Kriegsgefangenschaft; ihm gibt er weit vorausblickend schon mal Tipps für das richtige, Erfolg versprechende Verhalten gegenüber Frauen. Und erteilt ihm darüber hinaus ungebeten hechelnden Schwimmunterricht. In den wenigen Seiten scheint eine ganze Zeit auf, ein Lebensgefühl: das der Kindheit und Jugend derer, die wie Kehle, Jahrgang 1967, heute um die fünfzig sind.
  Es liegt in der Natur der Sache, dass wir nicht nur dem Onkel, sondern auch anderen Verstorbenen gleich in mehreren Geschichten begegnen. Dem geliebten Vater zum Beispiel nicht nur in Diaabend, wo sich der kleine Matthias heimlich in ein Foto – genauer: die Nebensitzerin seiner Schwester auf dem an die Wand projizierten Dia von der Konfirmation – verliebt hat und somit der Vater immer wieder zu Vorführungen animiert werden muss.
  Die Geschichten handeln von der geheimnisvollen Nachbarin Frau Martuljek; von Tante Martha, die hoch betagt in die Staaten auswanderte; oder von Tante Wiltrud, die Jahrzehnte lang ans Bett gefesselt war und dem Neffen irgendwann von ihrer großen, genauer: einzigen Liebe erzählte. Und zwischendurch handeln sie immer wieder auch vom Vater. Der noch im Jahr vor seinem Tod Ginster pflanzen wollte. Und der, wenn es ihn packte, krähte wie ein Hahn: Der Feingehalt an Surrealem, das als Spurenelement jeder einzelnen Erzählungen innewohnt, steigt hier zu beachtlicher Konzentration an. Die beste dieser durchweg vorzüglichen, menschlich gehaltvollen Erzählungen freilich ist, ein wahres Glanzstück, die Titelgeschichte vom Tod des Vaters: so nüchtern erzählt und dabei so anrührend, wie es uns bei einem derart existentiellen Thema auf dem Feld der Literatur kaum je vorgekommen ist.

Hans-Dieter Fronz     09.04.2016    


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