Hansjürgen Bulkowski
Hoden
Ist denn für sie drinnen kein Platz?
Natürlich gehören sie dazu. Zugleich bleiben sie abseits, außerhalb, ein Anhängsel. Wohl an- aber nicht einverleibt, müssen sie in ihrer kleinen schrumpeligen Tasche überall mitgeschleppt werden.
Im Vergleich zum gerundeten weiblichen Körper wirkt der mit genitalen Extras ausgestattete ohne rechtes Ebenmaß. Rumpf und Anhang wollen kaum zueinander passen. Hat der Leib einen Teil seines Inneren nach außen gestülpt? Wozu bedarf er eines so hinderlichen Zusatzes?
Das kugelige Doppelorgan zeigt sich nicht gern. Es macht sich klein, versteckt sich voller Scham. Gewöhnlich weiß nicht einmal der Träger, wo es sich gerade befindet: vor den Oberschenkeln oder dazwischen, hoch geschoben oder zur Seite. Dem Träger ist's egal, Hauptsache, der heikle Begleiter belästigt ihn nicht.
In seinem geschützten Winkel, dem dreiseitigen Fach zwischen Unterleib und Beinen, in der Zwickelenge, im Schritt will das Organ vor allem in Ruhe gelassen werden. Dort, abgeschirmt, eingepackt vom baumwollenen Unterbeinkleid, herrscht eine feuchte, private Wärme. Die macht, dass die Haut der Organtasche weit und schlaff wird und ausbeutelt und meist auch ein bisschen schwitzt.
In der Kühle hingegen, wenn der Körper zum Baden ins Meer springt, zieht sich die kleine Hauttasche zusammen. Schließt sich straff um das paarige Organ, macht daraus so etwas wie einen faustgroßen braunen Stein.
Um Samenzellen erzeugen und auch speichern zu können, verlangt das Organ eine andere, geringere Temperatur als im Körperinnern: zwei bis drei Grad ist sie in der Regel niedriger. Besser also, der Körper hält das Organ von sich fern.
Die externe Anhängung wirkt auch stoßdämpfend. Bei einem heftigen Ruck, im Sprung oder Hüpfen, kann das Doppelorgan in der dehnbaren Hauttasche besser abgefedert werden als innerhalb des Knochengerüstes, wo jeder Stoß hart auftrifft.
Was in den pflaumen- oder wallnussgroßen Kugeln vorgeht, lässt sich durch den Träger wenig beeinflussen.
Während er in der S-Bahn sitzt oder Volleyball spielt, ist ihm nichts bewusst von der Hormon- und Samenfabrik,
die er mit sich führt und die unentwegt weiterproduziert – sie hängt zwar an den inneren Organen, ist gleichwohl unabhängig von den Verrichtungen und Absichten ihres Trägers.
Wie leicht doch können Beutel und Bällchen in dem verzwickten, verzwickelten Winkel unter dem Unterleib abgeklemmt, eingequetscht werden. Das Bindegewebe in der Hodentasche hält sie ja nur locker fest. Sie sind, wenn auch nur passiv, ziemlich beweglich und immer in Gefahr, zwischen die Schenkel zu geraten oder auf Fahrradsätteln, an Turngeräten, auf beengten Sitzen unglücklich bestoßen zu werden. Worauf sie sich mit brutaler Empfindlichkeit melden.
Auch wenn sie nur leicht gestoßen oder gequetscht werden, antworten die Organe mit höllischem Schmerz. Es ist kein schneidender, lokal begrenzter Schmerz, nicht der einer Schnittwunde. Viel umfassender: ein stark unangenehmes Gefühl, ein trockenes Übelsein, unerträglich. Das breitet sich im ganzen Unterkörper aus, strahlt die Schenkel hinab, den Magen hinauf bis in die Kehle. Schon ein angedrohter oder selbst nur vorgestellter Schlag gegen das Organ, allein die Vorwarnung, löst Übelkeit aus. Das Bewusstsein wird schlagartig ernüchtert und gezwungen, die bedrohte Taschenwerkstatt in Acht zu nehmen, sie schleunigst der Gefahr zu entziehen.
Zum Glück erfährt der Träger seinen dünnhäutigen Organanhang keineswegs nur als Übel. Wenn die in den Nebenhoden gereiften und aufgehobenen Samenzellen aus der Beuteltasche hinausgeschleudert werden, drängen sich Kugelorgane und Tasche dicht heran an den Unterkörper. Als wollten sie dem euphorischen Hinauswurf einen mächtigen Anschub geben. Sie hängen nicht mehr unbeteiligt neben dem Leib, sind eingegangen in seine Raserei.
Hansjürgen Bulkowski 22.05.2007
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