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Sylvia Geist
Gordisches Paradies
Ferngesteuerte Hunde, selbstsprechender Mohn
Kritik |
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Sylvia Geist
Gordisches Paradies
Gedichte
Hanser Berlin 2014
112 Seiten, 14.90 Euro |
Sylvia Geist hat für ihren neuen Gedichtband einen Titel gewählt, dessen Metaphorik sich unvergeßlich ins Gedächtnis brennt: Gordisches Paradies. Der Titel kombiniert die religiöse Vorstellung des Garten Eden, in dem der Mensch, wie in einem Kunstwerk, gleichursprünglich in Übereinstimmung mit sich, mit Gott und mit dem anderen lebt, mit dem Bild der entschlossenen Geste des energisch handelnden Alexander, der die unlösbar verknoteten Seile am Wagen des Gordios mit seinem Schwert durchtrennt. Er hatte den Wagen, an dem er als der vom Zeus-Orakel bestimmte König erkannt wurde, im Tempel geweiht und die Deichsel kunstvoll, unlösbar mit Seilen verschlungen – wer den Knoten lösen kann, wird zum Herrscher über Asien werden. Die Metapher des gordischen Paradieses ist so vielsagend schön, weil sie die beiden Szenen verflüssigt, wechselseitig relativiert und erweitert. Denn nicht nur wird der Engel mit dem Flammenschwert evoziert, der nach dem Sündenfall und der Vertreibung aus dem Paradies verhindern soll, daß der Sünder zum Baum des Lebens zurückkehrt; das Bild schlägt, selbst ein Schwert, dem Leser damit auch das Schwert des Tatmenschen aus der Hand, weil er ein Paradies, das gordisch verschlungen ist, zerstören würde, wenn er es zerschlüge. Anders gesagt: Es ist das Paradies, die verschlungenen, unauflösbaren Wege der Seile zu betrachten, nachzuvollziehen und und in ihrer Unauflösbarkeit zu belassen. Gordisches Paradies – das ist die perfekte Metapher für das Gedicht und seine Lektüre. Denn wer, der Gedichte liebt, würde es abstreiten, daß es etwas gibt, das beglückender, paradiesesschöner wäre als die Lektüre eines kunstvoll verschlungenen Gedichts?
Sylvia Geist, 1963 in Berlin geboren, ist eine Femme de Lettres, die Prosa, Essays und Lyrik veröffentlicht hat, Lyrikliebhabern bekannt durch ihre Übersetzungen, etwa von John Ashbery, und als Herausgeberin, die unter anderem Anthologien slowakischer und polnischer Literatur kuratiert hat. Nachdem sie bereits fünf Gedichtbände publiziert hat, legt Geist mit Gordisches Paradies einen Lyrikband vor, der Werkcharakter hat. An der Sammlung fällt auf, wie wohlkomponiert sie ist. Der Band umfaßt sechs Teile, die eigene, prägnante Titel haben und deren einzelne Gedichte durch Leitmotive verbunden sind.
So werden die Gedichte des ersten Abschnittes Aus den heimlichen Gebäuden durch Bezüge auf die Kindheit, auf Mutter- und Vaterszenen, auf die „Meinen“ der lyrischen Sprecherin motivisch verbunden; die zweite Rubrik Gordisches Paradies zieht in wiederum sechs, kürzer, enger werdenden Schlingen einen Sprachknoten, der durch etliche Wiederholungen, Querverbindungen und Abwandlungen einen einzigen großen Gesang bildet; dann folgen unter dem Titel Haltestelle Holunder Gedichte, die als Mosaiksteine zu einem Portrait des Künstlers gelesen werden können, vielfältig verbunden durch Bilder von Tieren, durch Bezüge auf bildende Künstler wie Max Ernst, Twombly, Magritte. Der vierte Teil Langsame Entfernung aus einem Flecken erzählt in zehn Gedichten von der Annäherung an einen vertrauten Ort, die sich als die Geschichte einer Entfremdung ins Eigne entpuppt; die fünfte Rubrik Durch den Rausch aus einem Bild enthält Erkundungen der Umgebung, in denen sich das lyrische Ich vorfindet, in einem Hinterhof, einem Zugabteil, einem Hotelflur; und der Band schließt unter dem Titel Heime aus Süßgras und Draht mit einer Reihe von Gedichten, die sich konkreten geographischen Orten verdanken und an ihnen „spielen“, in der Hastings Street, am Rice Lake, auf Sylt. Und eine siebte Rubrik ergibt sich dadurch, daß Geist dem Band eine Nachtausgabe in Form von Traumgedichten beigibt, die zwar Bestandteile der sechs Sammlungen sind, aber herausgenommen und in Verbindung gebracht als eigene Folge gelesen werden können. Die Nachtausgabe funktioniert im Band als ganzem wie ein Wort, eine Zeile in einem Gedicht: sie versiegelt die Sammlung ebenso wie sie die Lektüre ins Offene befreit, indem sie deutlich macht, daß die Anordnung auch eine andere sein könnte.
Für einen halbwegs geübten Leser zeitgenössischer Lyrik ist es manchmal möglich, von einem Gedicht, das anonym vorliegt, auf den Verfasser zu schließen. Denn Autoren finden oft eine für sie verläßliche Schreibweise, zu der sie mit jedem Gedicht zurückkehren und die so viele Merkmale des Identischen aufweist, daß das einzelne Gedicht daran erkennbar wird und gelegentlich wie eine Variation erscheint. Bei Geist ist das anders. In Gordisches Paradies finden sich zwei komplett unterschiedliche Sprechweisen, Schreibstile, die nicht klingen, als stammten sie von derselben Verfasserin.
Der Großteil der Gedichte von Geist ist konkret konturiert, hat etwas Skulpturales. Ausgehend von einer genauen Wahrnehmung, einem Namen, einer Szene, einem Bild – „Braune Nerzmade“ oder „Weit in den See kommen die Obstbäume“ – liest der Blick das gleichsam weiter, entdeckt Rückseiten, Widersprüche, Implikationen, Kongruenzen, Gegenbilder und formt aus diesen immer neuen Hinsichten das Gedicht. In Geists Gedichten verbindet sich ein untrüglicher Sinn für das Eigenrecht des individuellen, besonderen Details – „no ideas but in things“ – mit einer phantastischen Fähigkeit wahrzunehmen, wohin sich etwas auswachsen könnte, welches Potential zur Form es hat. In einem der schönsten Gedichte des Bandes klingt das so:
Avatare
Sähe man uns einzeln, gliche eins dem andern
so lange, bis was übrig bliebe: Hintergrund,
vor dem wir süchtig nach Getürktem vorwärts
tasten nach Zurück, eingespielte Animierte
mit dem Eigenleben eines anderen
Planeten auf dem Rücken, geblendete Atlanten,
die gen Exit stolpern, und auch diese Handlung
ist angeblich ein Gerücht, was später abläuft,
schon geträumt. Nimm die Brille ab. Die Augen
brauchten Zeit, die es nicht gibt, die Bilder
handeln wie Finger, die sich auf uns besinnen,
sobald sie zu spielen beginnen.
Die Szene ist so trivial wie häufig: Kinobesucher verlassen nach der Vorstellung den Saal. Hier wurde offenbar Avatar von James Cameron gezeigt und gesehen. Geist nimmt die Situation nun so wahr, daß das Gesehene, Avatare, auf die, die das gesehen haben, zurückgespiegelt wird. Sichtbar wird dieses wechselseitige Reflexion, indem ein Standpunkt außerhalb der Spiegelszene eingenommen wird. „Sähe man uns einzeln“, verschwänden die Gesehenen, bliebe zuletzt nur der Hintergrund. Der Film ist aus, die Zuschauer „tasten nach Zurück“, „gen Exit“, in ihrem Bewußtsein läuft aber weiter, was sie gesehen haben. Sie werden selbst „eingespielte Animierte“, die „süchtig“ nach Fälschungen und Fiktionen sind, der eben im Film gesehene fremde Planet eine Last „auf dem Rücken“. So mutiert der Zuschauer zum Avatar, zur virtuellen Person in einem Spiel, aus dem es keinen Ausweg gibt: „was später abläuft,/schon geträumt“. Es hilft nicht in die Wirklichkeit zurück, die 3D-Brille abzunehmen. Denn „die Augen brauchten Zeit, die es nicht gibt“ in dieser anderen Welt. Stattdessen sind die Bilder die wahren Akteure, die Aktzentren, bei ihnen liegt das Bewußtsein. Darum schließt das Gedicht mit großartigen Zeilen, die Medientheorie und Zeitdiagnose in nuce sind: „die Bilder / handeln wie Finger, die sich auf uns besinnen, / wenn sie zu spielen beginnen“.
Anders klingt der Zyklus Gordisches Paradies. Statt von Kontur und Konkre#-tion sind die sechs Schlingen des Langgedichts von einem freien Ton geprägt, der sich erst beim lauten Lesen erschließt. Es sind Gesänge, getragen von einem langem Atem und einem unbestechlichen Gehör für den Rhythmus der Sprache, das Amalgam aus Metrum und Melodie, auf das es ankommt im Gedicht. Es ist der Versuch, in der Sprache, in ihrer Bewegung den Raum der Erinnerns zu erkunden, zu „balancieren durch geräumte Gedächtnisse“. Die einzelnen Schlingen variieren Motive, die sie zugleich verbinden – die Entdeckung von Mohn, die Leiblichkeit von Typographie, das Leben in einem Bienenstock, Wasser, die Erstreckungen der Zeit. Wollte man den Grundgestus dieser Sprachmusik benennen, so wäre er vielleicht darin zu entdecken, daß hier ein Bewußtsein, in der Unauflöskeit von Selbstdurchsichtigkeit und dem Unbestimmten, das uns trägt und prägt, zu sich selber kommt. Hier sprechen nicht nur Intellekt und Phantasie, sondern, platonisch gesprochen, auch die Seelen der Tiere, der Plfanzen, der Dinge:
Letzte Schlinge
Stehen im Freien, im Frieren, begriffene Letter
sowieso hybride. Tapferkeit, auf nichts zu reimen
trocknet auf der Haut toter Kleider, meiner
harsch sich öffnenden Hände. Dann weiter
so weit als Dolden taugen, alle Dochte ausgeloht
gewiss, wenn möglich wieder zurück, bloß wohin.
Müßig, was zog zuerst ein und war es so
nicht: Ein Ereignis des Tages geschah, es kam
auf sirrenden Sendern – der köder summe, die liebe
aus ihr heraus ihr entwunden – herüber zu einem.
Gibt man dem alteuropäischen Zwang nach, Sinn und Kongruenzen zu unterstellen, so könnte man versucht sein anzunehmen, daß sich die beiden Töne und Schreibweisen komplementär zu einander verhalten. Viele Gedichte in Geists Band durchzieht die Vorstellung, daß die Wirklichkeit künstlich sei und wie Kunst betrachtet werden könne – „Könnte eine Erfindung sein, / das Abteil. Die Innenseite von etwas // aus Schnee.“ Für den Sprecher der Gedichte bedeutet diese Figur in Form der Selbstreflexion, daß er sich als Kunstwesen versteht und deutet: „Dass ich doch gar nicht dort sein durfte, zu zweit nach/wie vor, und wie sehr mich die Angst einte, nicht mehr / rauszukommen. Ich roch danach und suchte noch/Erklärungen. Ferngesteuerte Hunde, war eine.“ Anders, gewissermaßen als Einspruch und Gegenrede, zeigt der Zyklus Gordisches Paradies, auf welche Weise eine Wirklichkeit sui generis geschaffen werden kann, die jenen Gegensatz unterläuft und in der der Sprecher zu sich selbst kommen kann. Individualität, so kann man dieses emphatische Bekenntnis zur Lyrik lesen, ist unter den Bedingungen der Deformation und der Enteignung der Wirklichkeit nur für ein Bewußtsein möglich, das seine Leiblichkeit radikal ernst nimmt und als Sprache erforscht. Dann klingt, was der Sprecher sagt, wie eine Utopie des freien, des eigenen Lebens:
ja, dass überhaupt, Folge von Wolkenlosigkeiten
vagem Ozon, Vögeln, die so nicht schlagen, nicht
sterben können im Scheibengleisen, am Umriss
eines falschen Schwarms, von selten müden Mücken
auch, bis es dämmerte: dass keiner fror, keiner
verlor, als gäbe es keine Beschränkung für heute
als darauf zu finden … Gut die abwesenden Gesichter
ähnlich gelebt statt von Jahren vom Abend das
Mobiliar, und dass gar nichts zu besiegen war: gut.
Nicht ein Ereignis des Tages geschah. Es kam
Sylvia Geist hat einen der eindrücklichsten, besten Gedichtbände geschrieben, die ich in den letzten Jahren gelesen habe. In ihren Gedichten verbindet sich eine Lust am sinnlichen Detail, an der Konkretion des Alltags, die an Williams oder Gerald Stern erinnert, mit einer phantasiereichen Reflexivität, die Räume öffnet für kühne Spekulationen über das, was die Person, die Subjektivität, das Individuum ausmacht. Man müßte, wenn Geist einen zweiten Band dieser Couleur vorlegt, anhand der Gedichte die ästhetischen Kriterien genauer entwickeln, die ihnen einwohnen. Diesen Band durchzieht jedenfalls ein Gestus des Wahrnehmens, Denkens und Dichtens, der in der Sprache schön wird, weil er vor allem genau ist – so genau, daß Geist dem Leser die Unterscheidung und Beziehung von „Mohn“ und „Antimon“ zumutet. Denn was zunächst nach einem fehlenden Buchstaben aussieht, verweist auf einen anderen, nicht geahnten Sinn. Man findet staunend immer wieder zurück zu diesem Buch.
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