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Jan Koneffke
Warum sich Fee und Brause reimen*
Über die Freiheit poetischer Sprach-Spiele
Essay |
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Entgegen der landläufigen Auffassung, dass der Dichter dem Leser ein X für ein U vormache, die lyrischen Worte also eine Aussage lediglich poetisch „verklausulieren“, sollte man, gerade in der Poesie, die Worte wörtlich nehmen. So will ich es auch mit dem Titel meines Beitrags halten, laut dem sich die Worte „Fee“ und „Brause“ reimen, was ja nicht unbedingt auf der Hand, oder besser: im Ohr liegt. Ich werde also versuchen, Ihnen auf diese Behauptung einen Reim zu machen.
Für meinen Band „Trippeltrappeltreppe“** mit Gedichten für Kinder habe ich ein Rätselgedicht verfasst, das die Kinder inVersuchung führen soll, mitzudichten:
„Beim Zwiebelschneiden schnitt Frau Krause
sich tief ins K
und das tat weh
verband sich da
mit einem B
von nun an war sie eine Brause“
Nun geschieht es aber immer wieder, dass die Kinder, statt „Brause“ zu antworten, spontan ausrufen: „Fee“. Nicht schwer zu erraten, warum. Sie lassen die letzten Reimwörter in einem Endreim ausklingen, kommen von „weh“ und „B“ zu „Fee“. Diese letzten Reimwörter sind offenbar verführerischer als das entfernte „Krause“ am Gedichtanfang, weil sie „zeitlich“ näher liegen, dem Gedächtnis präsenter sind.
Lustvoll über die „Trippeltrappeltreppe“
Hieraus lässt sich ersehen, dass der Reim, also die musikalische Logik des Gedichts, gegenüber der stofflichen Logik die Oberhand behält. Und trotzdem fehlt es dem Reimwort „Fee“ keineswegs an semantischer Schlüssigkeit. Denn das Rätselgedicht erzählt ja von einer Verwandlung, und Verwandlungen gehören unmittelbar ins Reich des Märchens, in dem die Kinder (noch) zu Hause sind. Nun verwandeln sie, zum Mitdichten aufgefordert, das Gedicht selbst auf überaus kreative Weise, indem sie das erwachsene Bewusstsein des Verfassers, das auf die logische Bedeutung zielt, unterlaufen. Jüngst haben der empirische Psychologe Arthur Jacobs und der Dichter Raoul Schrott das Buch „Gehirn und Gedicht“ vorgelegt, das zeigt, wie die poetische Sprache „Bedingtheiten (folgt), die auf unserer Sensomotorik und den Parametern unserer Wahrnehmung beruhen“ bzw. auf sie einwirken. So ist heute belegbar, dass schon Säuglinge den Wechsel von unbetonten und betonten Silben wahrnehmen, und zwar: lustvoll. Unsere Reaktion auf rhythmische Sprache ist also biologisch verankert, leitet sich nicht zuletzt aus dem Umstand her, dass wir körperliche Wesen sind.
Meine Tochter Annalena, die gerade an der Mutterbrust trank, unterbrach diese lustvolle Tätigkeit für eine volle Minute, als ich meine „Trippeltrappeltreppe“ vortrug, weil der rhythmische Reiz der Gedichtsprache offenbar höher lag als der des Trinkens. Sie drehte mir den Kopf zu und staunte mich an:
„Diese Trippeltrappeltreppe
diese Trippeltrappeltreppe
trippeltrappel
trippeltrappel
Tritte Tritte
Schritte Schritte
Hacken Hacken (…) “
Gedichte sprechen uns also auf mehreren Ebenen an. Zu den elementarsten gehört die gleichmässig rhythmische Struktur, die uns auf unmittelbare, geradezu somatische Weise affiziert. Freilich gibt es Gedichte, die diese Struktur nicht aufweisen bzw. verweigern. Brecht sprach sich für „reimlose Lyrik mit unregelmässigen Rhythmen“ aus, und hätte ich meiner Tochter eine seiner „Bukower Elegien“ vorgelesen, hätte sie ihr lustvolles Geschäft bestimmt nicht unterbrochen.
Klangevidenz
Gerade diese ästhetische Verweigerung aber ist ein Merkmal des heutigen Gedichts. Sie belegt eine Abkoppelung von der lyrischen Tradition, eine Emanzipation von herkömmlichen Formen, die freilich auch zur Marginalisierung lyrischen Sprechens führt und letztlich dem Muster gesellschaftlicher Spezialisierung folgt. Die lyrischen Gebilde werden immer komplexer und sind für Nicht-Spezialisten mitunter so wenig zu verstehen – wobei das Wort „Verstehen“ im Zusammenhang mit Lyrik einer eigenen Klärung bedürfte – wie zeitgenössische Kunst oder Musik. In ihnen wird die Sprache geradezu zur Fremd-Sprache.
Das hat beim „artistischen Volkssänger“ Peter Rühmkorf, dem man Modernität gewiss nicht absprechen kann, zum Unbehagen an der lyrischen Kultur geführt. Er beschwerte sich darüber, dass sich kaum einer der gegenwärtigen Verse dem Lesebewusstsein mehr einpräge.
Ich will diese komplizierte Diskussion hier nicht fortführen, Sie nur darauf hingewiesen haben, und spinne meinen roten Faden anhand des Stichworts „Einprägsamkeit“ weiter. Denn zur Einprägsamkeit des Gedichts gehört neben seiner gleichmässig rhythmischen und metrischen Struktur die des Reims. Auch sie besitzt musikalischen Charakter, den die gebundene Sprache des Gedichts durch andere Klangelemente wie Alliteration, Anapher, Assonanz oder Lautmalerei noch verstärkt. Die Merkbarkeit könnte man entsprechend als „Klangevidenz“ bezeichnen. Sie stellt sich – siehe „Fee und Brause“ – über die musikalische Logik her. Und das Wort „Evidenz“ ist ganz wörtlich zu nehmen: Wie experimentell bewiesen wurde, sprechen Menschen gereimten Aphorismen einen höheren Wahrheitsgehalt zu als ungereimten. Die Klangevidenz hat also psychologische Auswirkungen auf die Rezeption der Logik des Gedichts.
Die Zauberkraft des Reims liegt in besagter Klangevidenz, die wiederum zur Einprägsamkeit beiträgt. Kein Wunder, dass Volks- und Kinderverse, wie sie etwa Rühmkorf in seiner beispielhaften Anthologie mit dem doppeldeutigen Titel „Über das Volksvermögen“ versammelte, so gut wie nie auf den – witzigen bis derben, reinen bis ungewaschenen – Reim verzichten, nicht zuletzt ihrer oralen Tradierbarkeit zuliebe. Wie wir alle wissen, hat sich auch die Werbung stets der Merkbarkeit des Reims und anderer lyrischer Klangelemente bedient, um Einprägsamkeit zu erzeugen. Wir sind im Alltag unablässig von lyrischen Schwundformen umgeben – was ein nicht zu unterschätzender Grund dafür ist, dass die zeitgenössische Poesie gegen die Einprägsamkeitskultur die lyrischen Stacheln aufgestellt und sich eingeigelt hat. Alle diese, durchaus erfinderischen, lyrischen Versatzstücke von Harribo macht Kinder froh und Erwachsene ebenso über Bigger better Burger-King bis zum berühmten Geiz ist geil sind so grell, vulgär und schlagfertig wie sonst nur käufliche Damen. Dass sie die Sprache be- und vernutzen, um im Menschen den Kunden zu verführen, ist heute selbst dem letzten Dussel klar. Sie stellen die Sprache in den Dienst eines äußeren, in diesem Fall: kommerziellen, Zwecks, und verkehren den autonomen Charakter der Poesie ins Gegenteil. Denn Literatur im Allgemeinen und Poesie im Besonderen bestehen zwar, nicht anders als die kommunikative Sprache, aus Begriffen, doch sind sie nicht auf Mitteilung aus. Literatur bedient sich nicht der Sprache, sie ist Sprache.
Paradoxe Freiheit
Wie zum Beispiel im Gedicht „Das ästhetische Wiesel“ von Christian Morgenstern:
„Ein Wiesel
sass auf einem Kiesel
inmitten Bachgeriesel
Wisst ihr
weshalb?
Das Mondkalb
verriet es mir
im Stillen:
Das raffinier-
te Tier
tat's um des Reimes willen.“
Dieses letztlich poetologische Gedicht führt, seinerseits spielerisch, vor, wie sich die Gedichtsprache in paradoxer Freiheit aus sich selbst generiert. Denn das Gedicht benutzt ja die Regeln des Reims, um in den ersten drei Versen ein zunächst ganz und gar willkürliches, überraschendes, zweifellos komisches Bild aufzubauen. In der zweiten Strophe wendet sich der lyrische Sprecher – quasi als Platzhalter des traditionellen lyrischen Ich – an die Leser, die er augenzwinkernd anredet und die man sich unschwer als seine Spielgefährten vorstellen kann. In der dritten Strophe teilt er ihnen und uns ein Geheimnis mit (Geheimnisse sind das Salz in der Suppe des Spiels), das er darüber hinaus durch ein ominöses Mondkalb erfahren haben will, also durch einen Dummerjan, ein Windei, eine Missgeburt, die ihre Entstellung dem ungünstigen Einfluss des Mondes verdankt, womit Morgenstern auch noch der mondsüchtigen Poesietradition der Romantik gegen das Schien-, oder besser das Spiel-, wenn
nicht gar das Stand-Bein tritt.
Warum also sitzt das Wiesel auf dem Kiesel? Um des puren Vergnügens, und das heißt in diesem poetischen Fall: Um des Reimes willen. Morgensterns Gedicht entzieht sich damit nicht nur auf listig-lustige Weise der bei Poesie immer verkehrten Frage, was uns der Dichter wohl sagen möchte. Tatsächlich klingt es wie ein fernes, poetisch verspieltes Echo auf Friederich Schillers „Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschengeschlechts“. Schiller zufolge verwirklicht sich das persönliche Glück im ästhetischen im ästhetischen Spiel. Emphatisch formulierte er: „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“. Unser „ästhetisches Wiesel“ führt uns also die Freiheit poetischer Sprach-Spiele vor, aber nicht, indem es sie illustriert, sondern indem es ist, was es ist.
Doch sprach ich vorhin von der paradoxen Freiheit, die eben darin liegt, dass das Gedicht ja nicht ohne Regeln auskommt und sich an ihnen abarbeitet, von Rhythmus und Metrik zu Reim und Klang, nicht zuletzt seinen „inhaltlichen“, also rhetorischen Figuren wie der Metapher und der Metonymie, ja, am Regelwerk der Sprache selbst, wobei dieses Abarbeiten als zweckfreies Spiel betrieben wird. Dieses zweckfreie Spiel mit dem Regelwerk ist ein lustvolles Erlebnis, das Erkenntnis nicht ausschließt, wie etwa das berühmte Gedicht von Ernst Jandl mit dem Titel „lichtung“ belegt:
„manche meinen
lechts und rinks
kann man nicht velwechsern
werch ein illtum.“
Ein findiger Geist hat mit Ernst Jandls Namen selbst sein Sprach-Spiel getrieben und aus ihm Ernst Neindl gemacht. Darin verbirgt sich als tiefere Wahrheit, dass der österreichische Dichter tatsächlich die herkömmlichen Sprach- und Poesiemuster in spielerischer Weise verneinte, in dem er sie auf den Kopf stellte. Anders als bei anderen Vertretern ästhetischer Avantgarden, wie etwa der Konkreten Poesie, führte sein Verfahren nicht in die Wüste öder Textflächen mit rar gesäten Oasen der Abweichung. Seine Verse sind auch immer wieder politisch aufgeladen, ohne dass dieses Politische zur reinen Oberfläche oder zum abstrakten Inhalt, die dichterische Sprache gar für eine politische Aussage missbraucht würde. Der „Inhalt“, wenn man ihn denn so nennen mag, generiert sich aus der Sprache selber und das überwiegend auf ihrer phonetischen Ebene:
„Falamaleikum
falamaleitum
falnamaleutum
fallnamalsooovielleutum
wennabereinmalderkrieglanggenugausist
sindallewiederda.
oderfehlteiner?“
Spielen kann man bekanntlich auf vielerlei Weise: Und wenn ich hier vom poetischen Sprach-Spiel rede, meine ich keineswegs nur Gedichte, die bereits auf der Oberfläche erkennbar verspielt sind. Es gibt auch das durch und durch ernste Spiel, den Zustand des ins Spiel-Vertieft-Seins, wie es uns eigentlich viel häufiger in der Poesie begegnet:
„ Deutsche Einheit“
„Ach Deutsche Einheit die mein Vater rauchte
pro Kiste kostete sie zwanzig Mark
im Qualm der seine Zimmerluft verbrauchte
kam mir mein Vater gross vor – gross und stark
Zigarrenkiste mit dem Etikett
auf dem zerkratzt der deutsche Adler prangt
mein Vater rauchte stumm in seinem Bett
an Heimweh und Erinnerung erkrankt
vergangenheitsselig ohne Bitterkeit
verstrickt in seinen Traum von Kindheitspommern
vom Krieg verschlungener Geborgenheit
und Schuß um Schuß zerfetzten Ostseesommern
grimmiger Adler warf den Vater an die Front
als halbes Kind das es ein Lebtag nicht verwand
an Leib und Gliedern zwar vom Krieg verschont
war seine Unschuld mit dem Pommernland verbrannt
ach Deutsche Einheit die ich wiederfand
ein letzter Rest von Tabakduft nicht mehr
er blieb mir bis ans Ende unbekannt
zerbrochener Mensch Zigarrenkiste leer“
Auf den ersten Blick mag man dieses Gedicht, das ich nach dem Tod meines Vaters schrieb, kaum für ein Sprach-Spiel halten, jedenfalls dann, wenn man den Begriff sehr eng fasst und das Spiel als unseriöse, kindliche bis kindische Tätigkeit betrachtet. Und trotzdem spielt es – ernst, ja ohne seine Trauer zu verleugnen – von Anfang an mit dem historisch aufgeladenen, geradezu pathetischen Begriffspaar der „Deutschen Einheit“, das es ironisch von seinem Podest holt und zum Markennamen einer Zigarrensorte verkleinert, die ich als Kind sogar gelegentlich für meinen Vater im Laden besorgte. Ich sagte zum Tabakhändler: „Einmal 'Deutsche Einheit', bitte“, was mir nicht einmal komisch vorkam, denn für mich, der ich zur Nachkriegsgeneration gehörte und wie selbstverständlich im geteilten Land lebte, handelte es sich tatsächlich um einen völlig unschuldigen Markennamen. Im Verlauf des Gedichts wird dieser Markenname nun zur Metapher des falschen Scheins, der über dem zerbrochenen Einzelleben liegt, zur kritischen Metapher für die Ideologie offizieller Geschichtsschreibung gegenüber der Individualgeschichte. In diesem Spiel mit der Sprache zielt das Gedicht auf nicht weniger als Wahrhaftigkeit, nicht auf eine abstrakte und fixe Wahrheit, sondern auf die Wahrhaftigkeit lebendiger und sinnlicher Erfahrung. Auf diese Weise kann Dichtung zu jenem „utopischen Raum“ werden, der Peter Rühmkorf vorschwebte, zu „einem utopischen Raum, in dem freier geatmet, inniger empfunden, radikaler gedacht und dennoch zusammenhängender gefühlt werden kann als in der sogenannten wirklichen Welt“.
Wenn ich auf dem Gedicht als Sprach-Spiel beharre, hat das natürlich auch mit einem weit verbreiteten Missverständnis zu tun, nämlich dem, Poesie sei Gefühl. Das ist sie aber ebenso wenig wie die Musik. Gewiss können beide in besonderem Maße das Gemüt erregen. Doch erreichen sie das Gefühl nur im Durchgang durch ihr Material und seine Formen. Ich betone das nicht, um die technische Seite, das jeweilige ästhetische Verfahren, in den Vordergrund zu stellen und Ihnen, den Gedichtlesern und -Hörern, den Affekt auszureden oder am Ende gar den Spaß zu verderben. Im Gegenteil. Denn der Begriff des Sprach-Spiels bietet sich gerade deshalb an, weil er das sinnliche Vergnügen beim Schreiben und beim Lesen von Gedichten ja keineswegs verhehlt.
Doch bleibt es dabei: Poesie ist aus Sprache gemacht, nicht aus Gefühlen, was ja auch in der Dichtung selbst immer wieder Thema ist. Gerade die Romantik war darauf aus, die Grenze zwischen Kunst und Leben aufzuheben und ihre harte Münze, die Worte, zu Gunsten sinnlicher Unmittelbarkeit einzuschmelzen. So heißt es beispielsweise bei Mörike über den „jungen Dichter“:
„Froh begeistert, leicht gefiedert
Flieg ich aus der Dichtung engen
Rosenbanden, dass ich nur
Noch in ihrem reinen Dufte,
Als im Elemente, lebe.“
Die Sprache selbst, aber auch die Formen der Poesie, ihre Tradition, werden von Mörike hier als „enge Bande“, also Fesseln beschrieben, denen sich der junge Dichter entwinden will, um nur noch in ihrem „reinen Dufte“, der schönen Vergänglichkeit des Lebens zu schwelgen – wobei diese Schönheit des Vergänglichen, die in der Metapher des „Duftes“ enthalten ist, nicht mit der berühmten „Vergänglichkeit des Schönen“ verwechselt werden darf, einer rhetorischen Figur, die nicht selten zur Apologie des versagenden Prinzips gerinnt.
Der junge Dichter Mörikes empfindet das Regelwerk der Sprache also als enges Korsett, wählt aber als Metapher die „Rosenbande“, womit er nicht nur einen poetisch schlüssigen Übergang zur Metapher des „Duftes“ stiftet. Die „Rosenbande“ stehen eben auch für die sinnliche, gleichwohl stachlige Lust beim Sprach-Spiel ein.
Zur paradoxen Freiheit des Sprach-Spiels gehört nicht zuletzt das Spiel mit der dichterischen Tradition, ihren Formen und Motiven. Dichtung antwortet auf Dichtung. Beim Griechenlandverehrer Hölderlin kommt die alkäische Strophe ganz anders zu Ehren, als beim nüchternen Mörike, seinem schwäbischen Landsmann. Hölderlins Gedicht „Die Heimat“ beginnt mit den Versen:
„Froh kehrt der Schiffer heim an den stillen Strom
Von Inseln fernher, wenn er geerntet hat;
So käm auch ich zur Heimat, hätt ich
Güter so viele, wie Leid, geerntet.“
Mörike treibt derselben Strophenform ihr Pathos halb parodistisch, halb materialistisch aus, indem er in sie die „Prosa des bürgerlichen Lebens“ gießt:
„Verzeih im Jägerschlösschen ist frisches Bier
Und Kegelabend heut, ich versprach es halb
Dem Oberamtsgerichtsverweser,
Auch dem Notar und dem Oberförster.“
Den Echoraum der Sprache ausloten
Ich sagte: Gedichte sind nicht aus Gefühlen, sondern aus Sprache gemacht. Sie sind Ergebnis des Sprach-Spiels – weshalb sie gerade für Kinder so attraktiv sind, weil das Material der Sprache hier noch geknetet werden kann, ohne dass der Vorwurf ihres fehlerhaften Gebrauchs greifen würde. Wie in meinem „Gedicht in Gnusprache“:
„Hurch zu, du Gnu!
Hurch zu, du Gnu!
Was wullst dunn du?
Uch hurch ju zu!
Du hust du unen Fluh, du Gnu!
Nu buttu!
Uch mun Fluh hurcht zu!“
Dass Gedichte aus Sprache, nicht aus Gefühlen und erst recht nicht aus Aussagen gemacht sind – denn wäre es so, wären sie nur die Illustration eines abstrakten Bedeutungskerns und das ist nur bei misslungenen Gedichten der Fall – ist allerdings eine nicht zureichende Bestimmung. Denn selbst wenn es wahr ist, dass Gedichte aus Sprache gemacht sind, so stellt sich doch gleich die Frage: Woraus ist die Sprache gemacht? Gedichte beugen sich gerade nicht dem Diktum des Sprachphilosophen Wittgenstein: „Wovon man nicht reden kann, darüber sollte man schweigen.“ Ein positivistisches Sprachverständnis liegt der Sprachkunst Dichtung nun wirklich fern. Ihr eigentliches Telos besteht gerade darin, zur Sprache zu bringen, was eben nicht sprachlich, was unbegrifflich, meistens unbegriffen, wenn nicht sogar unbegreifbar, ist. Poesie lauscht den Worten eben das ab, was sie nicht benennen, nicht benennen können. Sie horcht in der Sprache auf das, was normalerweise verborgen bleibt, zumal in der redundanten Alltagsrede, und doch in ihr enthalten ist: leibhafte Erfahrungen, sedimentierte Geschichte. Im Gegensatz zur kommunikativen Sprache, die sich den Worten als Mittel zur Verständigung bedient, lotet Dichtung den Echoraum der Sprache aus. Sie horcht auf das Innere der Worte und in den nächtlichen Hof ihrer geheimen Bedeutungen.
Oder um es mit den ersten Strophen eines Gedichts zu sagen, das ich vor kurzem für die achtzigjährige, rumänische Dichterin Nora Iuga schrieb:
„Am Stadtrand Bukarests bei der Zementfabrik
um die der Mondschein einen Bogen macht
sie selbst aus seinem Stoff langfingrig quick
und quecksilbrig um Mitternacht
teils große Dame mit dem Wahrzeichen von Hut
sein Wagenrad dreht sich auf grauem Schopf
teils Ziege Eigensinn und Sinnenglut:
aus jedem Knopfloch schaut ein anderer Knopf
teils Backfisch jung bis in die Haar- und Fingerspitzen
teils knistert sie vor Katzeneitelkeit
und schnurrend saugt sie Honig aus den Zitzen
der Zeit und der Gelegenheit
…
am Stadtrand zwischen Mann und Maus es riecht
von Stock zu Stock nach Weißkohl Schnaps und Harn
spinnt sie um Mitternacht aus dem was schiecht und kriecht
vor Lust und Lebenswillen: Dichtergarn“
In diesem Sinne sind die Worte der Dichtung wörtlich, ja wortwörtlich zu nehmen, indem sie sich qua Sprache um das drehen, was der Sprache innewohnt und sie übersteigt. Und deshalb kann in und mit ihr, die nicht aus Gefühlen gemacht ist, dennoch „inniger empfunden“ und „zusammenhängender gefühlt werden als in der sogenannten wirklichen Welt“, wie es Peter Rühmkorf formulierte. Damit ist die Dichtung der begrifflosen Musik verwandt. Kein Wunder, dass beide in ihren Anfängen eine Einheit bildeten und die gebundene Sprache der Dichtung Gesang war – der erste mythische Dichter, Orpheus, steht für diese innige Verbindung ein.
* Eröffnungsvortrag auf der SIKJM-(Schweizer Institut für Kinder- und Jugendmedien) Jahrestagung 2011 in Murten, September 2011
** Jan Koneffke: Trippeltrappeltreppe. Gedichte für neugierige Kinder. Mit Illustrationen von Christoph Mett. Köln 2009. Verlag Boje
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Jan Koneffke
Lyrik
Gelbes Dienstrad
wie es hoch durch die Luft schoß (1989)
Gedichte (2001 – 2012)
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