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Joachim Zünder
Odenwaldherbst / Einzelsatzkunde

I

Erkenne, daß die Worte dir helfen. Erkenne, daß die Worte dir
beistehen. Der Bleistift, mitsamt seinem Verlangen nach Schrift,
stürzt in die Schluchten unseres Wegs. Da ist niemand. Das
Bewußtsein, rein und intensiv, ist eine Vereinzelung.

II

Grabe dich ein, in das Windrautenlicht, in die farbflammende
Kraft. In der Stadt siehst du etwas Perlendes, das Antworten
ersinnt, auf Fragen, die es nicht gibt. Die Musik ist weiß, der
Bahnhof ein Sandsteinmonument – etwas Rotes, mit irrwitzigen
Träumen darin. In diese Richtung faltest du deine Hände und
beobachtest das den Wänden eingehämmerte Nichts, die durch alle
Gesichter galoppierende Illusion.

III

Ich sage ja nur, daß dieser Tag ein Schilf war/gewesen ist. Ein
Trockenbegriff, eine knisternde Zerstreuung. Und ich sage, daß die
Angst dunkel ist, eine Verlässlichkeit, jedoch ohne Beginn. Des
Rätsels Luftlinie, multipliziert mit der Welt. Dämmerung für die
Schönheit! Im Dunkel die Aufwertung des Dunkels, im Schmerz
die Aufwertung des Feuers. Achtung Sinndichte! rufen wir, und die
Thesenstücke fallen uns morgen in die Stirn.

IV

Es ist ein Spiel mit dem Nichts. Kommst du voran? Worte wie
Käfer auf dem Körper der Stunde. Durch das Nadelör pfeift der
Wind. Fahnde nach dem dunkelsten Bild, das du findest. Fahnde
nach der Dürre und der Nacktheit des Geistes. Die Kräfte der Welt
interessieren mich sehr wohl. An ihrem Horizont erscheinen erste
Oktoberkeime.

V

Das Dorf schläft, die Wiese schläft. Der Wald und die Berge
schlafen. Du selbst bist ein Schläfer, hier, im Licht des Halbmondes,
in der Spielsprache des Nachtwindes auf dem Land.

Wenn ich zurückdenke an den wettrigen Tag, an den Gesang
brennender Fische, dann fällt mir auf, daß der wesentliche Punkt in
meinem Kopf eine schöne Verachtung war.

VI

Es regnet aus dem Haar der Korkenzieherweide. Es regnet Licht.
Links oben, in ihrem Ohr, das du siehst – deutlicher als deine
Existenz! – haust die Sonne. Ein weißstrahlendes Funkentier, eine
Spektralgottheit, die, gleich einem Marder, durch deine Gedanken
flitzt. Daraus resultiert ein gutes Gefühl.

VII

Gehe hinaus in die Welt und betrachte das herabfallende Wetter.
Denn du sollst, mit der Gärung deines Schädels, den Herbst
erklimmen, diesen Berg aus windschiefer Geduld. Dann wird er zu
dir kommen, dieser fremde, durch den Novemberkiefer wandernde,
die Novembererde aufwühlende Geist. Du wirst ihn spüren, wenn
deine Finger fremdgehen im ersten Frost.

VIII

Und dann ist deine Kraftlosigkeit eine Tatsache. Drei Sekunden
lang strudelt sie durch das Gefauch des Windes. Vor Hilflosigkeit
schaufelst du mitten im Licht das Dunkel in deinen Schädel. Etwas
quält dich, lustvoll. Du hörst es lachen, aber du verstehst es nicht.

Ist das Unmögliche eine Brutstätte der keimenden Sprache, die
dich begehrt? Der Angriff, von dem du immer geträumt hast, wird
dir selber gelten.

IX

Wenn du lernst und begreifst, daß der Geist ein Kelterungsprodukt
ist, dann steht dir, verhangen oder nicht, der Himmel offen. Anders
gesagt – der offene Himmel, verhangen oder nicht, ist selbst ein
Kelterungsprodukt, welches, als seine kleinste Fähigkeit, die
Müdigkeiten des Mittags vertreibt.

X

Wir kriechen heran an das Nichts des Nachmittags, während die
Dämmerung mit ihrer Maschinenenge unsere stillen Worte in das
Rechteck eines Rätsels packt. Und ja, wir wollen einsam sein mit
unserem Nichts und es in vielen Sprachen preisen.

XI


Manchmal quält sich die Stofflichkeit durch deine Augen, wie
durch ein Gitter, welches das Innere vom Äußeren trennt.
Manchmal ist der Geist ein Echo, und nichts können wir lernen am
Rande seines Spuks.

Du wechselst den Bleistift, aber die Spannung bleibt, das Dunkle,
Kompakte und Erregende der Zeit, das Opake am Rande deiner
Schrift.

XII

Da ist es, das frühe Dunkel eines Oktoberabends, die
Novembernähe, die Zutat des schwarzen, mondlosen Raumes. Du
sitzt im Garten vor dem Haus. Regen setzt ein, vielleicht ist es aber
auch nur der Wind, der ein paar Windworte spricht und wieder
verstummt. Über deinem Kopf flackert im Windglas eine Kerze.
Du empfindest Freundschaft für dieses Dunkel und spürst ihre
Präsenz, ihren Atem, und ihr Versprechen, sich in dir zu vertiefen.

Musik des Waldes, nicht tief, nicht eindringlich, aber es ist ein
Anfang.

XIII

Zum Gipfel des Imaginären emporsteigen und von dort
hinabsteigen zum Konkreten der Welt. Oder ist das Konkrete der
Welt, dieser Bach zum Beispiel, nur auf dem Gipfel des
Imaginären zu finden?

Abendglocken auf dem Land, Klang eines schmerzenden
Widersinns. Dichtung ist nicht Aussage, sondern Präsenz.

Aktualisierte Version. Ursp. erschienen in Literatur im technischen Zeitalter, H.196

Joachim Zünder    16.04.2013   

 

 
Joachim Zünder
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