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Bertram Reinecke
Sleutel voor de hoogduitse Spraakkunst
Über Bertram Reineckes neuen Gedichtband
  Kritik
  Bertram Reinecke
Sleutel voor de hoogduitse Spraakkunst
roughbook 019
Hrerausgegeben von Ulf Stolterfoht
Editon Urs Engeler 2012


Herausgegeben von Ulf Stolterfoht als roughbook 019 ist im Februar 2012 Bertram Reineckes Sleutel voor de hoogduitse Spraakkunst erschienen, eine Sammlung höchst ungewöhnlicher und, wie mir scheint, exemplarischer poetischer Experimente.


Der schmale Band enthält sehr unterschiedliche Textsorten, die jedoch durch ihre Thematik zusammen­hängen. Der überwiegende Teil besteht aus Centos, die auf die Geschichte der neu­hoch­deutschen Lyrik zurückgreifen. Dabei wird eine Vor­liebe für barocke, expres­sionis­tische und zeit­genös­sische Texte deutlich – alle am Rande des tradi­tionel­len bil­dungs­bürger­lichen Lite­ratur­kanons, dessen mit Bedeu­tungs­zu­schrei­bungen über­frachtete Texte der Autor als unge­eignet für das asso­ziative Spiel seiner Gedichte betrachtet haben mag.

Einem Stoß über­einander gestapelter Manuskripte vergleichbar, bieten Reineckes Montagen Text­aus­schnitte, die von andern Text­auss­chnitten über­lappt werden. Auf diese Weise ent­steht, in gesuch­tem Kon­trast zum klas­sischen Cento, kein kon­tinuier­licher Fließtext, sondern ein Text mit dauern­den Abbrüchen und Neu­ein­sätzen. Die Bruch­stellen sind allerdings kaum zu bemerken; allenfalls markieren minimale syntaktische Ver­wer­fungen den frag­men­tarischen Cha­rakter des Textes.

Trotz ihrer Sprünge wirken Reineckes Montagen niemals willkürlich oder beliebig; sie folgen einer asso­ziativen Logik, die suggestiv mit ihrem déjà vu spielt. Dem Leser begeg­nen die Figuren einer prächtigen barocken Rhetorik, poetische Bilder, die wie Wolken Gestalt annehmen und sich wieder auflösen, aber auch abge­brochene Reden, verstört und stam­melnd wie die Zeilen des späten Hölderlin. Einmal wird mit stärkstem Effekt die Schluss­zeile eines Gedichts auf­genommen und mit einer winzigen Variante als eigen­ständiger Text wiederholt. Das wirkt wie ein Einspruch gegen das Vergessen, eine Beschwörung dessen, was sich in den Texten unauf­hörlich zeigt, um ebenso unauf­hör­lich zu verschwinden. Reineckes poetisches Verfahren scheint mir auf der Höhe der Zeit; seine fragmentarischen Rekon­struktionen wirken wie ein Abge­sang auf das Versinken einer lite­rarischen Über­lieferung, der Epilog eines Poeten, dem der ganze Reichtum dieser Tradition noch einmal zu Gebote steht und der sie zugleich beschwört und deutlich macht, dass ihre Sprache unwieder­holbar ist.

Der Sleutel voor de hoogduitse Spraakkunst, der dem Band seinen Namen gegeben hat, besteht aus einer Montage von Übungs­sätzen älterer Sprach­lehr­bücher. Tucholski hat dem Gali­mathias solcher Texte komische Ef­fekte ab­ge­won­nen; Ionescohat sie in seiner Kahlen Sängerin ver­wendet, um einen sinn­leeren Raum ent­stehen zu lassen. Bei den Übungs­sät­zen der Reinecke´schen Spraak­kunst habe ich mich bei einer umge­kehrten Bemü­hung er­tappt: Unwill­kür­lich versuchte ich, den imagi­nären Kontext zu kons­truieren, in dem die lako­nische Verrückt­heit dieser Wort­wechsel zu einem Sinn gekommen wäre. Die Ähnlichkeit zu den Centos ist ersicht­lich: Auch die Übungs­sätze der Spraakkunst konfrontieren mit einem verweigerten Zusammenhang, und auch hier erliegt der Leser der Suggestiv­kraft des Textes, die ihn zu hypo­thetischen Sinn­kons­truk­tionen nötigt.

Die Gimpelstiege inszeniert auf erfinderische Weise einen multiplen Sinnkollaps. Durchweg im treuherzigen Ton etwa des Schatzkästleins des rheinischen Haus­freundes gehalten, beginnt sie mit orni­tho­logi­schen Notizen über den Gimpel. Diese Hinweise gleiten jedoch unter dem Schein einer auf Aufklärung bedachten Gelehrsamkeit ins ganz und gar Verrückte ab. Die List des Autors besteht darin, die Übergänge zu verschleiern, wo der Sinn in Unsinn um-schlägt, und es wird manchem Leser ergehen wie dem Rezensenten, der kopf­schüttelnd die Lektüre der Gimpelstiege von vorne begann, um diese Stellen zu identi­fizieren.

Ich habe hier keinesfalls alle poetischen Experimente dieses ungewöhnlichen Buchs aufgezählt, zu dessen Glanzlichtern die Rückübersetzung eines Rilke­gedichts aus dem Englischen ins Deutsche gehört. Reineckes Bemühung um die Wiedergewinnung der Originalsprache des Gedichts liefert einen erfinderischen und augenzwinkernden Beitrag zu der Debatte, wie authentisch ein Dichter zu sein habe.

Der Autor schließt sein Buch mit den Rudi­menten eines Kommentars, der dem Leser ermög­licht, seinem subtilen Spiel bis ins Detail zu folgen – ein gelehrtes Moment, das die Tradi­tionen der alexan­drini­schen Dich­tung in Erinnerung ruft. Aber dieser Alexandrinismus blickt nach meiner Über­zeu­gung ebenso in die Zukunft wie in die Ver­gangen­heit, wenn er gerade aus der krisen­haften Situa­tion der Literatur so neu­artige Impulse und Inspi­ra­tionen bezieht.
Jürgen Buchmann   12.03.2012   

 

 
Jürgen Buchmann
Prosa