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Julia Powalla
Henni


Eigentlich wäre ich gerne mit Paul alleine an den See geradelt. Als er mich heute Morgen auf dem Schulhof fragte, ob ich mitkomme, wäre ich ihm am liebsten um den Hals gefallen. Aber ich presste meine Arme an den Körper und sagte, dass ich versprochen hätte, auf Henni aufzupassen. Paul zuckte die Schultern und sagte: „Dann nehmen wir ihn halt mit.“
Paul schob Henni den ganzen Weg; manchmal lehnte er sich auf die Griffe und ließ Henni zurückkippen. Ich war kurz davor, Paul zu stoppen. Aber Henni fand es lustig und so lachte ich mit.
Henni sitzt in Kutscherhaltung neben uns auf der Picknickdecke und schaut seinen Fingerkuppen zu, die sich zwischen die Finger der anderen Hand legen. Ich hebe sein Kinn an, das auf die Brust gesunken ist; Mama hat ihn wieder unsauber rasiert.
„Der Henni ist klug“, sagt Paul, „der spielt mit seinen Fingern und ist glücklich, oder, Henni?“
Henni nickt und sagt, „I-ich bin klu-ug.“
Paul setzt sich vor uns und schneidet Fratzen. Eine Weile beobachtet Henni ihn fasziniert; dann drücke ich ihm seinen Stoffhasen in die Hand und winke Paul, dass er mitkommt, setze mich an den Rand des Ufers und lasse die Beine ins Wasser baumeln. Paul setzt sich neben mich und langt nach glatten Steinen, um sie übers Wasser zu flippen.
Paul hat mit seiner Familie ein Jahr lang in Australien gelebt. Seit zwei Wochen wohnen sie wieder in unserer Straße. Ich will ihn unbedingt über Känguruhs ausfragen, aber das wäre kindisch.
Einer von seinen Steinen berührt fünf Mal den Wasserspiegel, bevor er untergeht. Paul hält mir einen Stein hin. Ich nehme ihn schnell entgegen und schaue weg, auf den See. Paul macht es mir noch einmal vor. Ich schaue ihm zu, schaue ihn an, als er den Kopf wendet und lächelt; viel zu hastig werfe ich den Stein. Ich weiß schon vorher, dass er gleich untergehen wird. Der Stein durchdringt die Wasseroberfläche mit einem Plopp und sinkt dem Grund entgegen. Ich grinse und zucke die Achseln. Paul gibt mir noch einen Stein und rückt näher. Ich schöpfe etwas Wasser aus dem See, um mein Gesicht zu benetzen, damit es nicht so rot aussieht. Paul will die Hand mit dem Stein in seine nehmen, ich sehe sie, ich sehe seine Hand näher kommen, sehe ihm in die Augen. Paul legt die Hände wieder ins Gras und stützt sich darauf ab.
„Versuch mal, den Winkel kleiner zu machen“, sagt er.
„Ich bin total schlecht in Geometrie“, sage ich. Ich frage mich, warum wir uns immer noch anschauen, und weiß nicht, was ich tun kann, außer zu lächeln.
„Cla-audi!“
Ich drehe mich um. Henni streckt mir von der Picknickdecke aus ein halbzerrupftes Gänseblümchen entgegen. Sein Schoß ist voll Gras und Erde.
Ich laufe zu ihm rüber und helfe ihm aufstehen, klopfe die Erde von seiner Hose und setze uns beide wieder auf die Decke.
Vielleicht ist es noch zu windig, um schwimmen zu gehen. Das Wasser ist warm genug, aber man würde den Kopf nicht eintauchen, sonst müsste man später die nassen Ohren in den Wind halten.
„Sollen wir?“ fragt Paul, als könne er Gedanken lesen.
Ich wiege den Kopf hin und her, was Paul wohl nicht mitbekommt. Er ist schon dabei, sich auszuziehen. Irgendwann merke ich, dass ich schon länger auf das Muttermal an seinem Rücken starre. Ich hebe Hennis Kopf mit beiden Händen.
„Henni, wir gehen schwimmen. Ins Wasser. Willst du mitkommen, baden?“
„Ba-den“, wiederholt er begeistert.
Während ich ihm den Pullover über den Kopf ziehe, bleibt er unter dem Kinn hängen, das wieder auf die Brust gesunken ist, so dass ich ihn etwas würge, als ich weiter daran herumziehe. Er beginnt sogleich, um sich zu schlagen.
Paul steigt in den See, steht bald bis zur Hüfte darin und lässt seinen ganzen Körper hineinfallen. Nachdem ich mich selber umgezogen habe, helfe ich Henni, sich an den Rand der Grasaue zu setzen, und führe seine Füße ins Wasser. Er quiekt, denn es ist kühl. Dann helfe ich Henni in den See. Der Grund ist mit Algen bedeckt. So dauert es eine Weile, bis Hennis zappelnde Füße Halt finden. Wenn ich ihn unter den Schultern festhalte, kann er sich gerade halten und ein paar Schritte gehen.
Paul ist zwischen meine Beine getaucht und hebt mich auf dem Rücken aus dem See, richtet sich auf und lässt mich wieder hineinfallen. Ich strecke den Kopf aus dem Wasser und blicke mich nach Henni um. Paul klatscht aufs Wasser, ich kneife vor den Spritzern die Augen zu. Es dauert, bis er begreift, und wir beide Henni suchen. Als wir seinen Kopf wieder an die Oberfläche bringen, hustet er und spuckt Wasser.
„Blödmann!“ sage ich zu Paul.
Henni keucht und schreit. Als wir ihn ans Ufer bringen und in ein Badetuch wickeln, entschuldigt sich Paul betreten. Während wir uns anziehen, sieht er mich kaum an.
„Paul! Was machst du denn hier?“
Hinter uns halten Fahrräder. Ein dicker Junge, bestimmt ein paar Jahre älter, grüßt Paul mit Handschlag. Mit ihm haben zwei Mädchen gehalten. Die eine kommt mir bekannt vor, sie hat rotblonde Haare, welche um ihr Gesicht in kleinen Wellen zur Seite abstehen, und mit pastellfarbenen Spangen zusammengehalten werden. Die andere ist kleiner und dunkelhaarig.
„Für di-ich", sagt Henni und reicht mir ein Grasbüschel. Die Jungen unterbrechen ihr Gespräch für einen Moment, runzeln die Stirn und fahren fort, Witze über die italienische Fußballmannschaft zu machen, bis die zwei Mädchen beginnen, ihre Räder gegen die Speichen des Jungen zu stoßen.
„Setzt euch doch“, sagt Paul, woraufhin der dicke Junge sein Fahrrad als erster ins Gras fallen lässt.
„Jannik“, stellt er sich vor und redet weiter mit Paul.
Die Mädchen wechseln verwirrte Blicke und folgen ihm.
„I-ich bin He-enni“, sagt Henni und zeigt auf mich, „da-as ist Cla-audi.“
Die Mädchen grinsen. Beide sehen mich flüchtig an. Die Kleinere hat sich die Augen mit dicken schwarzen Linien ummalt. Als ich ihr zunicke, senkt sie den Blick und lässt sich von der Rothaarigen etwas ins Ohr flüstern.
Sie ziehen sich aus, die Bikinis haben sie darunter schon an, und legen ihre Jeans und Shirts gefaltet auf einen Stapel.
„Katja“, ruft Jannik und die Rothaarige dreht sich um, „wartet mal.“
„Dann komm doch“, sagt sie, tunkt einen Zeh ins Wasser, quiekt, und steigt schnell in den See. Die Kleinere folgt ihr.
„Ist das Wasser kalt?“ fragt Jannik und sieht mich an. Ich nicke.
„Es geht“, sagt Paul.
„Und wie kennt ihr euch?“, sagt Jannik und schaut von mir zu Henni.
„Wi-ir sind Freu-eunde“, sagt Henni.
Jannik lacht.
„Ja“, sage ich, „wir sind Freunde.“
„Ich meine, du wohnst bei Paul in der Straße, oder?“
Ich nicke.
Paul liegt auf dem Rücken und hält einen Arm als Sonnenschirm über die Augen.
Jannik bietet uns Schokoriegel an. Henni greift danach, braucht aber meine Hilfe, um das Papier abzumachen.
Jannik schwärmt vom Segeln. Von den Möwen, dem Nervenkitzel im Sturm, wenn das Deck nass sei. Einmal sei er darauf ausgerutscht und mit dem Kopf gegen den Anker geschlagen. Er dreht mir den Kopf entgegen, dass ich zurückweiche, und zeigt mir die Narben an seiner Schläfe.
„Macht dir das angst?“
Ich antworte nicht. Paul setzt sich auf.
„Ich muss mal die Weiber ärgern gehen“, sagt er und zieht sich wieder aus. Auf seinem Rücken zeichnen sich die Wirbel ab. Als er wieder in die Badehose schlüpft, lacht Jannik. Vielleicht lacht er über irgendetwas anderes, aber ich fühle mich ertappt, und lasse auf Janniks Seite die Haare neben mein Gesicht fallen, das bestimmt wie eine Tomate aussieht.
Paul schwimmt den Mädchen nach, während Jannik noch ein paar Schokoriegel aus dem Rucksack holt und mir einen reicht, den Henni mir wegschnappt.
Jannik sieht Paul hinterher, der die beiden Mädchen mit Wasser bespritzt, feuert ihn an, „Mach sie fertig!“, und wendet sich wieder seinem Schokoriegel zu.
„Du wärst bestimmt ein guter Matrose“, sagt er knabbernd, „bist ja nicht so klapprig wie die meisten Mädels.“
Er klopft mir auf die Schulter. Ich rücke ab.
„Mein Onkel hat eine Yacht“, sage ich, „wir segeln immer auf dem Ijselmeer.“
“Warum sagst du das erst jetzt?“
„Womit hättest du sonst angeben können?“
Jannik spuckt neben sich ins Gras.
„Ich dachte, du wärst nicht so ne Zicke.“
Wir schauen beide auf den See, wo die Mädchen gemeinsam Paul untertauchen.
Als sie aus dem Wasser steigen, hebt Paul Katja auf die Schultern. Sie hämmert vorsichtig auf ihn ein.
„Lass mich runter!“
Henni streckt die Arme nach Paul aus und ruft, „Ich a-auch!“
Die Kleinere steht stocksteif daneben, blinzelt und versucht zu grinsen, indem sie einen Mundwinkel hochzieht. Um ihre Augen ist die Schminke weggespült worden und hat verwaschene Reste auf ihren Wimpern hinterlassen.
Als Paul Katja zu kitzeln beginnt, würgt sie ihn, indem sie die Arme um seinen Hals schließt, und springt herunter.
„Da merkt man wieder“, sagt Jannik, „dass Katja früher Judo gemacht hat.“
Katja grinst und befestigt eine Haarspange neu. Dann halten die Mädchen sich abwechselnd ein Handtuch als Vorhang, hinter welchem sie sich umziehen. Als sie sich nebeneinander auf ein Badetuch setzen, ein Stück entfernt von unserer Decke, weist Katja Paul den Platz neben sich zu. Da das Badetuch nicht besonders groß ist, berühren sie sich zwangsläufig an der Seite wie in einem vollen Bus. Zwischen Paul und mir ist der Kreis unterbrochen. Henni lehnt den Kopf an meine Schulter.
„Eigentlich müssten wir jetzt ein Spiel machen“, sagt Jannik.
„Plumpssack“, witzelt Paul.
„Ja“, sagt Jannik, „fang mich, Henni!“
Er grinst, schaut zu mir, sagt, „O“, als habe er vorher vergessen, dass ich da bin, oder als bemerke er erst jetzt, was er gesagt hat.
Die Kleine mit der verwischten Schminke flüstert Katja etwas ins Ohr.
„Was denn?“ fragt Paul.
Die Kleine zieht eine Flasche aus dem Rucksack, die mit knallpinker Flüssigkeit gefüllt ist und reicht sie rund. Jeder nimmt einen Schluck. Jannik hält die Flasche schräg nach oben und verdreht die Augen, um so zu tun, als wolle er sie alleine leeren.
„Ich a-auch“, sagt Henni.
„Nein“, sage ich, „das schmeckt nicht. Guck, ich trinke auch nichts davon.“
Henni verzieht das Gesicht, ich hole den Saft aus der Tasche und biete ihm davon an.
Henni stößt die Saftflasche weg, die anderen fangen an, Witze zu machen, und lachen, was Henni nur noch mehr aufbringt.
„Ihr habt ja keine Ahnung wie das ist, wenn man sich nicht alleine bewegen kann“, sage ich und es wird kurz still.
Jannik schaut wie vorhin, als er „O“ sagte, und sieht wie eine Comic-Figur aus.
Ich nehme Henni in den Arm, flüstere ihm ins Ohr, und kraule ihm den Nacken. Inzwischen sind mehrere Flaschen im Umlauf. Paul und Katja haben die Arme verhakt und trinken Brüderschaft. Plötzlich heult Henni neben mir auf. Ich atme tief.
„Ist doch nichts passiert, Henni“, sage ich, und die Mädchen beginnen prustend zu lachen.
Henni zappelt und Jannik weicht seinem Schlag aus.
„Hör auf, Henni“, sage ich laut, „langsam reicht es.“
Ich versuche, ihn festzuhalten, und bemerke erst jetzt das Klebkraut unter seinem Hemd.
Die Mädchen lachen laut auf, Jannik verfällt wieder in sein Comic-Gesicht; ich gehe auf Jannik zu, hocke mich vor ihn und packe ihn an den Schultern. Er ist viel größer als ich, hat aber nicht damit gerechnet und reagiert nicht sofort, als ich ihn an den Schultern rüttele. Paul aber ist schon aufgesprungen und zerrt mich von hinten in den Stand.
„He“, sagt er, „war doch nur Spaß.“
Er drückt mir die Arme gegen den Rücken. Katja baut sich vor mir auf und hält mir die Flasche mit der pinken Flüssigkeit entgegen.
„Wollten wir nicht spielen?“, sagt sie. „Hier, probier mal.“
Sie drückt mir den Flaschenhals an die Lippen. Die Flüssigkeit tropft auf den Boden.
„Bah“, macht die Kleine.
Katja weicht zurück.
„Woher weiß die eigentlich, wie das ist, wenn man sich nicht allein bewegen kann?“ fragt sie.
„Ja“, Jannik lacht wieder, „ich glaube, das möchte sie gerne mal erleben.“
Er schaut sich um, bis sein Blick auf das dicke Gummiseil fällt, mit dem ein Korb am Gepäckträger befestigt ist. Pauls Griff bleibt um meine Arme geschlossen. Sein Körper ist nah hinter meinem, aber ich kann mich nicht umdrehen, um sein Gesicht zu sehen. Ich schlucke und stelle fest, dass mein Mund ganz ausgetrocknet ist.
Henni schreit, während Jannik den Gepäckspanner um meine Arme bindet und Katja mir Taschentücher in den Mund stopft, welche die Freundin ihr anreicht.
„Psst“, sagt Katja plötzlich, „ich glaub, da war was.“
Paul drückt mich auf den Boden und Jannik hält Henni den Mund zu. Eine Weile ist es still. Aber niemand kommt. Nicht einmal entfernt sind Schritte zu hören.
„Und wenn später einer kommt?“ sagt die Kleine.
Jannik zuckt die Achseln, „Wir können sie in den See schmeißen!“
Die Mädchen lachen nicht mehr mit.
„Pass auf, wir hauen jetzt ab und es ist nichts passiert“, Katja sieht mich an, „gar nichts, kapiert?“
Die Mädchen raffen ihre Badetücher zusammen und springen auf die Räder.
Jannik bindet mich wieder los, schmeißt die Schokoriegel in seinen Ruck­sack und nimmt Paul auf dem Gepäckträger mit. Als sie sich entfernen, spucke ich die letzten Taschentücher ins Gras. Erst jetzt bemerke ich die Tränen auf Hennis Gesicht. Dass er ganz still geweint hat, wie ein Erwachsener.
Julia Powalla    15.09.2009   
Julia Powalla
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