POETENLADEN - neue Literatur im Netz - Home
 
 
 
 
 
 
 
Julia Powalla
Fahrgastwunsch


In der Straßenbahn sitzt eine Frau. Sie wippt auf ihrem Sitz hin und her, setzt sich erst auf die Vorderkante, dann eng an die Lehne, faltet ihre Hände im Schoß, streckt den Rücken durch und lehnt den Kopf auf die Hand, den Ellbogen an die Fensterscheibe. Ihr gegenüber sitzt ein Rothaariger, dessen Knie beim Halt der Bahn die der Frau berühren. Durch das Fenster sieht sie das missmutige Gesicht eines Autofahrers an der Ampel. Ein paar Sitze entfernt, hinter dem Fahrscheinautomaten, sitzt ein Mann, der rauchen will - so glaubt die Frau. Sie weiß nicht, ob es stimmt, meint aber, dieses Verlangen an seinem Blick ablesen zu können. Sein Blick ist seit einer Weile auf den Boden fixiert, aber hin und wieder schweift er nach draußen und hat auch die Frau schon gestreift. Sie selbst hatte nie eine Zigarette im Mund. Vielleicht stellt sie die Vermutung an, weil sie sich einreden möchte, dass es diesen Mann nach etwas verlangt, zu dem sie selbst keinen Bezug hat; und wirklich gibt es bislang keinen Bezug zwischen ihnen als eben jenen, dass sie in derselben Straßenbahn sitzen. Die Bahn überquert den Fluss. Der Mann hat unregelmäßige Bartstoppeln an der Seite des Kinns und darüber einen dünnen Schnitt, der darauf hinweist, dass er nicht gut mit dem Rasierer umgehen kann. Die Frau vermutet, dass er bald aussteigen wird. Vielleicht fährt er sich deshalb nervös durch die Haare, die sich rechts und links der Stirn lichten, weil er weiß, dass er gleich aussteigen wird und endlich rauchen kann. Die Straßenbahn fährt durch einen Tunnel; draußen ziehen Leuchtröhren vorbei, deren Licht den Mann immer wieder streift. Die Ärmel seines Pullovers sind hochgeschoben und legen seine dunkel behaarten Unterarme frei. Vielleicht sind die Ärmel zu lang und der Mann mag es nicht, wenn sie ihm über die Hände fallen. Die Bahn verlässt den Tunnel und hält. Der Rothaarige erhebt sich und steigt aus. Über seinem Sitz hängt ein grauer Schal. Die Frau überlegt, ob er möglicherweise dem Rothaarigen gehöre. Während er aussteigt, sagt sie sich, dass der Rothaarige den Schal bestimmt gesehen habe und es deshalb nicht seiner sein könne, dass auch die Dame auf der anderen Seite des Ganges den Rothaarigen gesehen habe und ihm sicherlich etwas gesagt hätte, wenn es so ausgesehen hätte, als ob es sein Schal gewesen wäre. Nachdem der Rothaarige draußen an ihrem Fenster vorbeigegangen ist, schließen sich die Türen und der Frau wird klar, dass der Schal eigentlich nur der des Rothaarigen gewesen sein kann, weil er sich, hätte dieser schon vorher über dem Sitz gehangen, nicht auf denselben Platz gesetzt hätte; weil sich niemand auf einen Platz setzt, über welchem ein Schal hängt, wenn daneben ein anderer Platz frei ist.
Ein dicker Mann setzt sich neben die Frau. Er riecht nach Staub und aufdringlichem Parfüm. Die Frau dreht ihren Kopf von ihm weg, zum Fenster, und beschaut die Rotdornsträucher am Straßenrand. Draußen läuft ein Mädchen mit Einkaufstasche in der Hand hinter der anfahrenden Bahn her, als könne es sie einholen und aufspringen. Die Frau ärgert sich über ihre fehlende Reaktion zu dem verlorenen Schal.
„Wohin fahren wir heute?“ fragt der dicke Mann.
„Freunde besuchen“, antwortet die Frau und ärgert sich, dass sie auf eine solch intime Frage eingegangen ist. Der Mann, der rauchen wollte, sitzt nicht mehr auf seinem Platz. Vielleicht ist er ausgestiegen, denkt sie, vielleicht raucht er bereits. Dabei ist sie sich sicher, dass er, nachdem die Bahn wieder anfuhr, noch hinter dem Fahrscheinautomaten gesessen hatte.
An der nächsten Station klemmt die Tür. Eine drahtige ältere Frau drückt ein paar Mal auf den Halteknopf und sucht dann eine andere Tür. Der dicke Mann zieht eine Packung Gummibärchen aus der Tasche und fährt sich über die Wange. Seine Jacke drückt schon eine Weile gegen die Hüfte der Frau, die sich von der Berührung löst, enger ans Fenster rückt und den Blick abwendet, um zu verhindern, dass ihr ein Gummibärchen angeboten wird. Sie ist schon oft mit dieser Linie gefahren, aber heute fährt sie weiter als gewohnt und muss feststellen, dass ihr die graubraunen Betonbauten hinter dem Fenster ganz und gar fremd sind.
Als die Straßenbahn vor einem davon hält, geht die Tür immer noch nicht auf. Eine Frau mit dicker Brille klopft von außen dagegen. Zwei Mädchen kommen herbei gerannt und hämmern gemeinsam mit ihr gegen das Glas. Niemand scheint hier aussteigen zu wollen. Wie sie sich in der Bahn umblickt, sieht die Frau außer dem Dicken nur noch ein paar junge Männer, die alle Schnurrbärte und graue Jacken tragen. An alle drei Türen ihres Waggons wird von außen geklopft. Hinter den Klopfenden sammeln sich andere Leute, strecken ihre Arme aus und reißen die Münder auf. Die Frau versteht nicht, was sie rufen, aber sie sind sichtlich verärgert. Die jungen Männer mit Schnurrbart nehmen keine Notiz davon. Die Frau überlegt, ob sie aufstehen soll, um zu testen, ob man die Türen von innen mit Knopfdruck öffnen kann, aber die Bahn fährt schon weiter. Draußen weichen die Betonbauten zertretenen Grünflächen und Sandkästen mit Metallgerüsten darin.
„Sie sagten, dass Sie Freunde besitzen“, sagt der dicke Mann.
„Ja“, sagt die Frau.
Zwei der jungen Männer mit Schnurrbart stehen von ihren Sitzen auf und setzen sich ihr und dem dicken Mann gegenüber; den Schal auf der Lehne des Sitzes, wo der Rothaarige gesessen hatte, beachten sie nicht. Die Frau kann den Schweiß der jungen Männer riechen.
„Nennen Sie ihre Namen“, sagt der dicke Mann und beugt sein rundes Gesicht der Frau entgegen. Sie lehnt sich nach hinten, zwischen Fenster und Sitz, und antwortet mit schwacher Stimme, „Das kann ich nicht.“
Der dicke Mann lächelt, als wisse er viel über die Frau. Sein kalter Atem stößt an ihre Wange. Sie möchte aufstehen, möchte sich aber nicht an dem dicken Mann vorbeizwängen. Als die Bahn nach einiger Zeit wieder hält, vor einer weiteren kleinen Siedlung aus Betonbauten, sind es nur ein paar Kinder, die draußen vor den Türen stehen, diese vergeblich zu öffnen ver­suchen und gegen die Scheiben hämmern. Die Frau versucht, Augen­kontakt zu den Kindern aufzubauen, aber obwohl die Blicke der Kinder stetig hin- und herwandern, treffen sie nie den der Frau. Derweil fangen die beiden Männer ihr gegenüber an, sich zu unterhalten.
„Mit dem Auto zu fahren, gibt einem das beruhigende Gefühl, etwas für das eigene Fortkommen zu leisten.“
„Aber sehen Sie, es ist viel bequemer, sich hierher zu setzen und keinen Gedanken an den Straßenverkehr zu verschwenden.“
„Wenn ich es eilig habe, werde ich nervös. Dann möchte ich mir wenigstens einbilden, ich könnte etwas dafür tun, mein Ziel schneller zu erreichen.“
„Ich habe mich von solchen Einbildungen weitgehend befreit. Wenn Sie die Benzinkosten und den Kaufpreis des Autos mit den Fahrscheinen aufrechnen, kommen Sie niemals so billig hin.“
Die Frau schaut den Kindern nach, die an der Haltestelle zurückbleiben. Als der dicke Mann erneut zu sprechen beginnt, verstummen die beiden anderen auf der Stelle. Er dreht sich der Frau zu und schaut ihr in die Augen.
„Legen Sie ein Kleidungsstück ab“, sagt er und lässt den Blick auf ihr ruhen. Auch die Männer mit den Schnurrbärten interessieren sich für ihre Reaktion. Die Frau sitzt steif neben dem dicken Mann und wünscht sich, dass irgendeine Musik liefe.
„Was genau Sie ablegen, ist egal“, sagt der dicke Mann, „die Hauptsache ist, dass Sie es langsam tun.“ Die Männer mit den Schnurrbärten sehen sich gegenseitig an, nicken und schauen wieder zu der Frau. „Sonst müssen wir noch einmal von vorne anfangen.“
Die Frau fühlt ein Ziehen an der Schulter und eine Leere in ihrem Hals. Der dicke Mann macht der Frau eine einladende Geste. Sie beschließt, ihren Pullover auszuziehen, unter welchem sie noch ein kurzärmliges Hemd trägt. Sie legt ihre Arme über Kreuz an die Taille, greift nach dem Bund des Pullovers und zieht ihn vorsichtig hoch, wobei zunächst die untere Hälfte des Hemdes am Pullover hängt und ein Stück ihres Bauches freilegt. Einer der Männer mit Schnurrbart greift nach dem Hemd und zieht es wieder herunter, so dass es wieder über ihren Bauch fällt. Die Frau zieht ihre Arme aus dem Pullover, zieht ihn über den Kopf und reicht ihn dem dicken Mann. Der gibt ihn an die Männer mit Schnurrbart weiter, die ihn hastig ergreifen und die Nasen an den Stoff drücken. Der dicke Mann lächelt und nickt der Frau zu. Die Bahn hält. Hinter den Fenstern scharen sich Familien, die gegen die Türen drücken und schlagen. Das Pochen an den Scheiben schwillt an und bekommt einen gleichmäßigen Rhythmus. Der dicke Mann fordert die Frau mit einer Geste auf, sich zu erheben. Die Frau steht auf; auch die Männer mit Schnurrbart erheben sich, um sie vorbeizulassen. Immer noch hält jeder von ihnen ein Ende des Pullovers fest. Die Frau geht auf die Tür zu, drückt den Knopf, über dem die Aufschrift ›Fahrgastwunsch‹ leuchtet, und wartet. Der dicke Mann beginnt, laut zu lachen. Draußen vor den Türen hören die Leute auf zu klopfen und treten zurück.
„Nächstes Mal“, sagt der dicke Mann und macht eine Pause, in welcher sich die Tür öffnet, „werden es zwei Teile sein.“
Als die Frau aussteigt, sind die Leute still und bilden ein Spalier.
Julia Powalla    15.09.2009   
Julia Powalla
Prosa