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Emma Braslavsky
Das Blau des Himmels über dem Atlantik

Das Blau der Sehnsucht und die Anderen

Emma Braslavskys zweiter Roman Das Blau des Himmels über dem Atlantik holt die Lebenden und die Toten an einen Tisch.

Emma Braslavsky | Das Blau des Himmels über dem Atlantik
Emma Braslavsky
Das Blau des Himmels über dem Atlantik
Roman
Claasssen 2008
Am Anfang: Der aufgebahrte Leichnam einer Frau in einer Kirche, um sie herum ihre sieben überlebenden Kinder, die unterschiedlicher nicht sein können. Symbolträchtig dafür ist das Zwillingspaar Wolfgang und Viktoria, er, Ausbilder bei der NVA, dessen Job es ist „Wölfe zu kommandieren“, sie, eine natur­religiöse Ziegenzüchterin, die das Geschrei der Pflanzen in einem Versuchs­labor nicht ertragen konnte und im Affekt den Laborleiter erstach. „Sarg in die Grube. Ab in die Vergangenheit, in die darunter liegenden Zeitschichten, in denen einer in Ruhe abwesend sein kann,“ gibt der jüngste Sohn Günther seiner Mutter mit auf ihre letzten Reise. Auch er und seine Geschwister treten am Tag der Beerdigung eine Reise an, zurück in eine Vergangenheit, die ihre gemeinsame war, an die sie aber alle verschiedene Erinnerungen haben.

Emma Braslavsky knüpft mit ihrem neuen Roman Das Blau des Himmels über dem Atlantik an die Handlung ihres Debüts „Aus dem Sinn“ an. Wieder geht es um das Ehepaar Eduard und Anna, doch während Braslavsky in ihrem ersten Buch aus Eduards Leben erzählt, dreht es sich in ihrem neusten Roman um Anna und die Vergangenheit ihrer Familie. Wie in „Aus dem Sinn“ ist es auch jetzt wieder ein Vertriebenenschicksal – Braslavsky scheint ihr Thema gefunden zu haben. Wieder geht es um große universelle Fragen: Wer bin ich? Warum bin ich der geworden, der ich bin? Wieder sind die Vorfahren, Dreh- und Angelpunkt bei der Suche nach der eigenen Identität.

Annas Familie ist den Fallstricken des vergangenen Jahrhunderts nicht heil entkommen. Da ist die Großmutter Esther, verheiratet mit einem versoffenen Schläger, die in dem kleinen schlesischen Ort Lauterbach ihre drei Töchter allein aufzieht, nachdem ihr Mann zu Tode kam. Über den Tod des Großvaters sind sich die Geschwister uneinig: Hat die Großmutter ihn selbst umgebracht, als er versuchte sie zu vergewaltigen? Und warum verschwand sie eines Tages spurlos? Die Mutter schweigt darüber. „Mutter hinterlässt keine Vergangenheit“ heißt es im Roman. Außer dem ältesten Bruder Herbert waren die Geschwister noch zu jung, um sich an das Geschehene zu erinnern. Aber Herbert ist tot und auch sein Tod ist ungeklärt und scheint auf mysteriöse Weise mit dem Verschwinden der Großmutter zusammen­zuhängen. So sind die Geschwister auf „Mutmaßungen über Großmutter Esther“ angewiesen, in denen jeder einzelne seine eigenen Charakter­eigenschaften und Weltanschauungen unbewusst auf die unbekannte Vorfahrin projiziert, aber das Umgekehrte behauptet: Anna glaubt, dass sie ihre musikalische Begabung von ihrer Großmutter haben muss, folglich ist diese in ihren „Mutmaßungen“ eine manische Geigenspielerin. Für den protestantischen Pfarrer Richard ist Esther eine Mystikerin gewesen. Wir sind wer wir sind nicht aus uns selbst heraus, sondern setzen unsere Identität aus der vermeintlichen unserer Vorfahren zusammen. „Jeder muss wissen, wen er darstellt, jeder stellt den dar, den er kennt, jeder kennt wen er will“, fasst der Theaterregisseur Günther dieses Dilemma zusammen. Hinter jeder Maske, befindet sich eine weitere. Brillant ist Braslavskys Idee dieser Problematik einen karnevalesken Rahmen zu geben: Die Beerdigung der Mutter findet mitten in der Faschingszeit statt. Allerlei kuriose Gestalten kreuzen den Weg der Beerdigungsgesellschaft. Das normale Raum-Zeit-Gefüge der Welt scheint außer Kraft gesetzt. Ein Zwischenreich: Die Toten sind lebendig, die Lebenden tot. In einer Kneipe begegnen die Geschwister einer Gruppe Akademiker, die von sich selbst Totenmasken angefertigt haben.

Über allem schwebt der große Traum der Mutter nach Amerika zu reisen, den sie seit ihrer frühsten Kindheit hatte. Ihr Wunsch den Atlantik zu überqueren und ohne Vergangenheit neu anzufangen ist zu einem Familienmythos geworden. Der genordete Kompass ist die Reliquie der Mutter, die ihn aber nur ein einziges Mal benutzte: 1945 auf der Flucht aus dem schlesischen Lauterbach in das thüringische Lauterbach. Nichts hat sich geändert, die Sehnsucht ist geblieben. Als die Mutter alt wird und erkennt, dass sie in diesem Leben den Atlantik nicht mehr überqueren wird, schafft sie sich einen blauen Wellensittich an, der ihr alter ego wird: Cowboy, so sein Name, „sollte alles machen, was sie nicht konnte. Sie wollte ihm beibringen, irgendwann über den Atlantik zu fliegen.“ Am Ende geht der Wunsch der Mutter doch noch in Erfüllung und sie überquert in ihrem Sarg den Atlantik wie den Styx im Kahne des Charon.

Braslavsky beschwört detailreich in ihrem Roman viele Stimme, lustige, sarkastische, nachdenkliche und traurige. Zum Schluss sind es zu viele, die Handlung droht an einigen Stellen ins Kitschige abzurutschen, etwa wenn Richard in seiner Pfarrkirche von einem Physiker um den Sarg seiner Mutter Messungen vornehmen lässt. Mit dem Ergebnis: „Es könnte sich bei der momentan hohen Dichte an bio-photoner Energie um unsere Ahnen handeln.“ Auch die Hintergründe des Todes von Herberts Vater wirken in ihrer Fantastik zu aufgebläht und stören die Handlung des ansonsten sehr intelligenten Romans erheblich. Will man für „Das Blaue vom Himmel über dem Atlantik“ ein Sprichwort bemühen, dann wohl am besten: Weniger ist oft mehr. Doch lässt der Ideenreichtum Braslavskys auf noch viele weitere interessante Bücher hoffen.
Emma Braslavsky wurde 1971 in Erfurt geboren und arbeitet seit 1999 als Autorin, Kuratorin und Übersetzerin. 2005 erhielt sie das Werkstatt-Stipendium des Literarischen Colloquiums Berlin (LCB) für die Arbeit an ihrem ersten Roman und 2007 den Uwe-Johnson-Förderpreis.
Website der Autorin
Emma Braslavsky ist auch in der Anthologie Quietschblanke Tage, spiegelglatte Nächte (poetenladen 2008) vertreten.
Karen Lohse     11.10.2008   
Karen Lohse