Es gibt eine Schmetterlingsart, die in größeren Gruppen zusammenlebt. In friedlichen Zeiten akzeptieren sie auch artfremde Exemplare. In bedrohlichen Situationen aber schließen sie diese aus der Gemeinschaft aus, um das eigene Überleben zu sichern: „Wenn es um das Fortbestehen ihrer Gruppe oder um ihr eigenes Überleben geht, opfern sie ohne Zögern den Schmetterling, der nicht einer von ihnen ist“, begründet Leutnant Adolf Buller seinen Befehl das kleine Bergdorf von „Fremden“ zu „säubern“ (nicht ohne Grund hat ‚Buller' die gleiche Buchstabenzahl wie ›Hitler‹). Wenige Tage zuvor ist er mit einem Regiment über die Landesgrenze gekommen und hat der Dorfbevölkerung erklärt, dass sie fortan zum „Reich“ gehören würden. Es kommt zu einer Machtdemonstration an deren Ende ein Dorfbewohner hingerichtet wird und zwei andere, die das Stigma der „Fremden“ aufgedrückt bekommen haben, in ferne „Lager“ deportiert werden. Einer davon ist Brodeck. Das was ihn zum „Fremden“ macht, ist das „fehlende Stück Haut zwischen seinen Schenkeln“. Aber Brodeck überlebt und kehrt nach dem Abzug von Bullers Truppe in die Gemeinschaft der Schmetterlinge zurück. Er ertrug das Grauen des Lagers, weil er sich das Geschehen dort als eine Ausnahme von der Regel erklärte. Brodeck hält die Hoffnung aufrecht, dass diese schreckliche Verfehlung aller Menschlichkeit mit seiner Rückkehr in das Heimatdorf und zu seiner geliebten Frau ungeschehen wird. Seine Hoffnungen brechen alsbald zusammen: Die feindlichen Truppen haben seine Frau vergewaltigt. Noch schlimmer: Die Dorfbewohner sahen nicht nur tatenlos zu, sondern beteiligten sich selbst an der grauenvollen Tat. Doch Brodeck, der nach seiner Rückkehr psychisch und physisch am Ende seiner Kräfte ist, bleibt mit seiner Familie im Dorf. Eines Tages kommt der „Andere“ in das Dorf. Das ist ein exotisch aussehender Mann mit ungewöhnlichen Verhaltensweisen, der sich allein dadurch meilenweit von der Lebenswelt der Dorfbevölkerung entfernt. Er mietet sich im Gasthof ein und bleibt in seiner allgegenwärtigen Sichtbarkeit unsichtbar. Der „Andere“ wandert mit Zeichen- und Notizblock im Dorf und in den Bergen herum. Ansonsten schweigt er. Der „Andere“ versucht sich überhaupt nicht den Dorfbewohnern zu erklären. Die Gerüche über ihn kochen hoch: „Dieser Mann war wie ein Spiegel [...] er sagte nichts, man sah nur sich selbst in ihm.“ Am Ende steht der kollektive Mord an ihm, über den Brodeck, der daran nicht beteiligt war, einen Bericht schreiben soll. Die Gewalt der fremden Truppen, die Claudel mit dem altertümlich klingenden Wort „Fratergekeime“ bezeichnet, ist auf fruchtbaren Boden gefallen. Denn die Dorfgemeinschaft war auch schon vor ihrer Ankunft alles andere als friedlich. Der Keim der Gewaltsamkeit steckte tief hinter den verkniffenen Gesichtern. Denn wer einmal Blut geleckt hat, giert immer wieder danach. „Brodecks Bericht“ ist ein Zeugnis über die Macht der Masse. In ihr brodelt etwas, das sich jederzeit in Gewaltexzessen entladen kann. Brodeck versucht in seinem Bericht diesen dunklen Kern zu ergründen, muss aber erkennen: Das Böse ist unberechenbar. Man kann es in kein „Wenn dann“ – Schema pressen. Das ist auch Claudels Fazit, das er schon in den beiden vorangegangenen Romanen, „Die grauen Seelen“ und „Monsieur Linh und die Gabe der Hoffnung“, gezogen hat. Einen Hoffnungsschimmer gibt Claudel angesichts solcher düsteren Zusammenhänge dem Leser doch zur Hand: Der Chronist Brodeck, der an dem Mord nicht beteiligt war und ihn scharf verurteilt, ist ein Intellektueller. Als einziger unter den Dorfbewohnern war er eine Zeit lang in der Stadt und hat studiert. Macht das Wissen der Bücher und die Weltoffenheit einer Universität die Seele stark gegen das Böse? Claudel gelingt es meisterhaft, die Düsternis der Seelen in der Atmosphäre des Dorfes und der Berglandschaft zu spiegeln. Überall gibt es Zeichen, die keiner deuten kann und die darum umso unheimlicher wirken: Warum finden die Dorfbewohner seit einiger Zeit immer wieder massenweise tote Füchse, die keinerlei Symptome einer Krankheit aufweisen? Die Geschichte geht um, dass sie freiwillig in den Tod gegangen sind. Aber ist das nicht gegen die Natur? Unnatürlich sind auch die immer wieder kehrenden Gräueltaten der Geschichte, auf die Claudel in seiner Trilogie verweist. In Interviews erklärte er, kein bestimmtes historisches Ereignis und keine bestimmte Region im Kopf gehabt zu haben. Dennoch sind die Hinweise im Text deutlich: Die Handlung spielt in Europa im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Die archaischen, oft sprechenden Namen der Figuren zeigen aber: Es geht nicht um den repräsentativen Menschentypus dieser Zeit, sondern um den Mensch an sich. Philippe Claudel ist mit „Brodecks Bericht“ zweierlei gelungen: Eine nachdenklich machende Studie über die Abgründe des menschlichen Seins und ein packend geschriebener Roman, an dessen Ende man Brodeck nicht ziehen lassen will.
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Karen Lohse
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