Die Kindheit ist ein magischer Zeitraum – obwohl oder gerade weil sie sich in einer Zwiespältigkeit präsentiert wie kaum eine andere Lebensperiode. Sie gilt als Phase naturgegebener Unschuld, die in engelsgleichen Kindergesichtern und den dahinterliegenden Hirnen sitzt. Der andere Pol ist ihre Interpretation als ein Zustand, in dem vor aller gesellschaftlicher Prägung nicht die natürliche Unschuld dominiert, sondern das wilde Böse der Kreatürlichkeit. Das starke Tier überlebt, weil es das schwache tötet. Die Wahrheit liegt, wie so häufig, dazwischen oder vielleicht doch eher darunter? Um das auszuloten, nimmt Georg Klein den Leser mit auf die Reise in eine labyrinthische Welt aus Licht und Schatten, verbotenen Orten und unausgesprochen Geheimnissen. Die Handlungszeit ist einer jener Kindersommer der Nachkriegszeit, die sich alle glichen und doch verschieden waren. Der Wortführer einer kleinen Kinderbande wird am Ende dieses Sommers ins Gymnasium wechseln und so mit schnellen Schritten der Kinderwelt enteilen. Doch gerade jetzt wird der namenlos bleibende Ältere Bruder gezwungen, nochmals in frühe Kinderjahre zurückzukehren. Eine schlimme Fersenverletzung macht ihn so bewegungsunfähig, dass er zeitweise auf den umgebauten Kinderwagen seiner kleinen Zwillingsbrüder angewiesen ist. Das, was die acht Kinder in Kleins Roman erleben, ist ein fantastischer Trip in die Abgründe des menschlichen Bewusstsein. Was treibt die Menschen zu ihren Handlungen? Können sich an bestimmten Orten die Schatten der Vergangenheit materialisieren? „Die Lichtlosigkeit der letzten Tage hatte etwas Lebendiges aus dem Backstein gesaugt“, heißt es im Roman. Die Erwachsenen bieten den Kindern keine Orientierungspunkte, denn Väter und Mütter haben in dieser Zeit wenig Interesse an ihrem Nachwuchs. Zu sehr haben sie noch mit den Folgen des vergangenen Krieges zu kämpfen, sind das, was Georg Klein treffend als „Soldaten im anhaltenden Nachkrieg“ beschreibt. Zwischen Erwachsenen und Kindern gibt es kein innig vertrauensvolles Verhältnis. So sind die Kinder auf sich allein gestellt, allein mit ihren Fragen und Bedrängnissen, die in den zarten Seelen unter den Körperoberflächen zu etwas Bösartigem wuchern. Das Unterirdische ist in seiner ganzen Bedeutsamkeit ein stets präsentes Element in Kleins Roman. Überall breitet es sich aus: in den Köpfen und Herzen, in Gebäuden, sogar die Natur wird von einer monströsen Unterwelt infiltriert. Die Kinder erkunden auf der Suche nach einem verschwundenen Mitglied ihrer Gruppe die labyrinthische Kellerwelt einer verlassenen Gartenwirtschaft. Ein genialer Kunstgriff des Autors ist der Name dieses Lokals: „Bärenkeller“. Die Tiefe seines Unterbaus wird damit semantisch noch tiefer. Viel gäbe es von diesem grandiosen Roman noch zu berichten: die erstaunlichen Perspektivwechsel, die hypnotische Sprache, der Spannungsbogen, der auf den letzten Seiten den Leser förmlich in das Buch saugt. Kurz: Der „Roman unserer Kindheit“ hat völlig zu Recht den diesjährigen Preis der Leipziger Buchmesse bekommen, denn Georg Klein gelingt es auf bemerkenswerte Weise, überzeitliche Fragen und Ängste der Menschwerdung, in ein spannendes Lektüreerlebnis zu verwandeln.
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Karen Lohse
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