Karla Reimert
An Felice
Dieses eine rostige Tau noch,
diese Container, diese übergroßen Kräne einer Moderne,
die uns das Treideln im hohen Wasserstand lehrt,
dahinter dieses diaphane Wasser heute dieser Himmel,
dieser geisterhaft leere Kai mit seinen Backsteingedanken,
dem Geruch von Sägespäne und Pferdeurin,
und vor den Pollern fließt die Sonne mit weit aufgerissener Blende
in die Erinnerung an ein altes Haus ...
Ein enger Hinterhof und diesen Stuhl:
Dieser kleine Tisch und die Brille, die auf ihm liegt
und dieses weit offene Buch – noch nicht gelesen –
diese knatternden Fahnen, noch ein Schwenk: Hamburg
ist der zweitgrößte Warenumschlagplatz Europas,
schwarz liegen die Schiffe hier wie Tasten auf einer Schreibmaschine,
schon klar, aber ist diese Sonne nicht unfassbar, sagst du
und schnell jetzt! denn die Container hängen
zitternd an den Kränen und schweben über den Ponton
– gealterte Trapezkünstler,
denen niemand mehr applaudiert –
unter diesen unglaublichen Himmeln die aufkommenden Wolken
diese Fahnen diese Wüste dahinter diese Himmel
diese rostigen Klüsen, durch die immer wieder Taue gleiten,
dieses brackige Wasser heute, beinahe nackt vor uns
von Westen siehst du den Pegel, wir werden tiefer
und tiefer, die langen fliehenden Schatten der Poller
zittern wie Trommelwirbel, gerade als die Taue
zum letzten Mal gelöst werden und Container in dieses Wasser
klatschen, das Orchester des riesigen Hafens für einen Moment
still schweigt und darüber nachzudenken scheint
ob Artistik, Reisen und Arbeiten dasselbe sind
und wie nur die Schatten der aufkommenden Wolken
noch erinnern an ein altes jüdisches Haus
in der Immanuelkirchstraße, Berlin
Der Hof, der so eng ist, Felice, dass kein Baum zuende wächst,
und der Stuhl, und der kleine Tisch mit der Troddeldecke,
deiner Brille, die auf ihm liegt
und dieses offene Buch von mir
– immer noch nicht gelesen –
Amerika
Karla Reimert 19.04.2009
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Lyrik
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