Jayne-Ann Igel
Berliner Tatsachen
In feinsten Nuancen
Kritik
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Jayne-Ann Igel
Berliner Tatsachen
Urs Engeler 2009
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Themen aus Politik und Gesellschaft haben in Erzähltexten ihren festen Platz, werden jedoch selten in poetischer Schreibweise präsentiert. Anders in Jayne-Ann Igels Erzählung „Berliner Tatsachen“, die sich durch ihre besondere lyrische Dichte auszeichnet: eine Dichte, die im modernen Erzähltext nicht nur ihresgleichen sucht, sondern es zudem schafft, gesellschaftliche Wirklichkeit als Spannungsraum erfahrbar zu machen.
Die gesellschaftliche Wirklichkeit hier ist die DDR der 70er- und 80er-Jahre, die „der Zeitgenosse“, so die schlichte Bezeichnung für die Hauptfigur, erlebt. Bild für Bild schiebt sie sich auch vor die Augen des Lesers, entsteht die Kammer, in der der junge Mann im Halbdunkel des Mittags liegt und eine Vergangenheit Revue passieren lässt, die ihn an diesen namenlosen Zufluchtsort führte. In dieser Kammer hat jedes Möbelstück seine Geschichte. Auch der Tisch, an dem einst bei den Großeltern der Familienkaffee abgehalten wurde und an dem nun, im Tagtraum des Mittags, die Seinen über ihn zu Gericht sitzen. Der Gerichtsbarkeit von Vater und Bruder, die ihn an den Stirnseiten des Tisches, ohne Gesichter, anschweigen, kann er sich nicht entziehen – so wie er sich den Staatsorganen nicht entziehen kann, bei denen beide angestellt sind. Was der Zeitgenosse ab sofort mit den verlässlichen Mitteln der Sprache auslotet, ist umfänglicher als die eigene Geschichte. Es ist „dieser atmosphärische druck, der dem wesen eigen.“
Zu diesem Zweck geraten scheinbar selbsterklärende Begriffe wie Gott und Staat unters Mikroskop sprachlichen Ausdrucks und zeigen offenherzig ihre Struktur. Markant der Auftritt Frau W.s, der Nachbarin, die die Ordnung des Hauses wiederherstellt: „das vorrücken des besens, eimers, der nässe auf gerader linie, so sie das linoleum wischte, auf den knien …“. Die Vision vom Strafgericht wird jäh verstärkt durch Putzgeräusche, die aus dem Flur in die Kammer des Träumenden dringen – dem Flur, der ihm „als fortsatz eines fremden vorlebens erschienen war.“ So ergibt sich das Bild einer kaum verortbaren Gefangenschaft. „Verriegelt der zugang zur mansarde, ab und an war ein klopfen zu vernehmen, wenn der besen, das instrument der w., gegen die fußleiste oder das türblatt stieß.“
Wenigstens lebt der Zeitgenosse in teilhauptmiete, bevor sein Weg sich fortsetzt in die teilhauptstadt o'berlin, wo mithin, wieder unter Mitwirkung von Vater und Bruder, ein weiterer Teil gegenwärtiger Tatsachen geschaffen wird. Stets sind die fein angedeuteten zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Wirkungszusammenhänge als „Fortsatz eines fremden Vorlebens“ zu verstehen, das von den Vätern und Vorvätern herkommt, aus Fluren und Vorfluren, und, jahrtausendalt, die Zustände in verschiedenen Kulturen bestimmt: „Der Kiefernbestand in den randlagen, das knistern ihrer rinde, als würde sie von einer glut versengt, schälte sie sich allmählich ab, und zurück bliebe der durchglühte stamm, blieben die glutnester – nein, sie hatten es nicht vermocht, vorzudringen bis mitte , die abordnungen des kieferngeschlechts, mit ihrer glut unter der asche ...“.
Das „Kieferngeschlecht“ wütet hier wie dort, lauscht man mit der weichen Unerbittlichkeit dieses Zeitgenossen in die eigene Seele oder Mitte und von da hinüber in die Amtsstuben, Glutnester mancherlei politischer oder religiöser Organisation. Igel führt das Spiel mit sprachlichen Bedeutungen (Fußleisten, Schreib-, Akten- und Sägeblättern, Instrumenten, Besen, Glutnestern jeglicher Zeit) zu selten erreichter Meisterschaft und entwickelt daraus eine schlüssige sprachphilosophisch-ontologische These, die zur genauen Interpretation einlädt. Diese Art Sinnstiftung – in Wahl und Verknüpfung der Textwörter begründet, ins Weltanschauliche weit hinausweisend – kennt man von Thomas Mann, Fontane, E.T.A. Hoffmann, Novalis ... : Es ist nicht übertrieben, die Dichtung Jayne-Ann Igels hier einzuordnen, wo sie direkt in den romantischen Kontext gehört: Das gleiche Vexierspiel, die semantische Leerstelle der gebrochenen Form und die kunstvoll hergestellte Bedeutungsdichte, die geradewegs in die Dimension des Sprachklanges hineinläuft.
Auf der klanglichen Ebene schließlich fügt sich alles, was auf der Erzählebene gebrochen scheint, zu einer einfachen harmonischen Einheit zusammen. Man darf auch diesen Aspekt interpretieren: Der Text ist von der ersten bis zur letzten Zeile musikalisch. Während des Lesens wird man fortgetragen von seinem leichten, konsequent gleichbleibenden Rhythmus – und damit lösen sich die von Urkräften getriebenen Widersprüche, die an keinem Familientisch oder Gerichtshof je zu bereinigen wären, im allumfassenden Klangerlebnis auf. (Man mache die Probe mit den obigen Zitaten.) Wer nach „Tatsachen“ fragt, klopfe sie aus den Erzadern des Textes, er lasse sich, Satz für Satz, in diesen Zauberberg hineinlocken, in diese vielstimmige Hymne, in der das Unsagbare unserer Welt in unendlich feinen Nuancen von Hell und Dunkel ineinanderfließt.
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Katrin Ernst
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