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Thomas Böhme
Der Schnakenhascher

Das andere Auge
  Kritik
  Thomas Böhme
Der Schnakenhascher
Roman
Edition Cornelius 2010
17.50 €


Kurz vor Ende dieses andächtig erzählten Kindheits­romans verblüfft eine uner­wartete Wendung ganz und gar. Weit mehr als ein origi­neller Kunstgriff, führt sie geradewegs zum Ausgangs­punkt zurück, an dem der Erzähler von Sandalen im November schreibt und sich bemüht zu begreifen, was damals mit mir, mit meiner Wahrnehmung passierte. Ja, was passierte „damals“ eigentlich?

Der Erzähler, der etwas verschrobene Mittfünfziger Alexander Liebezeit, sitzt im Dachgeschoss seines Geburtshauses und tippt seine Kindheitsgeschichte in den Computer: Wir sehen ihn nachdenken, tippen, Papier zerknüllen, wir werden Zeugen erster Resignation, wenn es ihm nicht gelingt, das aus dem Gedächtnis Hervorgeholte zu einer befriedigenden Deutung zu bringen, wir ahnen, dass es ab jetzt darum geht, ob er der Undeutbarkeit der Dinge gewachsen ist.

Alexanders Kindheit ist, wie bei Geschwistern üblich, eng verknüpft mit der seines jüngeren Bruders Raul, weshalb die Deutungsversuche des Erwachsenen jene Beziehung umkreisen – eine Beziehung, geprägt von Geschwisterliebe, Vertrautheit und fortschreitender Entfremdung, in die der Leser des Romans Episode für Episode Einblick nimmt: Die Brüder gehen zusammen in den Zirkus oder ins Kino, sie teilen kindliche Erfahrungen und adoleszente Geheimnisse miteinander und verbringen ihre Ferien bei den Großeltern auf dem Land, bis Raul, der schon früh die Angewohnheit entwickelte, in Gestalt einer Fliege den Lampenschirm zu umkreisen, eines Tages ganz verschwunden ist.

Was ist Realität? Insbesondere diese Frage stellt der Roman, indem er den Leser über eines frühzeitig informiert: Raul ist eine Erfindung Alexanders. Präsenter als dieses Wissen jedoch sind die vielen gemeinsamen Erlebnisse der Geschwister, eingebrannt ins Gedächtnis des Älteren und in der Rückschau so detailliert und poetisch erzählt, dass Raul Liebezeit für den Leser bei Weitem kein Phantom, sondern tatsächlich einfach der irgendwann fortgegangene Bruder Alexanders ist.

Damit gerät die Subjektivität aller Wirklichkeitsdeutung in den Fokus, genauer genommen, die Erkenntnis, dass alles, was wir zu wissen glauben, nichts als durch unsere Erfahrung entstandene Interpretation ist. Die Dinge der Welt haben nur die Bedeutung, die wir ihnen zuweisen. Schlimm wird es, wenn unsere Interpretation der Dinge plötzlich infrage steht, wenn das, was unser Leben ausmachte, sich als Illusion entpuppt: Game over, wie Alexander lakonisch unter die ersten neun der insgesamt einundzwanzig Kapitel notiert.

Ist Raul eine Illusion? Zunächst ist er Anker der Geborgenheit, Ausdruck der Sehnsucht nach einem verlorenen Paradies in einer verlorenen Zeit (der „Liebezeit“, die immerhin noch in Alexanders Namen schimmert):

Lange Zeit waren auch sie zwei Kinder im Bernstein. Wenn sie zusammen waren, drang die Welt in warmen Braun- und Orangetönen zu ihnen durch. Sie waren geschützt von dem versteinerten Harz, das das Licht und den Lärm dämpfte und milderte. Unter den Bernsteinbrocken mit Einschlüssen, die sie im Naturkundlichen Museum der Stadt betrachteten, befand sich ein einziger, der ein Insektenpaar beherbergte. Siehst du, sagte Alexander zu seinem Bruder, das ist etwas ganz Seltenes. Und wenn er an die Beziehungen anderer Kinder zu ihren Geschwistern dachte, kam ihm ihre Vertrautheit noch wunderbarer vor.

Geschützt im Bernstein waren sie bis zu dem Tag, an dem die schöne kindliche Eigenschaft, Fantasie und Wirklichkeit ganz unkompliziert in Einklang zu bringen, verschwand. Nun sieht es anders aus, trostloser, und Alexander schreibt:

Ich lehne mich zurück. Die Erinnerung wird dünner. Ihre Farben bleichen aus. Ihre Haut wird dünner. Heute Morgen sah ich einen verfaulten Apfel. Aufgespießt auf den kahlen Ast eines Apfelbaums. Ist es schon wieder so weit, dachte ich. Der Apfel ähnelte in seiner faltigen Bräune einem Schrumpfkopf. Deutlich war die eingesunkene Augenhöhle zu erkennen. Der Ast war durch das andere Auge gedrungen. Vom Mund will ich gar nicht erst reden.

Schonungslos beschreibt Alexander die Atmosphäre von Verfall und Einsamkeit, mit der er nach dem Verlust seiner kindlichen Unschuld zurechtkommen muss. Die poetische und plastische Sprache dieser Beschreibung fesselt, die philosophische Tiefe beeindruckt und die Selbstironie des Verfassers amüsiert und berührt. Dass dieser umfassende Roman, der als lockeres Mosaik verschiedenster Episoden angelegt ist, durchaus eine Straffung vertragen hätte, fällt da kaum noch ins Gewicht. Zumal der Schreiber, der sich einer Flut fantastischer Erinnerungen gegenübersieht, schlau genug ist, sich abzusichern: Er preist die Kunst der Abschweifung, die ihn oft genug selbst in die Irre führt, als schöpferische Methode, als bezauberndes Kaleidoskop und erkenntnisbildendes Perspektiv.

Die Undeutbarkeit der Dinge entsteht durch ihre immense Deutbarkeit, durch die vielen Wege, die Fantasie, Reflexion und Abschweifung gehen können. Alexander Liebezeit, der all diesen Wegen nachzugehen versucht, führt uns in eine Unendlichkeit, die über jegliche Sicherheiten, aber auch über Einsamkeit und Verfall triumphiert. Der Ast war durch das andere Auge gedrungen. Das unendliche Auge blieb unberührt.

 

Katrin Ernst   01.02.2011   

 

 
Katrin Ernst
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