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Natascha Wodin

Nachtgeschwister

Ein zweifelhafter Nachruf

Kritik
Natascha Wodin: Nachtgeschwister   Natascha Wodin
Nachtgeschwister
Roman
Antje Kunstmann 2009
240 Seiten, 19,90 Euro


Im Literaturstudium lernt man, klar zwischen Fiktionalität und Realität zu unterscheiden – und das nicht grundlos, wie die Rezeption von Natascha Wodins Roman „Nachtgeschwister” gezeigt hat. Die Öffentlichkeit identifi­zierte die Hauptfigur Jakob Stumm als den Schriftsteller Wolfgang Hilbig, der zu diesem Zeitpunkt leider schon etwas zu tot war, um Wodins privatpoe­tische Abrechnung noch kommentieren zu können.

Roman oder Tatsachenbericht? Alle Rezensenten setzten den fiktionalen Stumm mit Hilbig gleich, das Feuilleton der Süddeutschen Zeitung sah es nach diesem Buch als erwiesen an, dass „Wolfgang Hilbig ein schwerer Soziopath war”.

Jakob Stumm jedenfalls ist gewalttätig, sexistisch, alkoholabhängig, feige und unselbständig. Andererseits fließen ihm faszinierende dichterische Werke aus der Feder, weshalb die poetophile Ich-Erzählerin dem grob­schlächtigen Macho auf Gedeih und Verderb verfällt.

Verliebt hat sie sich aber eben nicht (wie gelegentlich üblich) in den Mann, sondern allein in seine Gedichte. Sofort sucht sie seinen Kontakt. Als sie den unappetitlichen Kerl zum ersten Mal sieht, wundert sie sich, dass er die innere Schönheit seiner Dichtung so gar nicht repräsentiert: „ [S]tatt des wild gelockten Haars […] fielen farblose, ranzig aussehende Strähnen auf den Kragen seiner khakifarbenen Jacke. […] Ich glaubte, etwas Argwöhnisches, Lauerndes in seinen Augen zu erkennen […].”

Die Frau lässt sich dennoch auf den Fremden ein, hoffend, dass die Schönheit seiner Seele sich ihr nach und nach offenbare und wird immer wieder von ihm enttäuscht. Zumindest, wenn man davon absieht, dass die beiden noch während der ersten Begegnung ein Hotelzimmer mieten und sie von Stumms erotischem Repertoire zutiefst beeindruckt ist. Jahre spä­ter, sie sind inzwischen verheiratet, ist sie geschockt, als sie in seinen privaten Aufzeichnungen liest, wie sehr es ihn anstrengt, zu ihrer Befriedi­gung abkommandiert zu sein.

Tatsächlich beschreibt die Ich-Erzählerin ihre Erwartungen, ihre Hoffnungen, ihre Angst um ihn und vor ihm. Kurz: ihre Abhängigkeit von der eigenen Hel­ferpersönlichkeit, mit der sie einen Mann abhängig zu machen versucht, der sich heftig zur Wehr setzt, als das Maß voll ist. Larmoyant zelebriert sie eine gefährliche Mischung aus Opferbereitschaft und Besitzanspruch: „ [I]ch hat­te ihm viel mehr als meine Bewunderung angeboten, viel mehr als nur jede erdenkliche Unterstützung für ihn, falls er dieser bedürfen sollte, ich hatte ihm alles von mir angeboten, obwohl ich nichts besaß. Ich besaß nur ihn.”

Immer stärker leidet die Heldin unter der Diskrepanz zwischen ihrer Idee von Stumms Dichterseele und seiner realen Person, die sie mehr und mehr abstößt. Auf die Frage, warum sie sich unter diesen Umständen nicht von Stumm lossagt, antwortete Wodin im Bayerischen Fernsehen mit der „Hoffnung, dass der Schmetterling aus der Raupe doch noch ausschlüpft”.

Das Raupengeschöpf soll also seine wahre Bestimmung erst noch erleben und dazu gehört, dass es die Seelenverwandtschaft zwischen den beiden anerkennt – an die die Ich-Erzählerin fest glaubt, seit sie sich in Stumms poetische Werke verliebte. Stumm aber, der auch daran glauben soll, damit die Errettungsphantasie aufgeht, bleibt uneinsichtig. Die verlangte Symbiose empfindet er als Vereinnahmung. Im Zeichen dieser Vereinnahmung steht der Titel „Nachtgeschwister”.

Nicht nur das Genre des Buches, auch der Titel steht somit auf wackeligen Füßen: „Nachtgeschwister” behauptet genau die seelische Verbundenheit, nach der die Heldin von der ersten bis zur letzten Seite erfolglos sucht – wobei Seelenverwandtschaft eben auch heißt, dass beide poetische Gleich­gesinnte sind. Indem Stumm sich gegen die Vorstellung dieser Seelenver­wandtschaft sperrt, führt er nicht zuletzt ihren Traum von der tiefen dich­terischen Gemeinsamkeit absurdum.

Natascha Wodin ergreift dennoch gleich nach Hilbigs Tod die Gelegenheit, sich als seine poetische Schwester zu inszenieren und verwickelt den Leser in intime Erörterungen über die Sozialisation und sexuelle Disposition des thematisierten Schriftstellers, die immerhin ihre persönliche Katastrophe bedeuten.

Darüber hinaus hat Wodins psychologisierender Rundumschlag wenig Substanzielles zu bieten. Schließlich arbeitet sich das Sujet der „Nachtge­schwister” komplett am Mythos der Dichterseele – und damit an einem grandiosen Missverständnis ab: Hilbigs Werk ist keine dergestalt seelenvolle Leistung, sondern eine intellektuelle. Hätte Wodin(s Frauenfigur) besagte Dichtung ohne ihre massiven narzisstischen Projektionen gelesen, wäre ihr das möglicherweise aufgefallen.

Wolfgang Hilbig durchdrang die literarische Moderne, begeisterte sich für die deutsche Romantik und fand prägnante Formen für das aus der Natur- und Universalphilosophie gespeiste Motiv der „romantischen Nacht”. Selbstver­ständlich wurde seine Seelenverwandte in erwähntem Fernsehinterview auf das Nachtmotiv in ihren „Nachtgeschwistern” angesprochen. Die Antwort verblüfft allemal: Nun, das sei doch die Tageszeit, zu der Hilbig und sie zu schreiben pflegten ...

Inzwischen arbeitet Natascha Wodin an ihrem nächsten Buch, wie sie an gleicher Stelle ankündigte: Sie setze sich jetzt mit dem Thema „Altern” auseinander, plagten sie doch seit geraumer Zeit mehr und mehr Zipperlein. – Wer sich voyeuristisch betätigen will, dem verhilft Nachtschwester Wodin sicher auch hier zu einigem Einblick.

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Katrin Ernst   12.07.2010   
Katrin Ernst
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