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Andreas Kramer & Jan Volker Röhnert (Hg.)

Die endlose Ausdehnung von Zelluloid

In gestochner Schärfe Flimmern

Kritik
  Die endlose Ausdehnung von Zelluloid
100 Jahre Film und Kino im Gedicht
Hg.: Andreas Kramer u. Jan Volker Röhnert
Mit einem Nachwort der Herausgeber
und einem Kommentarteil
Edition Azur 2009
232 S., geb., 24.00 EUR


„Statt von allem, was jemals geblüht hat, eine Trockenprobe im Herbarium aufzubewahren und somit Vergangenes zu archivieren, sollte [die Antho­logie] sich besser als meteoro­logisches Register bewähren; sollte dartun, was uns blüht.“ Felix Philipp Ingolds Anmer­kungen zu Anthologien, jüngst in Volltext erschienen, bieten in ihrer vehementen Kritik an der grassie­renden Archi­vierung sinnvolle Kriterien zur Beurtei­lung solcher Sammlungen. Ingold bietet eine Reihe von Vorschlägen an, die sich gegen eine konservative und eher will­kürliche Kano­nisierung nach unhinter­fragten Schulmeistertraditionen wehren. Neben der Konzeption der Blütenlese als Gesamt­kunstwerk steht im Mittelpunkt die Forderung nach einer Anthologie, die Impulse zur eigen­ständigen und weiter­führenden Lyriklektüre gibt, ohne allein auf die großen Namen oder die bloße histo­rische und erzählende Ebene der Texte fixiert zu sein.

Mit Die endlose Ausdehnung von Zelluloid legen Andreas Kramer und Jan Volker Röhnert, der bereits eine umfangreiche literatur­wissenschaftliche Arbeit zu Kino und Lyrik verfasst hat, eine vorbildliche Zusammenstellung vor. In diese Auswahl sind über hundert Gedichte deutscher Sprache aus ein­hundert Jahren aufgenommen, in denen Film und Kino eine maß­gebliche Rolle spielen. Außerdem ist es die erste derartige Antho­logie im deutsch­sprachigen Raum. Ihrem eigenen Anspruch, nicht einfach „Gedichte ›über‹ Film, Kino und Stars zu versammeln, sondern zu zeigen, wie sich die Form und die Bilder­sprache deutscher Kino- und Film-Gedichte im Laufe ihrer bereits ein Jahrhundert an­haltenden Aus­ein­ander­setzung mit dem Medium verändert haben“, wird die weit­gehend chronologisch angelegte Anthologie dabei mehr als gerecht. Der Reichtum an Formen spannt sich vom strikten Sonnett bis zu Klings ›Verbal­videoclip‹. Zusammen mit dem breit­ge­fächerten Themen­spektrum – Illusion, Beobachtung, Hommagen an Filme, Schauspieler und Regisseure, Massen­produktion zer­störter Menschen – offen­bart dies einerseits die kom­plexe Genese des Massen­mediums Film und dessen Bedeutung in Literatur, Gesell­schaft und Geschichte; noch verdienst­voller ist aber der Einblick in den Wandel von Wahr­nehmung und Sprache überhaupt durch den Einfluss des bewegten Bildes.

Da hallt ein Schuß, laut, scharf, von irgendwo –
der reißt in meinen Film ein schwarzes Loch,
daß er entsetzt aufkreischt und – stumm zerbricht.

Es zeigt sich, dass Kino und Film nicht zwei beliebige unter vielen Medien und Themen sind, sondern vielmehr allseitig und umfassend bestimmende, die unsere Kategorien, Konzepte und Sprachen, mit denen wir die Welt wahrnehmen und gestalten, grundlegend verändern und mitstrukturieren.

viel hunderttausend ungezählt,
aber nur die blöderen bilder; gerafftes;
– – – – – – – – – fragen,
was für eine Leinwand das auge sei:

Das Einbeziehen kinematographischer und photo­graphischer Techniken wie Montage und Schnitt führt zu einem immer schneller assozi­ierenden und auf einer lein­wandartigen Text­oberfläche collagie­renden Sprechen, das Unbe­stimmbarkeit, Endlosigkeit und Fluss ausdrückt. Dies ereignet sich nicht selten in großer Nähe zur Auflösung tradierter Formen, Muster und Schemata, wie etwa die Texte von Jandl, Brinkmann, Priessnitz, Papenfuß-Gorek oder Kling offenbaren:

auf meinem tisch: parkinsonflügel, fransenwurf;
wirft zerfranste schatten, schattenlängen
(gestochen? lichtbegängnis?); startet dann
im restlicht (unvermittelt!) gegen den kreu
zerblauen himmel, in gestochner schärfe

Sprechen und Film, so zeigt die Antho­logie, sind einander in ihrer fragmen­tierten bis zerstörten und zer­störenden Abfolge von Bildern ähnlicher als mensch es wahr­haben mag, und der Leser kann sich anhand der Gedichte mit einigem Gewinn fragen, was da und wie es vonstatten geht, und inwiefern nicht auch die eigene Wahr­nehmung und der eigene Ausdruck sich ähnlich verhalten.

Kaum noch bekannte Dichter wie Friedrich Eisenlohr oder Ferdinand Hardekopf werden berücksichtigt, ebenso wie allgemein schwer zugängliche Texte, deren Komplexität und Kompliziertheit Sprache, Dichtung und Gegenstand angemessen ist. Auch wenn vor allem unter den frühen Gedichten einige hochamüsante zu finden sind (Und redet Fred mit „Servus Bauer“ an. / Fred dreht sich um und boxt ihn in den Magen.), eignet sich diese Anthologie also weniger zur kurzweiligen Unterhaltung als vielmehr zur intensiven und anregenden Lektüre, die genügend Impulse bietet, sich weiter mit derartigen Texten und Themen zu beschäftigen. Dazu tragen auch das konzise Nachwort und der ausführliche Kommentar bei. Die liebevolle Gestaltung zeichnet den Band als ein Gesamtkunstwerk aus, verstärkt vor allem von den beeindruckenden und ausdrucksstarken Photogrammen Glenn Vincent Krafts. Die schwarzweißgrauen Schleier und Schlieren in ihrem zunächst unbestimmten Verhältnis zur Oberfläche und zum Raum, auf der und in dem sie sich befinden, lassen im Zusammenhang mit den Texten erahnen, was Sprache jenseits alltäglicher Mitteilung noch sein kann, und vielleicht auch, was uns blüht.
Léonce Lupette    17.11.2009   

 

 
Léonce W. Lupette
Lyrik