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Lisa Vera Schwabe

Auf den Fersen
Auszüge aus einer Kurzprosasammlung



Küche

Wir sitzen im Auto, wir halten Ausschau. Rechts auf dem Seitenstreifen liegt Totes, auch Gestreiftes. Beinahe fliegen wir nach vorn, wir sind viele auf der Rückbank, so können wir uns gegenseitig am Fliegen hindern. Wir bleiben lieber mit beiden Beinen auf dem Boden. Zum Glück sind wir vernünftig. Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul, sagt der Vater. Er öffnet den Kofferraum und legt den Fasan hinein, welcher ordentlich den Kopf hängen lässt. Der Vater ist ein Mensch mit Sinn für die Schönheit der Natur, auch für deren Prinzipien. Er zählt die Maden und teilt sie in verschiedene Bataillone ein. Er bestimmt Offiziere und Unteroffiziere und ernennt den Hauptlagermannschaftsführer. Er verteilt Noten und motiviert durch Zuspruch, rügt und erwartet Besserung. Dann schlägt er den Kofferraum wieder zu, mit dem guten Gewissen, seiner Pflicht als Oberhaupt der Familie auf das Beste nachgekommen zu sein.



Speisekammer

Wir laufen, einmal groß, einmal klein, groß, klein, wobei die kleine Dicke zurück­bleibt und auf kein Foto will und auf keines passt. Geht es bergab, überholt sie uns. Kantapper, kantapper rollt der Pfann­kuchen, goldbraun gebacken (mit Zucker) den Berg hinunter. Der Vater ist ein guter Schau­spieler. Immer wieder pflückt er Äpfel und Birnen, Pflaumen und Brom­beeren von den Bäumen und Sträuchern der Bauern. Außerdem schneiden wir Mohn und graben Kartof­feln aus. Wir klauben auch den Mist zusammen, man weiß ja nie. Die Dicke wird damit eingerieben. Wir werden erwischt, und der Vater spielt den Fremden, der das hiesige Recht nicht kennt und versteht. Er spielt auch einen behin­derten Menschen und einen Alten, der nicht mehr weiß, wie er heißt. Wir werden dann zu Apfel­bäumen. Graben die Wurzeln fest in den Boden, bestechen mit roten Früchten und schenken Vögeln und Würmern Schatten, Nestplatz und Futter. Vier Apfel­bäume, sonst nichts. Im Spät­sommer wird einge­kocht, Verschie­denes, und mit Aufkle­bern versehen. Welche Art, welche Rasse, in welcher Mischung. Das Eingemachte hält sich am besten, wenn es in der Familie bleibt, sonst wird es schlecht.



Badezimmer

Der Vater wäscht sich die Hände. Er wäscht sich die Hände mit kerniger Seife. Über dem Waschbecken, so dass kein Wassertropfen daneben geht, wäscht er sich die Hände und krempelt die Hemdsärmel hoch und wäscht sich die Hände mit Ruhe. Der Vater hat immer schon die braunen Altersflecken auf der Haut gehabt. Leberflecken zum Verwechseln ähnlich, aber dafür ist der Vater nicht der Typ. Groß sind sie, Vatershände, vor allem die Daumen. Er reibt die Seife in die Hände, zwängt die Seife in die Fingerzwischenräume und in die Falten in der Handfläche. Zieht Linien und Furchen nach, pflügt und wässert. Die Fingernägel wie Erdplatten, uneben, mit Spalten, in denen das Wasser geleitet ablaufen kann. Das verhindert Überschwemmungen, bringt er mir bei. Der Vater wäscht sich die Hände und hat dabei einen festen Stand. Er steht fest und wäscht sich die Hände und lässt sich nicht eilen. Er lenkt das Wasser um und staut es und lässt es fließen. Er sammelt das Wasser im Becken der Hand und sieht schlierige Seife und dazwischen graue Haut. Der Vater wäscht sich die Hände knochenweiß und rein und setzt seine Arbeit fort. Wenn der Vater sich die Hände wäscht, stehe ich dabei und lerne. Meine Hände sind wie seine täglich gewaschen und die Fingernägel aus Elfenbein.



Esszimmer

Wie eine Brotschneidemaschine genau bestimmt der Vater die Dicke der Scheiben. Die Kruste, mit Schweineborsten abgerieben, glänzt veredelt, und der Vater bestreicht das Brot mit Butter. An Herzkrankheiten denkt er nicht, der Vater, und ich auch nicht, und er schmiert das Brot mit Butter ordentlich und so, dass die Oberfläche gleich gelb ist. Ich reiche ihm das Fässchen mit Zuckerrübensirup, der ist dunkelschwarz, und ich erwarte Versteinerungen und sehe Bläschen aufsteigen. Wenn der Vater das Brot mit Butter und Sirup bestreicht, ist er genau bis zur Kante und wenig zimperlich. Er öffnet das Maul und beißt in das Geschmierte. Nur die Zähne berühren den dunklen Schatz, und es ist ein Gemisch aus Butter und Zucker, dass zwischen den Zähnen hervorquillt.
  Ich sehe Würmer flüchten, die den eben noch bewohnten, schon halbierten Backenzahn eilends mit Sack und Pack hinter sich lassen. Die Zähne verdrehen ihre Hälse und sich selbst um 180 Grad und mehr, schnellen zurück und versuchen das Kunststück abermals. Mit Geduld und Spucke nimmt der Vater den Zahn und setzt ihn sich wieder in den Kiefer. So soll er halten, sagt er, bis zum nächsten Krieg. Wichtig ist, dass man richtig und ohne Schmerzen essen kann. Und wenn die Zähne tapfer sind und sich wacker schlagen, dann gehen die Zahnärzte vor Hunger zu Grunde, und ich brauche sie ohnehin nicht, bei diesem Gebiss, meint er und ruft nach den Hunden.



Wohnzimmer

Ich sitze am Tisch. Auf dem Stuhl. Bewege mich, ich raue und glätte den graugrünen Stuhlbezug, frische Erbsen, die in Asche gefallen sind, auf Samt. Vor mir auf dem Tisch die Fliege, trocknet. Ich denke, mein Vater kann Fliegen mit der Hand fangen, ruhig, und so will ich Lachse fangen können, in Kanada. Wie mein Vater Fliegen fangen kann, so ruhig, dass die Fliege vom Gefangenwerden nichts merkt. Ich sitze am Tisch auf dem Stuhl und habe gesehen, wie mein Vater die Fliege fängt mit einer Hand. Mit der hohlen Hand hat er sie gefangen, hat ihr kein Bein gebrochen, keinen Flügel abgerissen. Die Fliege stimmt noch, in der Hand von meinem Vater, als er sie gefangen hat. Wenn sie stirbt, vielleicht ein Schock, vom Gefangen­werden, oder weil sie keine Luft mehr bekommt in der geschlossen Hand, in der sie gefangen worden ist, ganz ruhig und ohne, dass was passiert ist. Mein Vater wartet, bis er die Hand wieder öffnet, so lange, bis er die Fliege nicht mehr lebendig in seiner Hand spürt. Wie in der Mittagspause sitzt mein Vater und wartet, ruhig, und sieht aus, als wenn er schlafen würde, und dann ist die Fliege in der Hand, ich auch. Ich höre die Fliege in der Hand brummen, etwas tiefer als an der Luft, und ich höre, wie sie die Beine aneinander reibt. Er tut ihr nicht weh, hat sie nur gefangen, ruhig mit einer Hand. Jetzt geschlos­sen. Ich sitze auf dem Stuhl am Tisch. Nach Kanada will ich, muss ich, um mit einem Floß den Fluss hin­unter­zufahren. Da gibt es Lachs, den fang ich mit einer Hand und halte ihn fest, weil ich die Tochter meines Vaters bin und ich ruhig bin und sein muss. Weil ich sonst keinen Lachs fange mit einer Hand. Graugrün ist der Stuhl­bezug und ich schreibe meinen Namen in den Samt. Querstriche sind nicht einfach. Fliege.
  Getrocknete Fliegen kann man zu Staub zerpulvern. Von außen sehen sie lange noch so aus, als hätten sie sich gerade nur zum Pause­machen hingesetzt, man sieht gar nicht, dass es sie nicht mehr gibt. Sie wahren den Schein und geben sich ganz. Eine vertrocknete Fliege wiegt weniger als eine noch fliegende. Innen ist alles weg, deshalb der Gewichts­verlust. Ich stecke die getrock­nete Fliege in eine Streichholzschachtel. Ich habe auch Hummeln, die kann man streicheln, auch ver­trock­nete noch. Nur sehr behutsam, weil man sie sonst knis­ternd zerdrückt.



Haare

Unser Haar wächst uns über die Augen. Wir kommen nicht umhin zu fragen, was um uns herum passiert. Wir greifen einander ins Gesicht, wer ist da? Und suchen weiter, wenn wir kein Glück hatten. Auch unsere Finger und Fußnägel wachsen, und es wird schwer, vorwärts zu kommen. Um uns nicht zu verletzen, rufen wir Warnlaute aus und legen uns vorsichtshalber in den Schatten und bleiben still und unbewegt. Jetzt sind wir stumm, wir haben aufgegeben zu reden. Das Haar bestimmt seinen Weg und bettet uns für den Winter auf ein Lager fein. Wenn es schneit, kommen Reh­lein daher, die wissen um uns Bescheid und geben Acht.



Der Igel

Er hält seine sieben Sachen bei­einander und ist immer einmal schneller. Er schlürft Milch auf der Terrasse. Gute Nacht, sagt er, lieber Fuchs. Und: Ich bin schon da!, zum Hasen.



Augen

Hinter meinen Augen tun sich Wurzeln zusammen. Bis mir junge Triebe aus den Nasenlöchern stoßen, ist es mir gleich, denn ich konnte mich immer über frisches Grün freuen. Jedes Jahr schneide ich direkt nach der Blüte den Tulpen die Köpfe ab, so dass sie raspelkurz über die Ober­fläche gucken. Ich könnte auch den Rasen­mäher nehmen, aber das würde nicht lohnen. Ich verteile neuen Mutter­boden und säe Graspflanzen zwischen den abge­schnit­tenen Hälsen. Im Sommer gieße ich zweimal am Tag, einmal frühmorgens und einmal bei Beginn der Dämmerung. Im Herbst pflücke ich saure Äpfel und süße Birnen, hacke das Holz und staple es an der Hauswand. Wenn der Frühling kommt, wachsen die Wurzeln zu Bäumen heran.
Lisa Vera Schwabe   24.03.2011   

 

 
Lisa Vera Schwabe
Prosa