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Ralph Grüneberger
Bunte Pleite

Dreizeh

  Kritik
  Ralph Grüneberger
Bunte Pleite
Nachrichten aus der Provinz
Fünfzig Gedichte, 1986-2010
Mit Zeichnungen von Karl-Georg Hirsch
Herausgegeben von Jens-Fietje Dwars
Edition Ornament 14,80 EUR
Vorzugsausgabe 49,00 EUR

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Drei Begriffe sind es, die von altersher die bemerkenswürdige Kunstleistung verstehen helfen: ars – ingenium – doctrina. Diese Dreigestalt, oder Dreifaltigkeit müsse sich im Werk als beherzigt auffinden lassen. Ars meint dabei nicht Kunst in Bausch und Bogen, sondern das Hand- oder vielmehr Mundwerk; ingenium – wir hören es ja – jene von Natur gegebene besondere geistig-seelische Prägung. doctrina schließ­lich will selbstredend nicht aufs rechtens verpönte Doktrinäre hinaus; Gefährte Heinrich Heine hatte in seinen Gedichten „Doktrin“ und „Zur Doktrin“ („Fürchte dich nicht und küsse die Marketenderin; laß dich nicht kirren, laß dich nicht wirren“) uns bereits ein kräftiges antidoktrinäres Licht aufgesteckt.
 Was dann aber ist doctrina?

Es ist jener kristalline, kaum benennbare doch allenthalben spürbare Absichtskern oder Absichtskeil, in dem sich das Gedrücke und Gedruckse des Erfah­renen verdinglicht. Erfahrung – in sie herein spielt oder schrillt Welt, Umwelt, Umfeld, ja die Historie, insofern sie sich erlebbar macht. Andersherum gesagt: Die Zeitläufte suchen sich immer, und immer erfolg­reich, eigen­brötle­rsiche Artikulateure, in denen sie, die Zeitläufte, sich zur Anschauung bringen. In Ralph Grüneberger haben sie einen gefunden, die wählerischen; in unserer 500.000-Ein­wohner-Stadt, so sympathisch sie ansonsten ist, gibt es von den Nennens-Fähigen (und also Nennenswerten) circa eine Handvoll.
  Kurz­um: Auf wohltuende Weise macht sich die besagte Dreiheit in Grüne­bergers Buch geltend. So. Dies gesagt, könnte ich mich – so wie Sie tun – zurücklehnen. Aber womöglich bleiben Sie nicht zurückgelehnt und fragen: Wo sind die Belege? Wie zeigen sich denn in den Gedichten der “Bunten Pleite“ ars, ingenium und doctrina?

Ich schalte hier ein Wort ein, das überhaupt nicht hergehört: schon in anbetracht von Grünebergers noch leidlich jungen Jahren. Nietzsche, ich kann diesen Übermenschen-Menschen nicht leiden als der von kommuner Menschheit träumende Plebejer der ich bin – er hat aber, Nietzsche, einen doch allzu prächtigen Satz notiert: „Wer sich in ein Werk gerettet hat, empfindet eine fast boshafte Freude, wenn er sieht, wie sein Leib und Geist langsam von der Zeit ange­brochen werden: als ob er aus einem Winkel einen Dieb an seinem Geld­schrank arbeiten sähe, während er weiß, daß dieser leer ist und die Schätze gerettet.“
  Jawohl: Schätze; jawohl: gerettet. Bereits jetzt darf Ralph Grüneberger sich besagte boshafte Freude zubilligen: ich hebe hervor den Lyrikband „Blühende Landschaft“ von vor 10 Jahren und eben heute die „Bunte Pleite“ – aus der Ironie ist Sarkas­mus geworden. Das Unwirsche hat zuge­nommen in diesem ansonsten sanguinisch temperierten Mann über die Jahre. Liegt das an ihm, oder in ihm?
  Nein doch! Die doctrina – unterm Andrang gesche­hender Bitter­nisse mußte und muß sie sich wohl un­will­kürlich härten. Was ihm nie entgeht, was er nie aus seinem ziemlich unbe­sto­chenen Auge verliert. Ist das harm­volle Los der Abge­hängten. Die nimmt er – strikt aus eigenem Erleben schöpfend – wahr als Gebeutelte des Zweiten Weltkrieges, als Zurück­gesetzte da das ostdeutsche System seine großgemeinten Hof­färtig­keiten hatte schlimm ver­kümmern lassen, als Prekarier da das mit verständlicher Heftigkeit herbei­gewünschte Geldsystem die (Heiner Müller:) „eiserne Maske der Freiheit“ zeigt.
  Dies findet auf uns kunstreich, also in einer Sprache von hoher ars-Ange­messen­heit: selten einmal ein Ich, spröde-lapidare Satzgefüge; der Dichter spricht klar und kühl- wir Leser mögen es sein, denen das Auge feucht wird. (In Bildende Kunst übersetzt wären die Gedichte Zeichnung, nicht etwa pastose Malereien, in der Musik eignete ihnen das Minimalistische eines Ives.)
  So hingeblickt, erfahrungsbeglaubigt und erlebnis­diktiert, weitet sich die proto­kollierte Provinz – unsere Tief­lands­bucht – unversehens zu Welt, und womög­lich drängt sich die düstere Vision auf, daß Deutsch­land sich nicht so sehr abschafft als vielmehr abschaltet – anders, als es die Vernunft den umliegenden Staaten nahe­legt – von den edlen Errungenschaften der Kern-Physik. (Es, Deutschland, scheint mit den ehemaligen Großmächten USA und Rußland mit­unter­gehen zu wollen.)
  Gehe ich zu weit?
  Jedenfalls könnte die Grüneber­gesche ingeniöse Halb­jahrhundert-Sichtung in 50 Gedichten mit einem Rilke-Wort (aus den Duineser Elegien) über­schrieben sein.

Jede dumpfe Umkehr der Welt hat solche Enterbte,
Denen da Frühere nicht und noch nicht das Nächste gehört.

Wird es ihnen gehören, das Nächste? Grüne­berger zweifelt. Unlängst, in seinem Zeitungs­artikel auf den großartigen Hilbig, zitiert er den Dichter-Kollegen Reimann mitgehend: „unser ganzer Planet verkomme in Dumpfheit, Verrohung und Dreck“. Das sagt Grüneberger, und wie aufregend: seine Gedichte sind klüger oder zumindest zukunfts­gewisser.

Betrachten wir das Gedicht „Vier­generationen­hof“, ein Gehöft im Sächsischen, aufrechterhalten aus­schließlich von Frauen; die Männer sind samt und sonders davon, mut­maßlich durch Krieg, durch den Sog der reicheren Westgegend oder den der lenden­freudigeren Gespie­linnen. Leicht ließe sich eine Atmosphäre wech­sel­seitiger Mißgunst erwarten, jener Rache also, die das ungelebte Leben an sich selber nimmt.
  Doch nein! Duldung obwaltet, ja Barm­herzigkeit – in Grüneberger schlägt, oder eher zupft sich, jene Saite wechselseitiger solidarischer Zutun­lichkeit an, die allein ein Kommendes, ein Künftiges ermöglicht.

Bislang weist der „Große Conrady“, die Funda­mental-Anthologie deutscher Dich­tung, sozu­sagen der Lyrik-Duden, Grüne­bergern nicht vor. Eine Unan­gemessen­heit freilich, ja ein Fehler wäre es aller­dings, sollte eine aktua­lisierte Neu-Auflage diese Lücke noch offenhalten. Die Gedichte „Hochsitz“, dras­tische Ver­unglimpfung von Obrigkeit am Beispiel seelisch ver­karsteter Jäger (und übrigens vom uni­kalen Holz­stecher Karl-Georg Hirsch kongenial nicht sosehr illus­triert als vielmehr illu­miniert in diesem überhaupt delikat edier­ten Büchlein) – also die Gedichte „Hochsitz“ sowie „Im Park von Kochberg“, die zeh­rende zarte Ein­klage unver­wundenen Liebes­ver­zichts (nämlich der Frau von Stein und des Gedicht-Ichs, und wer erführe bei der Lektüre nicht, daß es auch ihn oder sie oder dich und mich betraf) – sie, diese Texte, ge­hören zur Substanz deutschen Dich­tens. – Im neuen Conrady stünde Grüne­berger dann zwischen Grünbein und Grüning: hinter diesem zwar, aber vor jenem, und das wäre doch ein statthaftes Plätzchen.
Peter Gosse    21.04.2012     Druckansicht  Zur Druckansicht - Schwarzweiß-Ansicht    Seite empfehlen  Diese Seite weiterempfehlen

 

 
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