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René Hamann
Herbst
I. Stromkasten Die Stadt erschien fremd. Der Sommer war gekommen wie eine Erschütterung. Er ließ keine Erleichterung zu, weil er zu heftig war, zu heiß, zu unbarmherzig. Das Leben in den Büros hing von der Installation einer Klimaanlage ab, es lief darauf hinaus, dass man mürbe herumsaß, bevor ein Zeichen kam und den Feierabend ausrief. Danach hetzte man in den Untergrund, oder aufs Fahrrad, um durch staubige Straßen an verklebten Fassaden vorbeizuschwirren. Schließlich war man heilfroh, die schattige Einraumwohnung im Hinterhaus, im Quergebäude erreicht zu haben, im Schatten einer mottenzerfressenen Kastanie angekommen zu sein. Ausgehen fiel bis kurz vor Mitternacht flach, an die Seen traute man sich noch nicht, vielleicht ließ das die Sozialstruktur einfach noch nicht zu. Niemand schien ein Auto zu besitzen. Was blieb, waren Bars mit geöffneten Fensterfronten, Schusswechsel, oder grau durchleuchtete Parks: Gewendetes Fleisch, Sonderabgaben auf Dosen, die an den Park anschließende Straße flirrte im Grillnikotin. Die romantischen Momente dieses Sommers beschränkten sich auf rasant leuchtende, weiße Punkte am Firmament, von denen nicht mehr zu sagen war, ob es sich um Meteoriten, Satelliten oder um profane Flugzeuge handelte. Die Stadt erscheint fremd. Der Verfall der Bauten stellt das Leuchten ein. Geschichte wurde gemacht. Die Sonne sinkt, der Herbst beginnt. Das Leben schwingt sich in Kostüme und Uniformen, die in Wagen sitzen und in Funkgeräte quasseln oder auf schlecht begehbaren Wegen stehen und beratschlagen. Jemand oder etwas hat die Stromquelle aus dem Fundament geholt, die große Kreuzung der Hauptstraße im östlichen Teil der Stadt liegt ohne Strom, keine Ampeln können mehr ostalgisch leuchten. Eine schaulustige Menge bildet einen unfreiwilligen Flashmob, alle wollen wissen, was passiert ist und warum. Keiner weiß es. Es gibt keinen zerschossenen Wagen, der vielleicht den großen Stromkasten umgefahren hat, und schwer bewaffnete Metaller, Terroristen oder Punks sind ebenfalls nicht auszumachen. Es sind vorwiegend junge, in lässigen Bezugscodes angezogene Menschen, die hier herumstehen und ins Leere gaffen. Sie tragen aus Schulen und Selbsterfahrungsgesprächen herübergerettete Einstellungen zur Schau, die sie irgendwie politisch verstanden wissen wollen, alte Hüte, fauler Zauber, neugierig stehen sie herum. Der Stromausfall wird gut geheißen, wenn auch ohne Worte. Eine kleine Panik, eine große Ahnungslosigkeit macht sich hingegen in den von direkter Bedeutung umhüllten Körpern breit, den Uniformträgern mit den Funkgeräten und den farblich hervorgehobenen Autos. Sie tauschen Wörter aus, sie tauschen Handlungen. Die Szenerie, so viel wird mit der Zeit klar, wird noch einige Tage im Dunkeln liegen. Statt eines reibungslosen Ablaufs wird es eine Notwendigkeit zur Kommunikation geben. Autos, die unsicher anhalten, Blicke zwischen Radfahrern, irritierte Fußgänger. II. Ein freier Tag Eine ehemalige Studentin begeht einen freien Tag. Sie streunt durch die große Stadt. Sendet unbewusst Signale aus, empfängt welche, die Signale bleiben subtil und lenken nichts. Die ehemalige Studentin ist wissbegierig und aufgeschlossen. Sie stellt sich Entspannung vor, die in einem Kaffeehaus mit einer Lektüre abgeht, allerdings fehlt das Buch dazu. Die ehemalige Studentin, nach Ausflügen in die Filmbranche mit enervierenden 14-Stunden- Antworten findet man in der Philosophie- Aber muss ein schickes kleines Taschenbuch wirklich zehn Euro kosten? Reichen da nicht auch fünf? Wo sind die Zeiten hin, zu denen Taschenbücher noch fünf D-Mark gekostet haben? Andererseits kann sich niemand mehr an die D-Mark erinnern. Taucht sie in Filmen auf, in alten Zeitschriften, wundert man sich, dass es sie je gegeben hat. D-Mark, das muss Urzeiten her sein. Dabei galt sie noch bis zum 1. März 2002. Was nicht allzu lange her ist. Ein paar Teenager rempeln, ein Straßenmusikant könnte sich als Studiomusiker empfehlen, aufgrund Virtuosität nämlich, de facto herrscht inzwischen DIY oder deutsch TES. Tu es selbst. Die Studentin steht jetzt an einer Straße, deren Namen sie eben auf einem Buchdeckel gelesen hat. Sollte ich eine Geschichte über das Leben in großen Städten schreiben, findet sie, müsste ich auf Straßen- und Viertelnamen verzichten. Bloß nicht in irgendeinen Szenemist treten, nicht in die Fallen der aufgepfropften Empfindung von Stadtplänen tappen, das müsste die Vorgabe sein. Namen und wie sie öffentlich funktionieren: Sagt man beispielsweise Bremen, ist da bereits ein wenn auch diffuses Bild am Platze, sagt sich die Studentin jetzt: Bremen – kalt, windig, salzig, Nordsee. Bremen: piefig, klein, hanseatisch, Sozialdemokraten, ehemalige Hippies. Vier musizierende Tiere. Junge Leute aus Bremen, Berühmtheiten, Bands, Schriftsteller, die in Bremen wohnen? Fehlanzeige. Andererseits, denkt sie mit dem Deleuze- Die Stadt wird geputzt, seit einem Jahrzehnt drehen sich Zementmischer in Hinterhöfen, werden Baugerüste angekarrt, Farben geprüft. Inneres wird nach Außen gekehrt, ein Hin- wie Wegziehen findet statt, die Gehwege sind schief und gekrümmt von vierzig Jahren anderer Geschichte, ebenso die Straßenlampen, die jetzt auf Dauerschaltung trainiert sind und in früheren Zeiten einfach ausgingen, sobald es dunkel wurde. Maurer haben Hochkonjunktur, Sanierung ist das Gebot der Stunde. Fünf Millionen Arbeitslose, und der Staat versucht immer noch händeringend, die Leute an die Arbeit zu bringen. Selbstausbeutung von Staats wegen. Dabei ist schon seit Jahren die Frage, warum das Ziel (vielleicht auch nur angeblich) darin besteht, die Arbeitslosigkeit zu senken. Vielleicht sollten die, die das Privileg einer Arbeit haben, auch dafür bezahlen, nämlich für die, die das Privileg einer Arbeit eben nicht besitzen. Die Macht des Sozialen. Ein langweiliges, weil omnipräsentes Thema, denkt die Studentin und schließt die Tür auf. III. Kalifornien Ein Paar, eine blasierte Szenekuh und ein kurzhaariger Jüngling in einem weißen Polohemd, hat sich fünf, sechs Gratis- Chromtreppen, darüber muss ein Gedicht geschrieben werden. Eine Anrufung. Eine Abnahme. Sagt der Mann, und wendet die Karte ohne sich zu wundern, dass gar kein Platz darauf vorhanden ist. Die Rückseite ist mit Werbung voll – wer soll diese Karte verschicken? Eine piepende Melodie, ein Griff zum Mobiltelefon: Jemand ruft an, der Mann antwortet langsam. Ein Mädchen mit Kaleidoskopaugen. Außerirdische sind auf dem Arnimplatz gelandet (Postkarte 3). Zur Tarnung stecken sie in blauen Regenjacken, haben silberne Kameras um die Schulter, Regenschirme mit den Namen von Fernsehsendern. Das Paar, das sich über die Postkarten beugt, hat zu Worten gefunden, es ist ein heller Vormittag in einem mit alten Möbeln vollgestellten Kaffeehaus, zwei Euro fünfzig für Maschinenkaffee mit Milchschaum, zwei davon machen fünf Euro, aber man bezahlt auch für die Möbel, die Ausstattung, für die unterbezahlte, launige Bedienung, für den Mehrwert einer Zugehörigkeit. Die Frau kann den Blick nicht von der Schwimmbadkarte lassen, die ihrerseits veraltet ist und Geld in Lichtspieltheatern ziehen soll. Am Kinotag für fünf Euro. Einem Taschenbuch entsprächen also zwei Kinofilme an Dienstagen oder vier Milchkaffee, das ist doch ein fairer Preis! Die Frau stellt sich eine Diskussion unter den Bearbeitern des Schwimmbadfotos vor: Sollen wir eine Luftmatratze hinzufügen? Nein, nein, keine Luftmatratze. Aber wir müssten uns entscheiden: Liegt das Schwimmbecken in einer renovierten, hohen Halle? Oder inmitten einer Wiese, im Halbschatten? In der prallen Sonne, hinter einem Bungalow oder einem Hotel, einem zweistöckigen Einfamilienhaus, einer Kaschemme? Wie groß ist der Pool? Leute, er ist verdammt groß. Er hat fünf Bahnen. Ein Sehnsuchtsort. Herbstmitte: Kinogänge. Schlafzimmerblicke, Nahverkehr. Apartments und Haltestellen. Abgedunkelte Säle, abgedunkelte Straßen, kleine Lichter der Projektoren, kleine Lichter der Trams, Busse, Autos. Gebahntes Leben. Die Tage werden kürzer, und wenn endgültig das Licht ausgeht, ist der Herbst zu Ende und es folgt Weihnachten, das erste Lichtfest. Bestrahlte Fußgängerzonen, an Nadelbäume gehängte Kerzen, kurz nach Weihnachten ist Silvester, dann schießt man Leuchtraketen in die Nacht, möglichst viele auf einmal, und alle machen mit. Dass alle mitmachen, ist beinahe ein Wunder, das ist nicht zu erklären, dass es bei aller Individuation noch kollektiven Spaß gibt. Nach Silvester kommt lange nichts; bevor der Winter sein Stelldichaus gibt, wird Karneval gefeiert, zumindest in den katholisch-
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René Hamann
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