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Literatur aus dem Verlust


Aus einem poetologischen Text

  Sibylle Luithlen


Dieser Texte entstand im Zusammenhang mit der Erzählung „Ischai“ und wurde mit dieser zusammen 2011 in der Reihe „zwölf Farben“ veröffentlicht


1
Ich träume von einem Text ohne Straßen­laternen, ohne Handys und Computer, ohne Frisuren und Autos und Handtaschen, ohne Sätze, die schon einmal gesagt worden sind. Ein Ort außerhalb der Rea­lität, ein Ort, den der Geist bewohnen kann, an dem er wenigs­tens für eine kurze Zeit in Sicher­heit ist vor der ding­lichen Welt, vor der Über­macht des Konkreten. Es müsste ein Ort sein wie eine Wolke, Worte wie ver­dichtete Feuchtig­keit. Er dürfte aber auch nicht obskur und rätselhaft sein, ein kristallklarer Ort. Wie müsste er aussehen? Welche Worte dürften nicht vorkommen? Herd, Bürger­steig, Einwohner­meldeamt, Nagelfeile, Kaffee. Nicht mal Kaffee!

2
An der Tür der Dachwohnung klebt eine Postkarte: Die Nächte sind zum Träumen da, die Tage zum Leben. Wie bitte unter­scheidet man das? Woher weiß ich, dass das, was ich für mein Leben halte, kein Traum ist? Und wozu gehört das Schreiben, zu den Tagen oder den Nächten?
Guckst du wieder in die nächste Woche, hat der Vater früher zu ihr gesagt und ihr freund­lich über den Kopf gestrichen. Sie hat aber nur zugehört, wie es in ihrem Kopf erzählt. Ein Leben lebt sie und eins erzählt sie sich in Gedanken. Lange bevor sie das Alphabet gelernt hat, hat das Schreiben angefangen.

17
Michelangelo soll gesagt haben, sein David sei schon im Marmor vorhanden gewesen, er hätte ihn nur befreit. Giacometti hat behaup­tet, alle seine Statuen seien in ihrer fertigen Form zu ihm ins Atelier gekommen, und Uwe Johnson hat darauf bestanden, dass Gesine Cresspahl ihm in New York auf der 5th Avenue ent­gegen­kam. Demnach ist das Kunst­werk schon im Material oder in einer meta­physischen Form enthalten und der Künstler gibt ihm die ihm bestimmte Form. Eine inspi­rierte Kunst, der Künstler als Medium für eine höhere künstlerische Wahrheit.
Schwieriger gestaltet es sich für Thomas Bernhards Konrad im Kalk­werk, der seine bahn­brechende Studie über das Gehör gedanklich immer weiter ausarbeitet, aber daran scheitert, sie aufs Papier zu bringen.
„Man versucht, den elenden Kram auf dem Papier dem anzunähern, wie das Buch einmal sein soll. (...) Man liest die Sätze immer wieder aufs Neue. Und das Buch schreibe ich? Ist das etwa alles?“ Susan Sonntag beschreibt die Ent­täuschung über die Diskre­panz zwischen dem idealen, eher erahnten Werk, und dem, was am Ende sichtbar ist. Es sollte sich an der ganzen Welt messen, an der Inten­sität und Viel­schich­tigkeit der Erfahrung, und dann muss man sich damit zufrie­den­geben, einem kleinen Erfah­rungs­splitter Leben eingehaucht zu haben.
„Die Literatur, die uns wichtig ist, besteht aus vielen Frag­menten eines Versuchs, nicht aus dem Monument des Er­reichten“, schreibt Zadie Smith dazu in ihrem Aufsatz „Besser scheitern“. Also geht es beim Schreiben darum, diesen Frag­men­ten von Ver­suchen ein weiteres hin­zu­zufügen.

19
„Der Verlust der Frau ist die Bedingung dafür, dass der Held des Tan­gos diese Sicht erlangt, die ihn von der Welt entfernt und ihm erlaubt, über die Erinnerung, die Zeit, die Ver­gangen­heit, die ver­ges­sene Reinheit, den Sinn des Lebens zu philo­sophie­ren“, schreibt Ricardo Piglia über die Tra­dition des Tangos und seine Verwandt­schaft mit der argentinischen Literatur. Er bezieht sich auf Romane, die vom Verlust der geliebten Frau handeln.
Der frühe Verlust von etwas, viel­leicht ein unbe­wusster Verlust; etwas ist mir verloren gegangen und hat einen Graben auf­gerissen zwischen dem Ich und dem Leben. Ich ver­schmelze nicht mehr mit ihm, sondern beobachte es, ver­suche mich ihm zu nähern, den Graben zu über­sprin­gen, fühle mich auch überlegen in meiner distan­zierten Sicht. Wie schön wäre es, einfach zu tanzen. Aber könnte man dann noch über das Tanzen schreiben?
„Kein Weg führt vorbei an der Herkunft der Kunst aus dem Verlust – und daran, dass sie an diesen Verlust zugleich erinnert und über ihn täuscht“, schreibt Adolf Muschg in seinen Frank­furter Vor­lesungen. Wo ich schon den Verlust nicht mehr rück­gängig machen kann, trans­formiere ich ihn. Ich mache ihn sichtbar und ver­wandele ihn mir an. Dieser Verlust gehört nun zu mir, er ist Teil meines Lebens.

21
Es gibt zwei Sorten von Texten, schreibt Roland Barthes, die reaktiven und die aktiven. Der reaktive Text ist den Ver­störungen, Verteidi­gungs­mechanismen und Ängs­ten geschuldet; der aktive Text entsteht aus Lust am Schreiben. Man könnte vielleicht sagen, die reaktiven schreibt man für sich, die aktiven für einen Leser. Aber indem man einen reaktiven Text über­arbeitet, sich den Gesetzen der Fiktion und des Stils unterwirft, wird er zu einem aktiven.

22
Der Traum von dem Text ohne Telefone und Küchen ist ausgeträumt. Wovon sollte er er­zählen? Von reinen Gefühls­zu­ständen? Gedanken? Dann müsste sie Gedichte schreiben. Aber sie schreibt über Men­schen, zu deren Leben Gegenstände gehören, also gehören sie auch in den Text.
Der nun erträumte Text ist gleich­zeitig leicht und schwer, er zeigt eine Ober­fläche und lässt das darun­ter Lie­gende erahnen. Wie Truman Capote, der in „Break­fast at Tiffanys“ seine Holly Golightly nachts mit kurzen Röcken in Clubs gehen lässt, ihr beim Nägel­lackieren und Kaffee­kochen zusieht; und doch wird deut­lich, dass hier jemand versucht, in der Luft zu bleiben, weil er in Stücke gehen könnte, wenn er auf dem Boden auf­kommt; dass hier jemand am Ab­grund entlang hüpft. Und es wird so erzählt, als hätte man den Schrift­stel­ler, der damals unter ihr wohnte, gerade getrof­fen und er würde einem einfach eine Geschichte er­zählen, die ihm pas­siert ist. Capote unter­wirft sich keinem Stil, lässt sich keinen Ma­nieris­mus durch­gehen. Er er­zählt so, dass ein Unbe­darf­ter sich fragen würde, was daran Kunst sein soll; wenn jemand etwas einfach so er­zählt, wie es war.

23
Wenn Ischai ein kleiner Bruder von „Breakfast at Tiffanys“ sein könnte, so wäre die Verfasserin glücklich. Und sie weiß: Er kann noch viel von der lite­rarischen Schwester lernen. Sie kannte Holly Golightly noch nicht, als sie über Ischai schrieb, aber als sie es las, sah sie gleich die Fami­lien­ähn­lichkeit zwischen beiden.
Es ist eine Geschichte von etwas, was sich einmal zwischen zwei Menschen ereignet und Spuren hinter­lassen hat. Die Geschichte eines Verlus­tes; eines undrama­tischen und sich tausend­fach wieder­holen­den Verlustes, der seine Wir­kung erst mit der Zeit ent­faltet. Die Per­son, die den Ver­lust erlitten hat, ist sich der Tragweite nicht bewusst; erst nach und nach wird ihr klar, dass das, was da verloren gegan­gen ist, viel mehr war als eine Person.

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Sicher haben manche von uns einen Ischai gekannt und einigen fehlt er viel­leicht hin und wieder, wenn der Alltag sich wie ein schweres Tuch auf alles legt; wenn wir uns der Kluft bewusst werden, die es zwischen dem geben mag, was wir einmal wollten, und dem, was wir getan haben.
In dieser Kluft ist die Literatur zu Hause.
Sibylle Luithlen   September 2012   

 

 
Sibylle Luithlen
Prosa
Über Literatur