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Sina Ness
Am Halbufer

Ein Rauschen war da, ein leises Rauschen, das ganz langsam, quälend langsam zu Wörtern, dann zu Sätzen wurde. Und plötzlich, aus der tiefsten Ruhe seines Brustkorbes heraus, erhob sich seine Stimme und trug erst zerknittert wie nach langem Schlaf die Worte aus der Lunge empor, dann sicherer und glatter und schließ­lich in einem Fluss in das Mikrophon und vom Mikrophon in die Lautsprecher und von da durch den schwarzen Stoff der Abdeckung knisternd in den Saal und in die Ohren der Zuhörenden und von den Ohren in die Gehörgänge, und von den Gehörgängen im Sturzflug am Trommelfell vorbei, hinein ins Dunkle, der Sprung in die Gedanken. Zweisimm spürte die Blicke, die auf ihm ruhten, spürte, wie für einen Moment aus unzähligen Welten ein kleines gemein­sames Universum wurde und er war es, der es zusammen­schnürte, mit dem dünnen Faden seiner Sätze, auf den er Wort um Wort um Wort aufreihte. Und der Faden riss und Bilder fuhren Zweisimm zwischen die Worte: Fäden, Haare, blonde, dunkle Haare, Algen, das Halbufer, das hinunter­zieht, eine Hand, die nach dem roten Schopf eines Kindes greift, und da, ein Fahrrad, liegend auf dem Asphalt im Sirren der Speichen, die drehen, drehen. Erst als man Zweisimm sanft am Ellbogen nahm und von der Bühne führte, erwachte er. Das Kind lag in seinem Arm, Frau Zweisimm still neben ihm. Er schaute ins Gesicht seiner Frau und atmete ihren Atem ein. Nur das Zittern der Wimpern verriet, dass sie noch in ihren Träumen war.

Frau Zweisimm schlang ihre Arme etwas enger um den kleinen Jungen, der ein leises Schnauben von sich gab. Im Keller der Universität ging ein kalter Luftzug. Als ihr Mann um die Ecke bog, verlor ihr Blick das Blau seines Overalls. Das Rascheln des Stoffes war noch eine Weile zu hören. Die Uniform war an einem Tag zu straff, am anderen zu locker, am nächsten überhaupt ganz schief und zerknautscht. Die Frau musste lächeln. Er wird es eines Tages noch zu etwas bringen, dachte sie, das sieht man an seinem Gang. Der Kleine zappelte in ihrem Arm und fuhr mit seinen Patsch­händen in ihr Gesicht, dann schaute er zum Boden hin und begann zu wimmern. Was willst du?, fragte Frau Zweisimm, sag mir, was du möchtest. Der Junge wies auf den Boden. Sag: Darf ich bitte runter. Die Augen des Jungen flackerten. Er schaute nach unten und wimmerte. Frau Zweisimm hielt ihn mit einem Arm fest umschlungen. Sie trat aus dem Türrahmen zurück in die Wohnung und zog mit der freien Hand die Tür hinter sich zu.

Zweisimm drückte den Knopf für den ersten Stock des Universitäts­gebäudes. Die Aufzugtüren schlossen sich, durch den letzten Fingerbreit der Öffnung lauschte er nach seinem Sohn. Dimitri war drei Jahre und zwei Wochen alt und hatte noch immer kein Wort gesprochen. Er lachte nie laut, er weinte auch nie laut. Wenn er unglücklich war, dann wimmerte er leise, der kleine Rotschopf. Dimitri war nicht charakterlos, wie Zweisimms Frau in der Wut manchmal sagte. Es kam alles nur daher, dass der Kleine so selten unter Kinder kam. Ein Gespiele, das war es, was Dimitri fehlte. Wenn nur die erste Geburt nicht so schwer gewesen wäre. Dann hätte seine Frau vielleicht auch ein weiteres Kind gewollt. In ein paar Jahren hätte Zweisimm mit den beiden Fußball spielen können, auf der zertrampelten Wiese die den Campus zur Straße hin abschloss, nach der Arbeit, wenn seine Gelenke dann noch mitmachten. Sie hätten bis dahin ausziehen können, aus dem Untergeschoss, wo es manchmal so trist war mit den kleinen Luken, an die man nur mit einem Stuhl herankam. Zweisimm hätte eine der Wohnungen im Erdgeschoss beantragen können. Dort hätten die Kinder später durchs Fenster hereinspaziert kommen können, statt durch die Tür. Das hätte ihnen gefallen. Zweisimm zog an seiner Hose, bis sie noch ein Stück schiefer als ohnedies an seinen Beinen hing. Vom ersten Stock aus machte er einen kleinen Rundgang durch die Hörsäle und prüfte, ob alle Heizungen und Lüftungen wieder einwandfrei funktionierten. Gestern waren einige Reklamationen eingegangen, es sei viel zu heiß, es sei viel zu kalt, ein unerträgliches Rauschen störe die Vorlesung, und überhaupt, dass da auch immer, und es müsse ja nicht gleich, aber wenigstens sollte dann, wenn man bedenke, dass nun immerhin, alles was recht ist.

Zweisimm vermied den Blick in den Spiegel über dem kleinen Waschbecken in der Ecke des Hörsaals. Er wusste, dass er sich hätte rasieren sollen, heute Morgen. Es machte sich nicht gut, an Donnerstag­abenden ungepflegt auszusehen. Aber er hatte nicht aufstehen können, als der Wecker zum ersten Mal geklingelt hat. Der Kleine hatte in seiner Armbeuge gelegen und Frau Zweisimm war so weich und umwölkt gewesen, von ihrem Atem, wie sie neben ihm gelegen hatte, dass es ihn nach all den Jahren noch immer durch­zitterte, dass sie zueinander gefunden hatten und dass eine wunderbare Frau wie sie tatsächlich mit ihm sein wollte, ein Leben lang. Das kann nicht gut gehen, eine von dort zu holen, das ist noch nie gut gegangen und dann erst noch eine von der Sorte, die sofort heiraten wollen und später rinnt ihnen das Geld durch die Finger und sie wollen von nichts gewusst haben. Und wenn dann alles verschleudert ist, dann kann man sehen, wo man bleibt. Unsinn, alles Unsinn. Die kannten nur das stolze Herz von Irina Zweisimm nicht.

Eine blonde Frau fuhr im Schatten der Bäume und Sträucher, die das Ufer des Flusses säumten. Die Haare noch weich umluftet, von keinem Blut der Welt verklebt. Sie trug einen blauen Rock und eine Bluse, die gar nicht zu dem Rennrad passen wollte, auf dem sie sich bewegte, so natürlich, als sei sie damit verwachsen. Sie wandte den Kopf nach beiden Seiten. Bilder aus früheren Zeiten stiegen aus dem Unterholz am Ufer des Flusses empor, hier und da fehlte ein vertrauter Baum, hier und da war ein neuer aufgeschossen. Auf dem Rücken der Blonden hing ein leichter Rucksack aus schwarzem Stoff. Darin lagen die Notizen. Es war Mittag. Sie hätte im Hotel­zimmer bleiben und den Vortrag für den Abend noch einmal durchgehen können, aber die alten Bilder hatten sie ins Freie gelockt.

Zweisimm stattete der Technik einen Besuch ab. Er musste für den Abend noch ein Mikrophon besorgen. Berger, der Techniker aus dem V-Gebäude war nirgendwo zu finden, aber der Hausmeister kannte sich aus, er wusste sich selbst zu bedienen. Zweisimm wählte das Mikrophon, das am meisten glänzte, dann ging er in den Kühlraum und schaute nach, ob noch genügend Wasser­flaschen in den Kisten waren. Die Referenten hatten jeweils ein sauberes Glas und eine Flasche Wasser auf dem Rednerpult bereitgestellt zu haben. Die meisten tranken jedoch nur ein paar wenige Schlucke daraus. Es war ein Jammer um das gute Wasser. Zweisimm brachte es nicht übers Herz, es wegzu­kippen. Er hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, die Gläser der Referenten auszutrinken, nach dem Vortrag, später, wenn sich der Saal geleert hatte. Im Winter, wenn die Immunsysteme schwach waren, verschleppte Zweisimm die Viren und Keime der Philosophen. In den zartfühligen Nächten flossen sie unweigerlich über, in den Kreislauf seiner Familie. Zweisimm blieb gesund. Das gute Wasser aus dem Harz. So sehr hatte er sich daran gewöhnt, dass es ihn manchmal mit leichtem Unmut erfüllte, wenn einer sein Glas austrank. Aber es war nicht bloß dieses Wasser. Er brachte es ganz allgemein nicht übers Herz, Dinge wegzuwerfen. Es beginnt ja schon auf dich abzufärben. Bald bist du ein solcher Geizkragen, wie es dort drüben alle sind. Das größte Vergnügen dieser Pfennigfuchser ist es doch, sich ein Vergnügen zu versagen. Wenn sie könnten, nähmen sie ihren Ramsch noch mit ins Grab. Was für ein Schwachsinn! War es nicht Irina Zweisimm, die ihm manchmal mit Gewalt das verschimmelte Brot entwenden musste, von dem er nur den grünen Film hatte abschaben wollen? Dann schaute er erstaunt in ihr bleiches, locken­umrahmtes Gesicht. Zweisimm sagte sich, dass dieser Zug, an allem zu klammern, angeboren sein musste, aber im Grunde war er, wie die meisten Züge an ihm, der Liebe zu seiner Frau entwachsen. Er war so biegsam gewesen und wetterfühlig in der Meteoro­logie dieser Beziehung, dass er schnell herausgespürt hatte, welche seiner Wesenheiten mit dieser Frau zusammenspielten und welche nicht. Er hatte ohne sein Wissen angefangen, diese Züge zu hegen und die übrigen, widerborstigen, mürrischen und ruppigen hatte er so unterernährt mit Geschichten, dass sie verkümmert waren. Zweisimm war ganz der Mann seiner Frau geworden.

Frau Zweisimm tauchte einen Kaffeelöffel in den russischen Honig und rührte ihn unter die heiße Milch in der Schnabeltasse. Sie testete mit dem kleinen Finger die Temperatur und ließ etwas kaltes Wasser ins Waschbecken einlaufen um die Milch zu kühlen, als sie plötzlich lautes Scheppern hörte. Sie lief ins Wohnzimmer hinüber. Der Kleine hatte das Köfferchen mit den Näh- und Sticksachen vom Regal gestoßen, Fäden, Knöpfe und Stricknadeln lagen über den Boden zerstreut. Der Junge strahlte. Dimitri, nein! Nicht gut!, sagte Frau Zweisimm. Der Kleine sank in sich zusammen. Hinter seiner Stirn arbeitete es. Das Lächeln verlor sich. Wenn er ängstlich wurde, schielte er etwas stärker als sonst. Frau Zweisimms Hände brannten, aber sie blieb ruhig. Warum konnte er nicht wenigstens bei seiner Freude über das eroberte Näh­kästchen bleiben? Warum stand er nicht zu dem, was er tun wollte? Warum war er so zartfühlig und kränkelnd? Warum hatte er rote Haare? Warum Sommersprossen? Und warum musste er schielen? Warum musste ausgerechnet ihr Kind schielen? Sie setzte sich auf den Boden neben den Kleinen und begann die Stricknadeln zusammen­zusuchen. Er schaute ihr zu, eine Träne stand auf seinen Wimpern. Frau Zweisimm schüttelte ihn etwas an der Schulter, dann nahm sie ihm eine Stricknadel, die er immer noch festhielt, aus den Händen und hielt sie ihm vor das Gesicht. Aua, sagte sie, aua, aua. Dimitri schaute durch die Stricknadel hindurch in ihre Augen. Frau Zweisimm packte seinen Arm und sagte noch einmal: Aua. Dann piekste sie ihn mit der Nadel. Der Junge fuhr zusammen.

Die blonde Frau folgte dem Verlauf des Flusses durch die Stadt. Nur einmal verließ sie ihn, um den Ort zu sehen. Den Ort, an dem sie damals verunglückt war, mit diesem Jungen aus der Nachbarschaft. Zweisimm. Er hatte im Spaß nach ihrer Lenkstange gegriffen. Es dauerte danach eine ganze Weile, bis der Mut zurückgekehrt war, wieder auf ein Fahrrad zu steigen. Beide hatten sich das Handgelenk gebrochen, beide das rechte Handgelenk. Nur dass Zweisimm Rechtshänder war und sie mit der Linken schrieb. Sie hatte viel geschrieben in der Zeit. Briefe an alle möglichen Leute. Auch an Zweisimm. Zweisimm hatte nie geschrieben, aber er hatte angefangen, ihr Blumen zu bringen. Riesige Sträuße, vom Ufer des Flusses, einzelne Mohnblumen, Äste mit Weidenkätzchen, Schilfgräser, Flieder, einmal sogar Moos. Er hatte sich in sie verliebt. Auch wenn er nie etwas sagte, auch wenn er sehr schüchtern blieb, es war offensichtlich. Zweisimm. Ob er wohl noch immer in der kleinen Stadt lebte? Merkwürdig, seinen Vornamen wusste sie nicht, es war, als hätte er nie einen gehabt. Alle hatten ihn immer nur Zweisimm genannt. Die blonde Frau blickte auf die Uhr. Noch blieben einige Stunden bis zu ihrem Vortrag. Aber sie konnte sich nicht überwinden, zum Hotel zurückzukehren, um da die Notizen noch einmal durchzugehen. Sie wusste doch, was sie sagen wollte, außerdem würde der Vortrag schnell vorbei sein. Dann würde sie mit ihrem ehemaligen Professor und seinen neuen Jüngern ein Glas Wein trinken und spät nachts im Hotelzimmer ins Bett fallen.

Zweisimm stellte für den Abend eine der Flaschen neben die Tür des Kühlraums. Wenn das Wasser zu kalt war, dann mochte das gut und gerne die Stimmbänder der Referenten erschrecken und jenes grässliche Geräusper heraufbeschwören, das ihm unerträglich war. Zweisimm wischte mit der Hand über den angelaufenen Flaschen­hals. Er hatte gewiss schon mit einigen der Großen aus einem Glas getrunken. Auch wenn Zweisimm ihre Worte meist an sich vorbeirieseln ließ, konnte er hören, wie gewichtig und exakt diese Worte waren, und wie genau sie an ihren Platz in den Raum hinaus gestoßen wurden. Zweisimm streifte während der Vorträge am liebsten mit seinem Blick über die Gesichter der Zuhörer. Nur manchmal blitzte aus dem Gesagten etwas auf, dann schauderte es ihn leicht. Und die Blicke der Großen, aus ihren tief­liegenden Augen! Manchmal schien ihm, sie seien direkt auf ihn gerichtet und dann erschrak er, als hätte jemand mit Kreide über eine Tafel gekreischt. Einmal hatte Zweisimm sogar das übrig gebliebene Wasser von Ernst Tugendhat getrunken. Das war einer der wenigen Namen, die er über längere Zeit hatte behalten können. Bestimmt war Tugendhat einer von denen, deren Todestage und Geburtstage man später in diesem Radiosender feiern würde, den die Zweisimms beim Frühstück immer hörten. Es war ein Sender, den Zweisimm nicht mochte. Aber Frau Zweisimm liebte die klassische Musik und gerade am Morgen, wenn man noch durchlässig ist, sagte sie, muss man sich gegen den Tag wappnen. Man kann sich einhüllen lassen von dieser Musik, wie von einem feinen Gewebe, das man über die Kleider zieht, ein Tarnkleid, hatte sie einmal gesagt und dabei einen Blick mit dem Kind ausgetauscht, fast schon verschwö­rerisch war dieser Blick Zweisimm vorgekommen.

Frau Zweisimm tauchte ihren Finger erneut in die Milch. Die Temperatur war jetzt angenehm. Sie setzte den Deckel auf die Schnabeltasse und trocknete sie mit einem Waschlappen ab. Von drüben war es ganz still geworden. Milch ist fertig!, rief sie, Dimitri!, aber der Junge gab keine Antwort. Frau Zweisimm trat aus der Küche und bog um die Ecke ins Wohnzimmer: der Kleine saß da mit einer Stricknadel, die sie vorhin übersehen haben musste. Er blickte über die Schulter zurück zu Frau Zweisimm. Dann stieß er die Nadel in die Steckdose.

Zweisimms Augenlid zuckte nervös. Er legte seine Hand darauf und fühlte durch das Auge hindurch seinen Puls. Im Zimmer der Geräteverleihstelle klingelte das Telefon. Warum Berger wohl nicht abnahm? Das Klingeln hörte nicht auf. Zweisimm steckte den Schlüssel ins Schloss, es klemmte. Als er endlich in den Raum kam, brach das Klingeln ab. Das Licht auf dem Telefon­display erlosch. Zweisimm hob den Hörer ans Ohr: Die Leitung war tot. Er seufzte und setzte sich an den Tisch. Er stützte seinen Kopf in die Hände, ein leiser Schwindel befiel ihn. Von weit her hörte er Schritte in den Fluren der Universität und einen Moment lang war ihm, als befinde er sich in einem gigantischen Ameisenhaufen. Die Schritte wurden lauter, es raunte und rumorte von allen Seiten her, dann, in dieses Raunen hinein, flog die Tür auf und Berger stand auf der Schwelle, Geräusche stürzten an ihm vorbei in den Raum. Der Techniker atmete schwer. Die Uniform hing ebenso schief und krumm an seinem Körper, wie bei Zweisimm. Er sagte zwischen schweren tiefen Atemzügen: Gott, nur Stress, einfach nur Stress.

Frau Zweisimm stürzte herbei und packte den Jungen, der unbewegt am Boden sitzen geblieben war. Sie zog ihn auf ihren Schoß und kniete auf dem Boden nieder, neben der Steckdose. Sie drückte das Kind so fest, dass es zu husten begann. Sie lauschte nach seinem Herz. Nichts Unnatür­liches war heraus­zuhören. Der Junge wollte sich ihrem Griff entwinden, aber Frau Zweisimm ließ ihn nicht los. Sie blieb sitzen, auf dem Boden, unter dem Kippfenster. Von hier aus blickte sie über den Kopf des Kindes direkt in die Blütendolden eines Holunderbusches. Dass sie schon jetzt blühten! Es war doch noch viel zu früh im Jahr. Ein Geruch überkam sie, von dem Dampf der aufsteigt, wenn man die Blüten mit Zucker im Wasser aufkocht. Mama macht heute Holunder­blüten­sirup, flüsterte sie, Sirup für Dimitri, und drückte ihn etwas fester, während er schlapp in ihren Armen hing und vor sich hin schaute.

Zweisimm nickte Berger zu, ja, der Stress, ja, und ging an ihm vorbei aus dem Raum. Es war bald Mittag und er würde mit Frau Zweisimm und dem Kleinen essen. Er ging in Gedanken noch einmal die Vorbereitungen fürs Kolloquium durch, als er auf den Campus hinaustrat. Eigentlich hätte Zweisimm während dieser Vorträge gar nicht im Hörsaal zu bleiben brauchen, aber da es seine Aufgabe war, verfügbar zu sein, falls irgendwelche technischen Probleme anfallen sollten, war ihm wohler vor Ort. Er hatte dann, wenn er so da saß und den herumhampelnden Referenten zusah, das Gefühl einer unendlichen Dünnhäutigkeit. Das kleinste Flackern des Beamers kappte ihm den Faden der Gedanken, jedes Aufstöhnen der Lüftung, war ihm ein Schnitt mitten durchs Herz. Der Hausmeister runzelte die Stirn und fuhr sich mit der Hand ins Gesicht. Letzte Woche war während des Vortrags etwas gegen die Scheibe geknallt und Zweisimm war schmerzhaft zusammengefahren. Er begann, das Gebäude zu umschreiten und betrat den schmalen Gehweg zwischen dem Gebüsch und der Hauswand, hinter welcher der Hörsaal lag. Er untersuchte die Sträucher unter den Fenstern. In den Ästen hing ein lebloser Vogelkörper. Zweisimm löste das zarte Tier aus den Dornen und strich ihm die zerzausten Federn glatt, während er vom Gehweg wieder zurück auf den Campus trat. Als er den Vogel auf den Rücken drehte, errötete das Federkleid in leichtem Schillern. Der Hausmeister umschlug den Vogel behutsam mit einem Taschentuch und konnte ihn erst nach langem Zögern in einen der Abfalleimer legen, die zu beiden Seiten neben den Türen zum Hörsaaltrakt standen. Die Finger wusch sich Zweisimm nicht. Als er in Richtung Wohnung schritt, hatte er den Vogel bereits wieder vergessen.

Frau Zweisimm trug den Jungen in den Flur hinaus. Etwas an die frische Luft, Dimitri, ja, sonst bleibst du eine Bleichmaus. Ihre Stimme klang fremd in ihren Ohren und das Herz schlug noch immer. War denn wirklich nichts passiert? Sie legte einen Schal um Dimitris Hals und zog ihm die grüne Strickjacke an, die ihm inzwischen viel zu eng war, so mollig war er geworden. Während sie ihn ankleidete, hielt sich der Kleine beide Hände vor die Augen. Das tat er oft. Er blieb dann mitten im Raum stehen und legte sich die Hände flach über das Gesicht. Als triebe ihn ein Verlangen nach Unsicht­barkeit. Fast zärtlich lagen seine Patschhände auf seinen Augen, und er streichelte mit den Fingerspitzen seine eigene Stirn. Frau Zweisimm wurde leer, wenn sie das sah. Gab sie dem Jungen denn nicht genug Liebe? Es war ihr, als versuchte er in die hintersten Winkel seines eigenen Körpers zurück zu kriechen, immer weiter von ihr weg.

Der Hausmeister fuhr mit dem Lift ins erste Untergeschoss und beschleu­nigte seinen Schritt, als er um die Ecke zur Wohnungstür abbog. Seine Hände juckten und pulsierten, als wollten ihm die Finger­kuppen abfallen. Vor der Tür blieb er kurz stehen und lauschte, dann pfiff er einen Trillerton, auf den seine Frau mit einem hohen, langgezogenen Pfiff zu antworten pflegte. Es blieb still. Zweisimm klingelte und als wieder nichts geschah, öffnete er mit dem Schlüssel die Tür. Er stand unschlüssig in der verlassenen Wohnung. Wenn die Frau und das Kind nicht hier waren, war dieser Ort so merkwürdig fremd, als gäbe es keinen Hinweis darauf, dass er, Zweisimm, hier je einen Fuß hinein gesetzt hatte. Er blickte sich um. Stimmen gingen ihm durch den Sinn. Wenn das nur gut geht. So einer kann man nie ganz vertrauen, das ist dir doch hoffentlich klar. Die sind so, das liegt nun mal in ihrer Natur. Vielleicht können sie nicht einmal etwas dafür, so sind die da einfach. Wenn man aufwächst mit nichts und wieder nichts. Und plötzlich verschwinden sie mit dem, was dir das Liebste war.

Die blonde Frau hatte im Bogen des Flusses die Stadt einmal umrundet und fuhr an der Universität vorbei, ins Grüne, immer dem Fluss entlang, dessen Ufer nun gesäumt waren von Holunderblütensträuchern. Dort zwischen den Zweigen im Unterholz stand eine dunkelhaarige, kleine Frau. Mit einer Schere schnitt sie die Dolden von einem Busch herunter. Etwas Wildes lag in der Art, wie sie diese Dolden herunter schnitt. Sie stand vertieft und ihr Blick wanderte zwischen den Blüten, die über ihr hingen und dem Korb, der zwischen ihren Beinen stand. Mit einem weit ausschwingenden Rock stand sie über dem Korb, der Bauch glatt, wenn sie sich nach oben reckte und faltend, wenn sie sich zum Korb hinunterbeugte. Wenn immer sie eine Dolde in den Korb legte, streifte sie mit der Hand über die Ernte und der Rock floss um ihre Arme. Das Fahrrad der Blonden war zum Stehen gekommen. Die blonde Frau stellte ihren Fuß auf den Kiesweg und blickte zum Flussufer hinunter. Hinter der Frau bewegte sich etwas im hohen Gras. Ein Kind, das durch die Kerbeln und Schilf­gras­stauden in Richtung Wasser ging.Die Blonde blickte nach dem Kind. Ein Ruf lag ihr auf den Lippen, aber er kam nicht. Eine sonderbare Sucht packte sie, dabei zuzusehen, wie das Kind im Rücken der Mutter stürzen würde, in den Fluss. Sie stand mit halbgeöffnetem Mund über ihrem Fahrrad. Fast lautlos schluckte das Wasser das Kind, als es fiel.

Frau Zweisimm drehte sich um. Über die Böschung zum Halbufer hinunter kam eine Frau. Alles an ihr wehte. Mit den Händen teilte sie im Laufen die Luft. Auf dem äußersten Grasbüschel am Wasser kam sie zum Stehen. Und sie beugte sich vor und griff tief hinein in das Wasser und zog etwas empor, am Haarschopf, am roten Haarschopf, ein Kind. Es dauerte eine Sekunde zu lang, bis Frau Zweisimm das Kind erkannte. Sie ging hin und riss es der Frau aus den Armen und drückte es nass an ihren Bauch. So stand sie blind und lauschte dem Atem des Kindes, bis sie hörte, wie die andere endlich ging.

Das Licht war grell, die Sonne war bereits dabei, schräg hinter den Trakt der Hörsäle hinunter zu sinken. Noch fünfzehn Minuten bis zum Beginn der Vorlesung. Zweisimm ging quer über den Campus. Er hatte gar nicht gemerkt, wie die jungen Leute aus den Gebäuden hinaus­geströmt waren. Eine der Studentinnen hielt ein Kuchenstück in ihrer Hand. Es war die Spezialität des Bäckers vorne an der Straße. Die weiße Glasur spiegelte. Die Studentin schaute lachend an dem Kommilitonen herunter, der neben ihr stand. Der junge Mann hatte Haare von einem undefinierbaren Rot, die ihm in alle Himmelsrichtungen vom Kopf standen. Er hing da, als stünde er neben seinem Rückgrat, als hätte er überhaupt keine Knochen. Er müsse längere Hosen tragen, sagte das Mädchen dann, die dürften nicht so weit oben aufhören, dass man noch die Socken sah. In ihrer Stimme lag so viel Wärme und Sorge, dass es Zweisimm schauderte. Dann brach sie mit bloßen Fingern ein Stück aus dem Kuchen heraus und streckte es dem Kommilitonen hin. Zweisimm überfiel plötzlich eine tiefe Lust nach diesem Süßgebäck, nach dem Knistern der Holunderblüten, die im Teig eingebacken wurden. Je näher er zum Hörsaal kam, desto unbändiger wurde diese Lust. Seine Schritte wurden immer langsamer und schließlich machte er Halt, drehte sich auf dem Absatz um und eilte zurück über den Campus, der Bäckerei entgegen.

Die Straße, die ihn von der Bäckerei trennte, war menschenleer. Zweisimm wollte sie gerade überqueren, als ein Rennrad auftauchte und dicht an ihm vorbeifuhr. Er stand in seiner schiefen Uniform und schaute der Fahrerin nach. Sein Blick lag auf ihrem Rücken, dann auf dem strohblonden Haar, das an den Schultern vom Fahrtwind aufgeworfen wurde. Liv. Plötzlich, als wären ihm Spinnweben über dem Gesicht geplatzt, fuhr ihm der Name durch den Sinn und im selben Moment hörte er sich rufen: Liv! Alles blieb stehen. Die Stimme hallte in Zweisimms Kopf. Die Frau wandte sich um. Die Blicke kreuzten sich kurz. Der Wind schlug ihr die Haare über die Augen. Dann geriet ihr das Rad ins Schlenkern, schon verloren ihre Hände die Kontrolle über den Lenker und im nächsten Moment war es an den Bordstein geprellt und mit einem Geräusch, wie es Zweisimm noch nie gehört hatte, fiel die Frau hin, neben das wegschlitternde Rad, auf den Asphalt. In der Stille danach hing das ausklingende Sirren der Speichen.

Ein Mann ging ruhig. Er hielt in seiner Faust ein Glas und eine Wasserflasche, und während er ging vergaß er sein Gehen. Jeder Schritt entfiel ihm mit dem nächsten. Der Mann brachte eine Treppe hinter sich und trat durch eine große Tür in einen Hörsaal ein. Eine Gruppe von Dozenten stand etwas ratlos nebeneinander, darunter war auch der Leiter des philosophischen Instituts, der das Kolloquium veranstaltete. Er nickte kurz zu dem Mann hinüber. Die Referentin ist noch nicht gekommen, hörte der Mann ihn sagen. Die Referentin. Er blieb stehen. Er schaute nach dem Plakat hinüber, auf dem die Vorträge aufgelistet waren. Dr. Liv Lauring stand da. Lauring.

Der Mann hielt in seiner Faust Wasserglas und Flasche. Langsam schritt er nach vorne, auf das Rednerpult zu. Der Instituts­leiter schüttelte den Kopf: Nein, warten Sie noch einen Moment, aber der Mann wandte sich nicht nach ihm um. Ihm war, als könnten seine Füße denken, als würden sie jeden Schritt sorgfältig abwägen, alle möglichen Unsicher­heiten ausschließen. Sie steuerten den Mann so an das Rednerpult, dass sein Bauch leicht gegen die Holzkante stieß. Er stellte das Wasser­glas hin und goss es zur Hälfte voll mit Wasser. Dann zog er das Mikrophon etwas näher an sich heran. Er tippte mit dem Zeigefinger darauf und räusperte sich. Im Vorlesungssaal war es so still geworden, dass man das Ticken der Armbanduhren vernehmen konnte, aus den vorderen Reihen, wo noch die letzten Uhrenträger saßen. Der Mann lauschte in sich hinein. Ein Rauschen war da, ein leises Rauschen, das ganz langsam, quälend langsam zu Wörtern, dann zu Sätzen wurde. Und plötzlich, aus der tiefsten Ruhe seines Brustkorbes heraus erhob sich seine Stimme und trug erst zerknittert wie nach langem Schlaf die Worte aus der Lunge empor, dann sicherer und glatter und schließlich in einem Fluss in das Mikrophon und vom Mikrophon in die Laut­sprecher und von da durch den schwarzen Stoff der Abdeckung knisternd in den Saal und in die Ohren der Zuhörenden und von den Ohren in die Gehörgänge, und von den Gehörgängen im Sturzflug am Trommelfell vorbei, hinein ins Dunkle, der Sprung in die Gedanken. Der Mann spürte die Blicke, die auf ihm ruhten, spürte, wie für einen Moment aus unzähligen Welten ein kleines gemeinsames Universum wurde und er war es, der es zusammen­schnürte, mit dem dünnen Faden seiner Sätze, auf den er Wort um Wort um Wort aufreihte, eine feine Kette, so dünn, dass sie jeden Moment abreißen konnte.

Sina Ness  22.09.2011   

 

 
Sina Ness
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