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Re-minding the gap.
Gerhard Falkners Pergamon Poems – textuell und visuell

Von Stefan Schukowski

 Gerhard Falkners Pergamon Poems
 

Gewid­met sind die Per­gamon Poems dem Großen Fries des Perga­mon­altars. Die Staatlichen Museen ver­öffentl­ichen dazu fünf Video­clips  externer Link mit den Gedichten. Auch auf Youtube  externer Link.



Kulturelles Gedächtnis und seine Medien

Erinnern ist ein aktiver Prozess: Wichtiges muss von Unwich­tigem unter­schieden werden, um der unend­lichen und kontin­genten Ereig­nis­folge der Ge­schichte Sinn und Ordnung zu verleihen. Selek­tion ist immer auch, und in erster Linie, Aus­schluss – und an­schlie­ßende Neukom­bination: Erin­nerungs­wür­diges wird tat­säch­lich viel­mehr produziert als re-produ­ziert. Insti­tutionen und Medien geben den Rahmen dieser Kon­struk­tions­pro­zesse vor. Deren End­produkte sind die indivi­duelle und kulturelle Iden­tität des Erin­nernden in seiner gesell­schaft­li­chen Umwelt.
Zu den großen Insti­tutionen des kollektiven Erinnerns gehören öffent­liche Kunst­samm­lungen:
Die kultivierten Gedächtnis­landschaften der Museen sind für ihre Besucher (kol­lek­tiv) begehbare, betrachtbare, auch fühlbare Produktionszentren kultureller Iden­ti­tät. An dieser Grund­funktion der Museums­kultur hat sich seit ihrer Erfindung als Anstalt bürgerlicher Erziehung im 19. Jahrhundert nichts geändert.
Oder doch? Die sog. ›Event­kultur‹, mal euphorisch gefeiert (Kunst für alle – das ist Demokratie!), mal kulturkritisch gebasht (Spaßkultur!), die sich in den letzten Jahren auch und gerade im Museum Bahn bricht, nutzt zumindest neue Formen des Erinnerns.
Die jetzige PERGAMON-Schau im Berliner Pergamon­museum ist ein solches Event. Dem Besucher werden diverse alte und neue Möglich­keiten der An­nähe­rung an die antike Stadt und ihr berühm­testes Relikt, den 2500 Jahre alten Pergamon-Altar mit seinem Fries, präsen­tiert: Mit eigenen Augen kann man es sehen, mit eigenen Füßen die Treppen­stufen des Altars empor­gehen; man könnte es gar anfassen, würden nicht Museums­wächter immer gut auf­passen, um zumindest einen Rest musealer Distanz aufrecht zu erhalten. Dem weiter­hin interes­sierten Besucher wird wissen­schaft­liches Info­material an die Hand gegeben: Bücher aus dem Mu­seums­shop, Füh­rungen und Audio-Guides. Zum Gesamt­paket »Panorama der antiken Metropole« gehört nun auch die Aus­stellung zu den histo­ri­schen Umständen der Aus­grabung samt ihrem Wider­hall in Ge­sell­schaft und Kunst.
Ergänzt wird all das mit einem Pano­rama im konkreten Sinne: In dem hierfür er­rich­teten 25 Meter hohen Rund­gebäude wurde auf 103 Metern Leinwand die Stadt Pergamon des Jahres 129 n. Chr. nach­gebildet. Betrach­ten lässt es sich von einer erhöhten, in der Mitte der Rotunde aufge­stell­ten Plattform.
So uner­wartet und überraschend das Genre ›Pano­rama‹ dem heutigen Museums­besucher auch er­schei­nen mag, um eine gänz­lich neue An­schauungs­form der Historie handelt es sich keines­wegs – ganz im Gegen­teil. Panoramen sind das 3D-Medium des 19. Jahr­hunderts. Auch wenn sie zwischen­zeit­lich ver­gessen wa­ren, gehören sie doch zum Grund­inventar der illu­sionis­tischen Ver­gegen­wärti­gung von Geschich­te. Ebendies leistet auch das Perga­mon-Pano­rama – aller­dings auf recht betu­lich-menschelnde Weise: Es ist stati­sches 360°-Illu­sions­thea­ter (Stich­wort: Mit­erleben), das mit Ton (Men­schen­stimmen, Hunde­gebell, Zikaden­zirpen, Stadt­geräuschen) und sogar mit Hinter­grund­musik und Licht­effekten (Tag und Nacht) das alte Perga­mon zum Leben erwecken will.1
All diese Präsentations­formen – das Panorama einge­schlos­sen – sind also klassi­sche museale Medien des Erin­nerns.
Diese werden nun durch etwas gänzlich Neues erweitert: durch die Per­ga­mon Poems von Gerhard Falkner. Die fünf Gedichte wurden von Constantin Lieb und Felix von Boehm verfilmt und von Schauspielern der Schaubühne Berlin ein­gespro­chen. Sie sind bisher auf den Seiten des Museums abrufbar, sollen aber in Zukunft auch in der Schau selber zu sehen sein.2
Zwar können auch sie als Teile der kontex­tuellen Medien­vielfalt der Aus­stellung re­zi­piert werden, zugleich aber auch als mehr und anderes: nämlich als Meta-Teil dieser Erin­nerungs­appa­ratur. Anders als das verhalten künstle­rische Panorama, erweitern sie das Angebot um ein vehement künstle­risches Medium: Die Perga­mon Poems sind nicht nur lyrische Repro­duk­tionen des Haupt­schau­objekts der Aus­stellung und damit wieder­erken­nende Beschreibung, sondern künstle­rische und sub­jektive (Neu-)Schöpfung, ver­fremdende Erschreibung und kritische Aktua­lisierung.

Beschreibungskunst statt Kunstbeschreibung

Gerhard Falkners Pergamon Poems betreiben Ekphrasis: Sie beschreiben als (lite­rari­sche) Texte ein (nicht lite­rari­sches) Kunst­werk. Dies tun sie aber nicht im naiven Glauben daran, dass sie ihren Sprech­gegen­stand, den Perga­mon-Fries, tat­säch­lich abbil­den könnten. Sie wissen um die dis­kursiven Grenzen der Sprache, die zeitliche Dif­ferenz und die Unmög­lichkeit, Weltbild und Den­kungs­art seiner Er­schaf­fer ins Hier und Jetzt zu über­führen.
Wenn es ihnen also nicht darum geht, auf lyrische Art den alten, unbe­schä­digten Altar wieder­er­stehen zu lassen, dann ist es nur logisch, dass gerade der frag­mentierte Fries in seinem heu­tigen Zustand, mit seinen nicht weg zu ima­ginie­renden Lücken und Brüchen, zum Gegenstand wird, an dem sich die Dichtung der Pergamon Poems entzündet.3 Aus dem ersten Vers, »Die Hand ist ergänzt. Dem Arm fehlt eine Schulter«1/1, spricht also nicht elegische Trauer um das Fehlende, sondern Euphorie über den damit eröff­neten Möglich­keits­horizont, über die zu füllende Leere eines nicht schon alles vor­gebenden ganz­heitlich-per­fekten Aus­gangs­punktes.
Zu diesem Zweck wird der alte Fries radikal an neue Medien angebunden: »wie viel Gigabyte hat dieser Fries, welch / gigantisches Archiv birgt dieser Stein«1/15f. fragt der erste Text. Die mediale und zeitliche Differenz, die jeder Ekphrasis zugrunde liegt, wird somit genutzt, um den Clash zu for­cieren, um Dispa­rates(tes) poetisch zusammen­zubringen – ohne die Brüche mit einer letzten Endes tragenden Brücke aus Wahr­heit zu überwölben.4
Ganz in romantischer Manier ist es bei Falkner das Fragment als nicht perfektes, nicht komplettes Artefakt, das der ganzheitlichen, ideologisch »geführten Spra­che«5 und Kultur seine offenen Enden entgegenhält: »die Brüche sind ge­glückt«1/3.
Dass dies gerade im Medium der Lyrik geschieht, ist kein Zufall: Die immer wieder genannten »Brüche«, »Lücken« und »Teile« des Frieses – sowohl was seine ›zertrümmerte‹ Form als auch seinen nicht mehr in die Gegenwart über­führbaren Sinn­gehalt betrifft – sind zugleich gat­tungs­reflexiv lesbar als Verweise auf die Text­sorte des Gedichts mit seinen Versbrüchen, Sinnlücken und -teilen. Diese erschei­nen nun aber nicht mehr einfach in gut idealis­tisch-herme­neutischer Tra­dition als Schwund­formen des Bruch­losen, Lücken­losen, Ganzen, sondern als Sinn und Ideologie destabilisierende Potentiale von Lyrik.
Zur ›Dekon­struktion‹ fester Sinn­strukturen trägt auch die Sprech­situation bei. Wir haben es mit keiner klar defi­nierten, sondern mit einer kaum zu lokalisierenden Sprechinstanz, keinem einheit­lichen lyrischen Ich zu tun. Der Text weicht meist auf Imper­sonalia aus: »Man denkt sich«2/10, »Es ist irre«5/1 etc. Personal­pronomina der ersten Person stehen nur im Besprechungsteil des vierten Gedichts, aller­dings im Plural. Mehr als eine zeit­liche Perspektive (nämlich die von heute) gibt auch diese Stelle nicht: Wer hier spricht, bleibt offen, ein Wahrheit verbürgender Be­obach­ter­stand­punkt wird nicht etabliert. Bruch- und Frag­mentie­rungs­verfah­ren (Vers­sprünge, metrische Brüche, den Vers­sprung materiell und virtuell auf­rufender Bruchstrich) stehen hier gegen Verfahren des Lücken­schlusses wie Reim, Epipher, Assonanz, etymo­logische Figur; all dies ergibt im kleinen Raum des Gedichts eine irre Bewe­gung von Ver­bindung und Abstoßung, von sprach­licher und visueller Bruch-Insze­nierung, produziert also einen in doppel­ter Hinsicht »ver­dichteten«5/10 Fries.
Dabei – und diesen a-ideolo­gischen Momenten schein­bar wider­sprechend – sind die Lücken in den Pergamon Poems durchaus auch Einflugschneisen für Kritik, für ›Erklä­rungen‹ des Dar­gestellten, aus denen manches Mal sogar geradezu über­zeitlich gültige Wahrheiten abge­leitet werden. Jedoch handelt es sich hierbei, wie noch genauer zu zeigen sein wird, um dichtende Kritik, die immer schon im Zeichen der Subjek­tivität antritt.
Auch solche potentiell wahr­heits­belastete Aussagen sind Teil einer Kontrast­ästhe­tik, die Dispa­rates nicht vermittelt, sondern den Clash zwischen Stand­punkten und deren Relati­vität betont. Der fragmen­tierte Fries wird zum Kompli­zen einer kons­pirativen Ideo­logie­kritik, die nicht mehr geordnet im Modus der Wahrheit, sondern eben »irre«5/1 daherkommt: Durch die hals­breche­rischen Sprünge über die Brüche von ›Hoch‹ – und ›Populär­kultur‹, Antike und Heute, hoch lyrischer und prosaischer Sprache, aber auch durch die Multimedialität der Lyrik-Clips ent­auto­matisiert Falkner die vom Museum und der (bürger­lichen) Kultur vorge­gebene Wahr­neh­mung des anti­ken Kunstwerks.
Statt Kunst­beschrei­bung betreiben die Per­gamon Poems Beschrei­bungs­kunst. Mit­hilfe einer Ästhetik des Kontras­tes machen sie die Brüchig­keit zwischen den mög­lichen Wahr­neh­mungs­modi umso deut­licher: they re-mind the gap.

Kontrastierungsverfahren: Fragment und Clash

In der gedruckten Version (die erweitert auf 20 Texte bei Kookbooks zur Publikation in Vorbe­reitung ist) wird sichtbar, dass gerade die Vers­brüche mimeti­sierend aufgeladen sind: Der fragmen­tierte Fries wird zum Vorbild der semantischen Bruch­bildungen der Gedichte. Würden die fünf (fast gleichlangen) Texte (frieshaft) neben­einander gelegt (eine Schriftrolle würde das besser können als ein Buch – aber immerhin), sähe man die steinerne Schrift­bild­rolle des Pergamon­altars nach­geahmt: unbe­schadet-mono­lithi­sche Einheiten in den ersten beiden Texten, einen ausge­fransten Mono­lithen im dritten Text, den vierten Text in drei ungleich­große Stücke zerbrochen und den abschlie­ßenden Text in zwei unaus­gewogenen Frag­menten – eines lang und schmal, eines kurz und breit. So etwas kann nur ein (gedrucktes) Gedicht. Die materiel­len Kontraste des Frieses werden im Text sichtbar (und im Film hörbar) als performativer Selbst­widerspruch: »Lücken / überbrücken«5/11f..
Als stetige Grundlage der fragmenthaften Kontrast­ästhe­tik beschwören die Per­ga­mon Poems immer wieder aufs Neue einen dem Fries inhä­renten Gegen­satz: die virtuel­le Bewegt­heit des statischen Marmors. Zwi­schen den dichoto­mischen Polen wird jedoch nicht ver­mittelt, sondern, im Gegen­teil, die darin angelegte logisch unfass­bare Wider­sinnigkeit forciert. Der Steinfries wird sowohl mit Verben der Dynamik über­schrieben als auch in seiner steinernen Materia­lität stark gemacht. Diese Struk­tur ist z.B. in der Kontras­tierung von (seman­tisch tren­nenden) Anti­thesen und Oxymora und (lautlich verbinden­der) Alliteration gefasst: »Das Knie rast reglos in sich selbst«1/2 oder: »wie Schön­heit so und Schock sich hier ver­söh­nen«3/21. Auch die metrische Ebene arbeitet an diesen polari­sierenden Struk­turen mit: So stockend der erste Text ansetzt, so geradezu beschwingt alter­nierend nimmt er dann seinen Lauf: Das dichte­rische Ergänzen lässt hier einen nahezu ›ordent­lichen‹ lyrischen Text (eben samt alter­nierendem Versmaß und diversen Asso­nanzen, End- und Binnenreimvarianten) entstehen, der Verse wie »Alles schwingt, die Hüften und Gewänder«1/12 klanglich nachahmt.
Immer wieder jedoch durchkreuzt wird diese vermeintliche Ruhe und Einheit­lichkeit durch Brüche im Rhythmus und starke Enjam­bements, die Zusammen­gehöriges gehörig voneinander trennen: »Alles ist / Impuls«1/2f..
Durch manch­mal nur hauchdünne, manchmal brachiale Verände­rungen auf laut­licher und grammati­kalischer Ebene werden automa­tisierte Phrasen ent­automa­tisiert, Paro­nom­asien und Katachresen erzeugen unerwartete Spiele mit Bedeu­tung: »Das Kleid ist außer sich vor Falten«3/6; »alles atmet so die Gunst / der Stunde«1/5f.. Durchaus auto­reflexiv ist auch die vehement lyrische Beschreibung, die hier »den Marmor / aus der Fassung bringt«2/7f..

Es ist irre
wie eins das andre übergreift
wie dort ein Gott auf einem Stierkopf
sich versteift, da ein Arm / noch warm
in seine Rüstung greift
irre, wie der Marmor sein Gelände
in die Länge zieht
wie sich die Fragmente
zu Impulsen verdichten, zu Rhythmen,
wie die zerbrochenen Glieder ihre Lücken
überbrücken und das Ganze
in ein olympisches Orchester mündet.5/1-13


Wie hier im abschließenden Vers sucht die lyrische Beschreibung den Schul­ter­schluss mit anderen Kunst­formen. Damit erkennt die Poesie ihre eigenen kunst- und medien­spezi­fischen Grenzen und stellt sie als solche aus. Musik (›E‹ und ›U‹), Tanz, Film und Malerei liefern Ver­gleichs­para­meter.6
Dies allerdings nicht, um den beschrie­benen Gegenstand zu fassen, sondern um gerade das Über­bordende, Ungefasste der scheinbar aus ihrer Frieswelt steigenden Figuren zu verdichten. Sprech­weise und Sprech­gegen­stand sind gleich manieristisch, geradezu »außer sich vor Falten«3/6. Dem gegenüber stehen freilich die durchaus ›prosaisch‹ zu nennenden Kommen­tare an den Enden der Gedichte: »denn uns erreichen vom Himmel allenfalls / heruntergeladene Klingeltöne«4/19f. Überbordendes Spiel und ökonomischer Ernst stehen sich stilistisch gegenüber, so dass man durchaus von einem Mix der Schreibweisen sprechen kann: mal ›unordent­lich‹ lyrisch, mal ›ordentlich‹ narrativ.
Unterstützt wird diese Heterog­enität durch das typisch Falkner'sche Ver­fahren der for­cierten Inter­textua­lität, das Texte und Text­tradi­tionen beinahe zum Cento kombi­niert:7 Zu den Referenz­punkten gehören berühm­ten (ebenfalls zum Teil cento­haften) ekphras­tischen Prosa­hymnen Winckel­manns, Keats ekphras­tische »Ode on a Grecean Urn« mit ihren musika­lischen Metaphern und Frage­strukturen, Rilkes Ding­gedichte (besonders »Archaischer Torso Apollos« und »Römi­sche Fontäne«) und natürlich (wenn auch mit anderer Stoß­richtung) Benns krasse Kontras­tierung von Erha­benstem und Profanstem.8 Viele (die meisten) inter­textuelle Verweise sind jedoch nicht konkret und rufen system­refe­ren­tiell Themen, Genres und Schreib­weisen aus Antike, Klassik (besonders mit ihrer Erhaben­heitsr­hetorik), Roman­tik, Symbo­lismus, Expres­sionis­mus etc. auf. Statt klarer Einzel­refe­renzen werden abge­speicherte kultu­relle Dichtungs- und Be­schrei­bungs­formen ledig­lich implizit auf­gerufen. Eine neue Mischung entsteht, die sich der genauen Ein­ordnung in die Tradi­tion verweigert. So aufge­laden mit tradier­tem Sinn die folgenden Verse auch sind, direkte lite­rar­historische Vor­bilder lassen sich (soweit ich sehe) dennoch nicht benennen:

die Torsi torkeln von der Wucht des Schönen
und jeder Lücke stockt der Atem
wie Schönheit so und Schock sich hier versöhnen3/19ff.


Den größten Teil der Gedichte herrscht diese, dem Sprechgegenstand ›ange­mes­sene‹, hohe Sprech­weise vor, zumal in den längeren Be­schrei­bungs­teilen. Diesem genus sublime werden jedoch vereinzelt, darum aber umso schärfer, jetzt­zeitlich-alltags­sprach­liche Begriffe (und Lebens­welten) ent­gegen­gestellt, die den mythi­schen Kampf nahe­zu pro­fanieren, zumindest aber radikal an die Gegen­wart binden: »Im Marmor herrscht Alarm«1/9; oder wenn der Kampf der »Aphrodite, wie im Tanz« mit »Rock'n'Roll«2/5f. asso­ziiert wird. So wird das dyna­mische Chaos des Frieses gleich­zeitig auf über­raschende, ent­auto­mati­sierende Weise beschrieben als auch auf Verfahrens­ebene durch Brüche in der Stilhöhe per­formiert.9

Götterkino: Lyrik-Clips

Freilich haben wir es bei diesen fünf Pergamon Poems nicht mit herkömm­lichen Gedichten zu tun: Sie verlassen ihr gewohntes Druck­medium zugunsten des Films und erreichen schon durch diesen Wechsel auch auf der Ebene ihrer medialen Vermittlung diverse Ent­auto­mati­sierungs­effekte – die textuellen Verweise auf An­bin­dung des Alten an neue Medien wird also qua Filmmedium tatsächlich umgesetzt.
Wenn auch das Textbild in den Clips abhanden kommt,10 so reali­sieren sie die beschrie­benen Clashs mit ihren eigenen medialen Mitteln. Para­linguis­tisch werden die Brüche durch­aus kongenial von den Sprechern – wenn auch oft an andere Stelle verschoben – durch Pausen, Beto­nungen und Phra­sierungen wie­der­ge­ge­ben. Außerdem ist die Montage überaus rhyth­misch-akzen­tuierend. Mal macht sie den Drive mit, mal setzt sie starke Kontra­punkte. Das Frag­menta­rische des Be­schrei­bungs­objektes wie des Gedicht­textes wird durch heran­gezoomte(Fleisch-) Kör­per­teile der Sprecher ebenso wie (Marmor-)Körper­teile des Frieses in perfor­mativen Gleich­lauf gesetzt. Frag­men­tiert blei­ben auch die Torsi der Sprecher, die meisten ebenso stei­nern-statisch wie der Fries – nur in wenigen kurzen Ein­stel­lungen rufen sie durch starke Körper­gesten die poten­tielle Bewegung der Gigan­tomachie auf.

Diese Lyrik-Clips sind keine Verfilmungen von Gedichten. Das Filmische ist einer ihrer nicht weg zu kürzenden Bestandteile. Es sind originär multimediale Texte. Damit sind sie zwar manchen künstlerischen Kurzfilmen ähnlich, strukturell jedoch bisher fast einzigartig. Nur Jürg Halter hat meines Wissens ähnlich überzeugende Lyrikclips in dieser Tradition gemacht: »Leicht werden« und »Spiegelbild« sind im Netz zu sehen.11
Ein ähnliches Genre ist als ›Poetry-Clips‹ bekannt. Bas Böttcher und Wolfgang Hogekamp von SpokenWordBerlin zielen mit ihrer Verbindung von Film und Lyrik auf eine filmische Umsetzung von »Spoken-Word-Dichtung«12 ab, also alles vom Poetry-Slam bis zum Rap. In diesem Sinne sind Rapvideos die Vorläufer von Poetry-Clips. In deren Ästhetik und Thematik schreiben sie sich vehement ein.
Der englische Titel der Pergamon Poems führt hier (leider) auf eben diese falsche Spur: Mit Musikvideo, Rap oder Poetry Slam haben sie nämlich kaum etwas zu tun.13 Falkner, Boehm und Lieb geht es vielmehr um den Anschluss an ›klas­si­sche‹ Formen der Lyrik-Performance. Sie schreiben sich in die deutsche Tradition der Gedicht­rezitation ein, in der die Stimme mehr Stimme und weniger Instrument ist.14
Mit dem Pergamon-Fries als Dichtungs­gegen­stand gehen die Pergamon Poems zudem ganz an den Anfang der west­lichen Tradition zurück: an Rhapsoden-Hymnen wie die homerischen. Dies wird formal durch die gewählten Versmaße verwirklicht: freie Rhythmen, die sich manchmal sehr stark, manchmal nur tenden­ziell an Hymnen­dichtung an­nähern. Die Schau­spieler sprechen diesen hymnisch-ele­gischen Stil mit einem gekonn­ten Mix aus Strenge und Leichtigkeit. Mit der Synthesizer- und Klavier­beglei­tung (komponiert von Therese Strasser, die Klang­regie führt Johannes Hampel) ist auch Film­musik Teil des Ganzen – und zwar wiederum als irre­duzi­bler Teil. Mal parallel, mal kontra­punk­tisch werden die Texte und Bilder stark rhyth­misch beglei­tet. Durch den wiederholten Wechsel vom Harmo­nischen ins Atonale, mit länge­ren Tonreihen, einzelnen lang ausge­halte­nen Tönen und durch lange Pausen werden auch auf der Ebene der Film­musik Fragment­haftigkeit und Clash perfor­miert – die inhaltlichen Verweise der Gedichte auf Musik erhalten hier ihre Reali­sierung.
Die Konzen­tration der Texte auf einzelne Fries-Stellen wieder­holt sich in Nah­auf­nah­men (Kameramann ist Till Vielrose) eben dieser Stelle. Ganz so werden auch Körper­stellen der Spre­cher_in­nen extrem nah herangeholt.
Dieser eingrenzende sub­jektive Blick wird in den Filmen zudem noch als Bildmotiv aufgegriffen, wenn wiederholt auf die Augen der Sprecher_innen gezoomt wird und besonders, wenn die sich verengenden, sich den äußeren Licht- und Raum­verhält­nissen anpas­senden, Pupillen abge­filmt werden.
Übrigens sind sie ›Lyrik-Clips‹ in dreifachem Sinne, denn sie nutzen nicht nur konkret das Medium Film, sondern sind bereits filmisch geschrieben (mit Zooms, Blenden etc.) und thematisieren noch einmal Visualität und sogar Film und Kino: »(Götter­kino)«3/18 eben.15
Die Unsicherheit über die Sprecher­instanz der Texte wird in den Clips mit der Aufteilung auf fünf Sprecher_innen realisiert. Wer diese fünf sind, woher sie ihr Wissen haben, von wo aus genau sie betrachten, all das ist im Text kaum eruierbar (hier könnte es auch nur eine Instanz sein) und auch in der filmischen Realisation absolut uneindeutig; mal scheinen sie all­wissende Götter zu sein, wie lebendig gewordene Teile des Frieses, mal aber sind sie ganz mensch­liche Instanzen mit beschränktem jetzt­zeit­lichen Blickwinkel.
Auch die Sprecher_innen selber bleiben als Torsi Fragmente und somit auch film-ästhetisch mit ihrem Beschrei­bungs­gege­nstand verbunden. Wenn Judith Engel spricht, dann überblendet sie sich filmisch geradezu mit Asteria – die Grenze zwischen Sprecherin und Besprochener wird überspielt.

Die Subjektivität auch der filmischen Wahrnehmung wird durch verschiedene Objektivgrößen realisiert. Zentral­perspek­tivi­sches Sehen – seit der Renaissance der Garant für Wahrheit und Authen­tizität künstlerischer Mimesis – wird dadurch vehement verhindert, Schwenks und Unschärfen unterstützen die eher chaotische als ordnende Wahrnehmung.
Schon die erste Einstellung zeigt keinen proto­typischen Blick auf den Altar: Statt einen zentral­perspek­tivi­schen Eindruck zu vermitteln, wie ihn auch der Museums­besucher erhält, führt der erste Kamera­schwenk aus der Frosch­pers­pektive die Treppen am äußeren Rand des rechten Risaliten hinauf. Diesem Blick von unten nach oben entspricht dem Heben des Kopfes der Sprecherin in der nächsten Ein­stellung. Und zwar mit geschlossenen Augen, die sich beim ersten Wort öffnen: Wir haben es hier mit einem mehr imagi­nieren­den als mit einem wirklich­keits­getreu beschrei­benden Blick auf den Altar (oder vom Altar aus?) zu tun.
Es gibt keinen den Fries in seiner tatsächlichen räumlichen Anordnung wieder­gebenden filmischen Blick, keinen ordentlichen Schwenk von einer Seite zur anderen und auch keine ordnende, narra­tive Montage, sondern eine rein sub­jektive Kamera. Kurze Einblen­dungen, die manchmal extrem nah an den Marmor heran­zoomen, lassen kaum noch erahnen, dass es sich hier um eine Falte, einen Arm, ja, eine Lücke handelt. Jede dieser Einstellungen sagt immer wieder: Ich bin medialisiert. Ich richte das Bild so zu, wie ich es will.
Diese multimedialen Texte betonen also immer wieder ihre Subjek­tivität und Poetizität (auch im Sinne von poiesis – ›machen‹). Es war schon die Rede vom Zusammen­hang zwischen Erin­nerung und ihren Medien. Als Meta-Panorama stellen die Pergamon Poems nun genau das aus: Die Abhängigkeit des (kul­turel­len) Gedächt­nisses von zwangsläufig sub­jektiver Impression und seine funda­men­tale Verbindung zu den Apparaturen des Wahrnehmens. Das macht eben die ideo­logie­kritische Seite der Pergamon Poems aus.

Wider postmodernes anything goes

Nun könnte man versucht sein, die Pergamon Poems unter dem Label ›post­modern‹ zu verbuchen, betreiben sie doch exakt jene Radi­kalisierung so vieler schon für die Moderne in Anschlag gebrachten Merkmale: Krise der Reprä­senta­tion, Skepsis gegen­über jeglicher Erkennt­nis­fähig­keit, Einebnung und Verbin­dung kultu­reller Hierarchien, Plura­lisie­rung von Lebenswelten, Betonung der reinen Simulation von Wahr­heit qua Medien und Medialität uvm. All das führte nicht nur zu einer Krise des wahr­nehmenden Subjekts, sondern geradezu zu seiner Vapori­sierung im inter- oder trans-medialen, -diskursiven und textuellen Kräfte­feld.
Dem aber setzen die Pergamon Poems allerdings auch eine Form starker, fester Subjek­tivität hinzu, denn frei von wertenden Reflexionen sind sie ganz und gar nicht. Typisch für ältere Ekphrasis-Texte wird in ihren jeweils abschließenden Teilen mitunter harsche Kulturkritik an einer im Vergleich zur Antike defi­zitären Jetzt-Zeit geübt:

das ganze Geheimnis liegt immer in den größeren
Zusammenhängen, die Frauen, die als Göttinnen den Fries
durchkämpfen sind den Männern gleichgestellt an Kraft
nicht jedoch an Schönheit überlegen
(ein großer griechischer Gedanke!)2/14-18

oder:

du siehst hier nirgends Blut
es geht um mehr, es geht um alles plus das
Kolossale, mit dem die Götter ihre Grenzen kennen
[...]
es geht um den Olymp, das Schöne,
(das wir kaum noch kennen)
denn uns erreichen vom Himmel allenfalls
heruntergeladene Klingeltöne4/12-20


Solche Abstraktionen und Reflexionen rutschen nicht nur hinüber ins Narrative, sondern geben klare Inter­pre­tations­anweisungen.16 Sogar ein »du« wird ange­spro­chen – fast schon eine Lehr­situa­tion. Man geht wohl nicht zu weit, wenn man hier Gerhard Falkner selber sprechen hört: Nicht nur das Ich aus so manchem seiner Gedichte, sondern auch das Ich der Preis­reden, Poetiken und Streitreden, von denen Falkner jeweils nicht wenige produziert hat, ist hier in gewohnt kultur­kritischer Deut­lichkeit zu hören.
Die Pergamon Poems entfalten hier ein typisches ›Falkner'sches Paradox‹: Die gleich­zeitig schöne Zweck­freiheit des Gedichts und seine gesell­schaft­liche Aufgabe.
Das Gedicht ist autonom, aber nicht autark! Der Künstler hat daher eine Aufgabe: Er muss (und das ist in Falkners Poetik durchaus normativ gemeint) Kultur­kritiker sein: »Nichts darf vor dem Gedicht sicher sein, nicht einmal die Benzin­preise, alles aber darf das Gedicht im geeigneten Fall gelassen ver­schmähen. Nur durch das Wissen um die eigene Zeit erwirbt sich das Gedicht die Starterlaubnis in den zweckfreien Raum.«17 Seine Zweck­freiheit als Kunstwerk macht es dem Gedicht möglich, sich nicht an die Regeln der geführten, ideologischen Sprache halten zu müssen und somit Widerstand zu leisten. Gerade die Kombination aus Zweck­freiheit und Kritik ermöglicht es, über die Welt, wie sie eingerichtet (worden) ist, nachzudenken. Dem postmodernen anything goes entgehen die Texte also dadurch, dass sie klare, kritische Worte finden, – noch dazu eng angebunden an ihren lebensweltlichen Autor und seine Sicht der Dinge.
Die letzte Versgruppe des abschließenden Gedichts treibt dieses, vielleicht ›post­postmodern‹ zu nennende, Verfahren auf die Spitze:

nach allem, dieser Frische, dieser jugendlichen Kraft
wäre es sicher angebrachter gewesen, die Götter von damals
hätten die Menschen von Heute
ins Museum gestellt.
Das einzige Problem:
da wäre sicher keiner hingegangen.5/14-19


Die Banalität der Jetztzeit prangert der Text hier komisch-über­spitzter Weise an. Filmisch wird dieser vereindeutigende Kommentar mit einem erhöhten pano­ramati­schen Blick vom Altar aus auf Besucher und Museumswärter unterstrichen, die Filmmusik läuft gleichzeitig hyper­harmonisch in Drei­klängen die Tonleiter hinauf – um sich gemein­sam im Fadeout zu verströmen. Dieser multi­medial harmo­nisierende Gleichlauf unter­gräbt jedoch in seiner über­spitzten Ausführung die eigene Aussage: Er setzt sich selber in Anfüh­rungs­zeichen, markiert sich als sub­jektiv.
Aufgehoben und bewahrt vor einer führenden ideologischen Wahr­heits­rhetorik sind die senten­zen­haften Textstellen auch durch ihre entautomatisierende Poetizität, wenn nicht Herz auf Schmerz, sondern »Schöne« auf »Klingel­töne« gereimt wird. Außerdem schützt die so stark gemachte Medialität davor, diesen Text­stellen ungebrochene Wahrheit zuzuschreiben. Zwar nutzen sie auch eine Ästhetik des Widerstands, doch eine, die immer mitsagt: Ich bin Kunst, ich bin nicht (nur) wahr, ich bin (auch) schön.

Der Pergamon-Fries wird in dieser Hinsicht als Komplize inszeniert, der ebenfalls dieses Paradox mit sich führt: er ist gleich­zeitig Kunst und hoch ideolo­gisches Arte­fakt. Immer wieder wird dafür die »endogene« (wiederum ein Falkner'scher Be­griff)18 Struktur des Objekts aufgerufen:

Nie wieder ist ein Körper so ans Licht getreten
wie der, den Artemis, von rechts
ins Kampfgetümmel steigend
aus sich herausholt. Er entspringt. Er bejubelt
sich und seinen Schwung –3/1-5


Die Schönheit des beschriebenen Kunst­werks ist eine mit ganz eigener, innerer Ursache: Falkner findet damit neue Worte nicht nur zur Belebung des Steins, sondern auch zur Beschreibung des autonomen Kunstwerks in seiner endogenen, also vom Beobachter ganz unab­hängigen Schön­heit, der nicht mehr sinnhaft, sondern lustvoll begegnet werden kann. Der Effekt eines solchen Ausge­liefert­seins gegenüber einem auto­nomen Kunst­werk ist die Invertierung der Sub­jekt/Objekt-Rela­tionen. Der Beobachter gerät über seine Augenlust in Abhän­gigkeit vom Objekt: Die Affektion des Bespre­chenden drückt sich in sexualisierenden Bildern aus, »mit Schenkeln wie aus bestem attischen Gestüt«2/2, die Beschreibung erhält stark voyeuristische Züge; die fünf Verse im dritten Gedicht, die das Knie der Artemis fokussieren, kommen geradezu fetischi­sierend daher; an einer Stelle wird explizit über diese Lust am Fries (man denke hier durchaus an Roland Barthes‹ Lust am Text) reflektiert: Die scheinbare Passivität des Objekts und sein scheinbar aktiver Betrachter geraten in eine ver-rückte gegen­seitig penetrierende Blick­orgie:19

das Licht der Sonne wird verrückt
auf dieser Brust, die Schatten schälen
jeden Muskel aus dem Stein
und jeder Blick kriegt auf sich selber Lust
statt Stachel des Erblickten nur zu sein4/7-11


Das ist freilich in einen größeren Zusammenhang zu stellen, einen, den Falkner schon viele Male aufge­griffen hat: Wie funktio­niert unsere Wahrnehmung und damit unsere Erin­nerung, wo doch alles medial vermittelt, auf die Medien der Vermitt­lung aber kein Verlass ist? Derrida hat das einmal für die filmi­sche Her­stel­lung wichti­ger Ereig­nis­se im Fernsehen (er nennt den Golfkrieg) so beschrie­ben: »Tat­säch­lich ist die Interpretation produktiv [...] Still­schwei­gend und ohne es zuzugeben, lässt man ein Sprechen, das das Ereignis macht, als simple Mit­teilung des Ereig­nisses durchgehen. Die poli­tische Wach­samkeit, die das von unserer Seite fordert, besteht offenkundig darin, ein kriti­sches Wissen von den Appa­raten zu orga­ni­sieren, die vor­geben, Ereig­nisse mitzu­teilen, die sich aber in Wirklich­keit inter­pretieren, hervor­bringen oder machen20
Falkners Pergamon Poems sind apparat-sensitive Meta-Ekphrasis in diesem Sinne. Sie stellen aus, was sonst durch Automatisierung der Wahrnehmung und durch institutionelle Wahr­heits­rhetorik aus dem Blick gerät: Wahrheit wird herge­stellt, Weltwahr­nehmung ist subjektiv. Sie nehmen das Kunstwerk Pergamon-Fries zum ideologiedestabilisierenden Komplizen.
Die Blicke springen quer über das Darge­stellte, suchen sich mal einzelne Körper­teile, mal Figuren­gruppen, mal gerade die Leer­stellen: Schwenke, Schnitte und Zooms vom Ganzen aufs Teil, auf die Sprecherinstanz und wieder zurück – die Clips setzen das kon­genial um. »Wo sich ein Gott in Szene setzt«1/4 ist dann durchaus auch als Selbst­referenz zu lesen: Erst der Blick macht das Objekt, es ist immer schon mise-en-scène.21 In einen solchen Quadrage-Rahmen gesetzt, werden auch große Worte in die Offen­heit des Gedichts über­führt – verdichtet. Statt fester Sinnbrücken: »torkeln«, »irre«, »Lust«, Kontrast­ästhe­tik, Fragment und Bruch.
Wer die Clips im Netz sieht (oder bald als Werbetrailer im Kino), mag im besten Falle eine gewisse Rezep­tions­lenkung erfahren: als lyrisches Warn­schild vor automa­tisierter Museums­wahr­nehmung für einen zukünf­tigen Besuch oder als nach­träg­liches Korrektiv – im schlechteren Falle sind sie einfach gute Werbung.


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1Freilich darf man diesem so empathisch zu erfah­renden Erlebnis nicht auf den macht­diskur­siven Leim gehen: Zwar wird der Betrach­ter ins Zentrum gestellt und scheint alles zu überschauen; letztlich ist aber gerade dies ein Museums­raum gewor­dener Teil der von Michel Foucault beschrie­benen modernen Macht­techno­logien der Diszi­pli­nierung des Sub­jekts: Das Medium des Panoramas ist nicht zufällig gleich­zeitig mit seinem Zwilling, dem Zucht­haus-Panop­ticon, zur kultu­rellen Insti­tution geworden: Wird bei letzterem die Über­wachung der Insassen vom all­sehenden Zentrum aus bewerk­stelligt (sogar dann, wenn gar kein Wäch­ter da ist), so scheint uns das totale Panorama-Bild die Wahrheit einer wieder­geholten Wahrheit zu sein.
Dem Panorama-Künstler Yadegar Asisi ist jedoch zugute zu halten, dass er auch ironisch-bre­chende Ele­mente einbaut, um die reine Illusion in ihrer Entfaltung tenden­ziell ein wenig zu stören: So, wenn er das bild­künstle­rische Motiv des Dornaus­ziehers, hier als perga­menischen Jungen von nebenan ›zum Leben‹ erweckt – dennoch will das Pano­rama insgesamt Wahrheit einer wieder­geholten Vergan­genheit sein und seine Illu­sion ver­gessen machen.

2Pergamon-Panorama

3 Die eigentliche Message des Frieses ist ganz klar durch den Mythos vorgegeben: Aus der Gigantomachie werden die Götter als ordnendes Prinzip über die Giganten als Sieger hervorgehen: Kosmos besiegt letztlich Chaos – und was wäre ideologisch aufgeladener als ein Sakralbau? In der Literaturgeschichte diente die Betrachtung antiker Schätze häufig der Fundierung einer eigenen Ideologie. In der deutschen Literatur ist der Fries z.B. von Peter Weiss in seiner Ästhetik des Widerstands behandelt worden – wiederum zu ideologischen Zwecken: Die Giganten stehen dort für Proletarier, die den Kampf zwar verlieren werden, jedoch zumindest im Untergang so etwas wie eine Stimme bekommen.

4 Michael Braun zeigt, dass die »Vereinigung der Gegensätze« eine typisch Falkner'sche Dichtungstaktik ist. Ich danke ihm für die Einsicht in seinen gleichnamigen Beitrag zum ent­stehenden Sonderheft zu Gerhard Falkner von TEXT+KRITIK.

5 Gerhard Falkner: Über den Unwert des Gedichts, Berlin u. Weimar 1993, 9.

6 Im Übrigen haben wir es hier mit einem romantischen Verfahren zu tun, wenn verschiedene Genres ebenso wie die verschiedenen Künste in die Poesie integriert werden: Dort heißt das dann: Universalpoesie. Die Pergamon Poems sind solche universellen Texte – mit heutigen Medien verwirklicht. Wobei die Poesie hier nicht als homogenisierende Über-Gattung fungiert, sondern das Heterogene der Künste betont.

7 Gerhard Falkner hat das Cento schon einmal für einen Gedächtnistext genutzt: In Der letzte Tag der Republik werden lauter Zitate zu einem Neuen gebildet. Falkner nimmt auch dort das ›Fragmenthafte‹ seines Objekts als Ausgangs­punkt des eigenen Dichtens und Denkens: In diesem Fall sogar die ›absolute Leerstelle‹: Es ist ein Gedicht über den abgerissenen Palast der Republik. Dabei geht es im Letzen Tag der Republik wie auch in den Pergamon Poems nicht darum, die Leerstelle, die die Kluft anzeigt, zu füllen, sondern darum, das kulturell vorgegebene Erinnern zu entautomatisieren und darum, die Art und Weise auszustellen, in der erinnert wird. So kommen auch im Letzten Tag der Republik verschiedene Medien zum Einsatz: Ein hoch ästhetischer Film vom Abriss des Palasts von Reynold Reynolds und ein wissenschaftlicher Essay von Moritz Holfelder samt Screenshots im Buch und englischer Übersetzung ergeben auch hier einen multimedialen Mix.

8 In der »Karyatide« beschwört Benn deren scheinbar aus ihrem statischen Stein­zusammen­hang heraustreten wollende Bewegtheit so: »Stürze / die Tempel vor die Sehnsucht deines Knies, / in dem der Tanz begehrt«10-12 – Falkner nimmt darauf überaus deutlich Bezug. Dirk Kretzschmar danke ich nicht nur für diesen Hinweis!

9 Mit dem Ende der Regelpoetik, so könnte man meinen, hätte sich die Poesie auch den Regeln des aptums entledigt, also der Adäquat­heit der Sprechweise gegen­über dem Sprechgegenstand. Scheinbar hat sich jedoch einiges von dieser vor­modernen Kunst­auf­fassung bis in unsere Zeit gerettet: Sonst würden uns die Kontraste nicht in solch starker Weise inadäquat erscheinen.

10In der Buchversion samt DVD werden die Texte in beiden Medien präsentiert – ihre materielle Seite (runder Kunststoff in eckigem Papier) wird dadurch nur umso stärker betont.

11 Hier ( juergenhalter.com ) rezitiert jedoch der Autor seine Texte selbst, die Sprech­situation wird aber nicht explizit gemacht, die Stimme bleibt im Off – eine durchaus überzeugende Inszenierung eines poetischen, manchmal gar traumhaften Gedanken- und Imaginationsraums.

12 www.basboetcher.de

13 In der Buchvariante wird eine parallel gedruckte Übersetzung ins Englische dieses Manko, das im Moment wohl auch der intendierten Werbewirksamkeit geschuldet ist, ein wenig beheben.

14 Der hier vorgeschlagene Terminus ›Lyrik-Clip‹ scheint als Distink­tions­merkmal gegenüber den Poetry-Clips also – wenn auch auf Denglisch und etwas holprig – durchaus genauer.

15 Das Genre des Kino- und Filmgedichts hat Jan Volker Röhnert ähnlich ein­geteilt: »Kino-Gedichte« behandeln schlicht das Thema Film/Kino, »filmische Gedichte« nutzen auf der Formebene filmische Verfahren, und das »Filmgedicht« ist die Synthese aus beiden (Springende Gedanken und flackernde Bilder. Lyrik im Zeitalter der Kinematographie. Blaise Cendrars – John Ashbery – Rolf Dieter Brinkmann. Göttingen 2007). Lesenswert ist auch die von ihm herausgegebene Anthologie: Die endlose Aus­dehnung von Zelluloid. 100 Jahre Film und Kino im Gedicht.

16 Mit dem häufigen Aufrufen von Teil/Ganzes-Beziehungen ist sogar die Mutter der Lehren von der Interpretation, die Hermeneutik, auf dem Plan.

17 Gerhard Falkner: »Mind the gap. Über die Lücke zwischen Lyrischem Ich und Wort«, in: Gottfried Benn: Probleme der Lyrik. Späte Reden und Vorträge. Stuttgart 2011, 7-30, hier: 10.

18 Gerhard Falkner: Endogene Gedichte, Köln 2000.

19 Damit werden übrigens auch die gegensätzlichen Positionen in der Bewertung der antiken Götter­kultur aufgerufen: Die Verbrämung der olympischen Gewalt zugunsten von Schönheit und Natürlichkeit der Antike (z.B. bei Winckelmann und Schiller) stand immer schon der Betonung ihrer Grausamkeit entgegen. In den Pergamon Poems werden Schönheit, Sexualität und Gewalt kombiniert.

20 Jacques Derrida: Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen. Berlin 2003, 23.

21 Damit wird auch die Darstellung des Mythos auf den Friesen als Inszenierung aus­gestellt.

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Stefan Schukowski studierte Komparatistik, Hispanistik und Neuere deutschen Literatur in München und Salamanca und ist derzeit Wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Komparatistik an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen. Er promovierte zum Thema Gender im Gedicht. Diskursreaktivität homoerotischer Lyrik.

Stefan Schukowski   14.04.2012    Druckansicht  Zur Druckansicht - Schwarzweiß-Ansicht    Seite empfehlen  Diese Seite weiterempfehlen

 

 
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