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Ingeborg Bachmann lesen
Stefanie Golisch: Ingeborg Bachmann. Eine Einführung

„Der manchmal zaubrische Charakter der Dichtung: er ist nur ein Extrem der prinzipiellen ‚Unausschöpfbarkeit‘ alles Litteralen (wobei ‚Unausschöpfbarkeit‘ nicht meint: ‚Undeutbarkeit‘, sondern Unvollendbarkeit der Deutungsbemühung).“1

Stefanie Golisch: Ingeborg Bachmann. Eine Einführung
Stefanie Golisch
Ingeborg Bachmann
Eine Einführung
Junius Verlag (1997)
Neuauflage: Panorama
Unsere Zeit – ein Gemeinplatz – zeichnet sich durch Schnelllebigkeit aus. Die Paradigmenwechsel, die heute ein Jahrzehnt von dem folgenden scharf zu scheiden scheinen, vollzogen sich einmal im Rhythmus von Jahrhunderten – und so kann es geschehen, daß ein Schriftsteller ebenso rasch hochgelobt wie vergessen wird. Sein Werk hat sich dann ein wenig zu sehr dem Zeitgeist gebeugt: Schon nach zehn Jahren ist möglicherweise kaum etwas übrig von ihm, das die Gegenwart noch zu betreffen vermöchte.

Andere Autoren, und zu ihnen gehört Ingeborg Bachmann, werden sozusagen in „Schüben“ entdeckt. Ihr Werk wird durch die Jahrzehnte hindurch aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln ausgeleuchtet und immer wieder neu bewertet. Seine Aktualität ist ungebrochen, da Wissenschaft und Kritik Fragestellungen entwickelt haben, die es im Kontext der jeweiligen Gegenwart interessant machen. Und so erscheint Ingeborg Bachmann heute als Dichterin und Schriftstellerin, deren exponierte Position innerhalb der deutschsprachigen Literatur der Nachkriegszeit nahezu unangefochten ist.

Zugleich – und genau hier liegt das Problem – ist die Schriftstellerin jedoch mit den Jahren zur idealen Projektionsfläche für eine Mythenbildung ohne Beispiel avanciert. Wenn von Ingeborg Bachmann die Rede ist, dann niemals nur von ihrem Werk, sondern immer auch von ihrer Person. Kaum ein Rezensent oder Literaturwissenschaftler, der innerlich unbeteiligt über sie schriebe: An Ingeborg Bachmann, der ebenso schönen und erhabenen wie zugleich schwierigen und widerspruchsvollen Ikone der deutschen Nachkriegsliteratur, scheiden sich die Geister. Die unterschiedlichsten Interpretationen und Bewertungen sind ihrem Werk in der raschen Abfolge seiner Rezeptionsphasen zuteil geworden. Nur allzuoft jedoch waren und sind die einerseits emphatischen, andererseits vernichtenden Einschätzungen der Kritik das direkte Resultat einer ebenso undifferenzierten wie durchaus unzulässigen Identifikation von Leben und Werk. Mehr und anders als im Falle männlicher Autoren wird die Autobiographie bei der Bewertung von Schriftstellerinnen nicht selten zum Problem. Grundsätzliche Zweifel an Berechtigung und Wert weiblichen Schreibens überhaupt sowie das alte Vorurteil, nach dem künstlerische Impulse bei Frauen notgedrungen auf eklatante Defizite im Privaten zurückzuführen seien, bestimmen die Bereiche Leben und Kunst in ihrer vermeintlichen Konfliktualität. Einer Konfliktualität, welche indes kaum in der Sache selbst begründet liegt, sondern durch Ressentiment von außen an sie herangetragen wird.

So waren Bachmanns private Liebesbeziehungen, namentlich diejenige zu Max Frisch, der Kritik von je zumindest ebenso wichtig wie die Auseinandersetzung mit ihrem Werk selbst. Eine formal aufwendig gestaltete, mit bislang unbekannten, indiskretintimen Details aufwartende Beschreibung ihrer gemeinsamen Ägyptenreise im Jahre 1964, die Adolf Opel, ein international bekannter Lebemann und damaliger Freund der Autorin, pünktlich zu ihrem siebzigsten Geburtstag auf den Markt gebracht hat, belegt das ungebrochene öffentliche Interesse am Privatleben der Dichterin.2

Was nun der halbgebildeten literarischen Öffentlichkeit die pikanten Details aus der Feder von Lady Dianas ehemaligem Reitlehrer sein mögen, das ist dem akademischen Publikum seit je Bachmanns vermeintlich wesenmäßige Verbindung zu Robert Musil und Ludwig Wittgenstein, als deren geistige Nachlaßverwalterin die Schriftstellerin bisweilen erscheinen will. Daß bedeutende Schriftsteller bzw. Denker einen – zumal jungen – Autor beeindrucken und indirekt auch Einfluß auf sein entstehendes Werk ausüben können, steht außer Frage; seine eigentliche, unverwechselbare Richtung wird es indes stets aus einer inneren Quelle empfangen, welche sich dem Zugriff durch Äußerliches a priori entzieht.

Kurz: Eine fruchtbare Lektüre Ingeborg Bachmanns ist auch ohne die genaue Kenntnis der Philosophie Ludwig Wittgensteins, der Schlüpfrigkeiten Adolf Opels oder Max Frischs autobiographisch verquälter Erzählung Montauk möglich, ja sogar wünschenswert – geht es doch im Interesse einer sachlich-distanzierten Annäherung zunächst darum, ihr Werk von den mannigfachen, seine individuelle Eigenart nicht selten erdrückenden, Implikationen privater und theoretischer Natur freizulegen.

Warum nun ausgerechnet Ingeborg Bachmann? Welche Faktoren sind es, die gerade diese Schriftstellerin zur idealen Projektionsfläche für Ideen und Vorstellungen machen, welche den tatsächlichen Rahmen ihres Schreibens häufig regelrecht sprengen und so zu jener fatalen Mythenbildung beitragen, die einen vorurteilslosen Blick auf ihr Werk zunehmend verstellt? Daß sie eine Frau war, als Schriftstellerin begabt und als Mensch faszinierend, daß sie es zugelassen hat, daß sich ihr Leben über lange Phasen im Rampenlicht der Öffentlichkeit abspielte, ist es nicht allein – werfen wir also einen Blick auf die werkimmanenten Konstanten, die ihren zwiespältigen Ruhm begründen. Zu den Unwegsamkeiten der Rezeptionsästhetik merkt Bachmann selbst in ihren Frankfurter Poetikvorlesungen an:

„Die wechselnden Erfolge der Werke oder ihre Mißerfolge lassen nun weniger auf sich selber als auf unsere eigene Konstitution und auf die Konstitution der Zeit schließen, aber die Geschichte dieser Konstitutionen hat noch niemand geschrieben, und weiter geschrieben wird an der Geschichte der Literatur, und sie wird kritisch-ästhetisch geordnet, als wäre sie ein erledigter Akt, der dem einhelligen Wahlspruch der darauf Eingeschworenen – nämlich der Leser, der Kritiker und der Wissenschaftler – zugänglich sei.“ (4, 259)

Die Geschichte der Literatur ist, so erkennt Bachmann, nicht zuletzt die Geschichte der äußeren Bedingungen, unter denen sie aufgenommen und bewertet wird. Betrachtet man nun ihr eigenes Werk vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund seiner Entstehung und Rezeption, so werden rasch die wesentlichen Faktoren deutlich, aufgrund derer es zum Mythos werden konnte.

Die Gedichte und Hörspiele der fünfziger Jahre repräsentieren in ihrer ebenso bewußten wie hilflosen Unentschiedenheit zwischen Tradition und Innovation exakt jene geistige Heimatlosigkeit, die für die frühe Literatur der Nachkriegszeit charakteristisch ist. Das Todesarten-Projekt steht in seinem radikal-kulturkritischen Charakter am Beginn einer innerlich folgerichtigen Entwicklung, welche schließlich in die totale Abkehr von Ideologie mündet. Die zeitgeschichtlichen Voraussetzungen ihres Werkes sowie die Lebensdaten und -stationen der Schriftstellerin, die der dargestellten Zerrissenheit auf idealtypische Weise zu entsprechen scheinen, haben in der Öffentlichkeit das Bild einer dünnhäutigen, zutiefst problematischen Schriftstellerin entstehen lassen, die als Mensch beunruhigte und faszinierte, deren Werk jedoch gerade auch aufgrund seiner besonderen Voraussetzungen irritierte und bis in die frühen siebziger Jahre sogar auf erhebliche Widerstände von Seiten führender Literaturkritiker gestoßen ist.

So mußte den vorwiegend männlichen Rezensenten der Roman Malina natürlich ein Dorn im Auge sein. Die durchweg negative Einschätzung des „männlichen Prinzips“ als Quelle historischer Fehlentwicklung schlechthin stieß – wie hätte es anders sein können – auf entschiedene Abwehr. Wie immer auch berechtigte ästhetische Einwände formulierten das Todesurteil. Ein Todesurteil, das freilich nicht ohne jenes herablassende und deshalb besonders beleidigende Wohlwollen für eine Schriftstellerin war, die durch ihre Abkehr von der Lyrik ihren Kompetenzbereich überschritten hatte, die „zu hoch hinausgewollt hatte“.

So ermahnte man Bachmann, es mit der Prosa gut sein zu lassen und zum „schönen Schreiben“, also zur Lyrik, zurückzukehren3 – ein Urteil, welches von der feministisch orientierten Literaturkritik nach ihrem Tode und insbesondere nach dem Erscheinender gesammelten Werke im Jahre 1978 gründlich revidiert wurde.4

Im Kontext dieser, die gesamten achtziger Jahre dominierenden Rezeptionsphase erscheint Malina – was kaum überrascht – als der unzweifelhafte Höhepunkt des Bachmannschen Schaffens, während ihre frühe Lyrik zunehmend in den Hintergrund des allgemeinen Interesses tritt. Die feministische Kritik erkannte in Bachmanns Romanen und Romanfragmenten die literarische Antizipation ihrer aktuellen Anliegen: die Darstellung der universalen Unterdrückung der Frau unter einem emanzipatorischen Gesichtspunkt. Inwieweit die Kritik damit Bachmanns sehr persönlicher, von Idiosynkrasie geprägter und deshalb kaum thesenartig wiederzugebender Bewältigung dieses Themenkomplexes gerecht wird, bleibt dahingestellt – ästhetische Einwände wurden seit Ende der siebziger Jahre auf jeden Fall kaum mehr erhoben. Im Gegenteil wurde die dekonstruktivistische Schreibweise des Romans plötzlich als formal konsequente Bewältigung ihres Gegenstandes bewertet. In den Mittelpunkt des allgemeinen Interesses rückte indes zuvörderst die inhaltliche Dimension des Romans: die kompromißlose Darstellung der gnadenlosen Zerstörung eines weiblichen Ichs durch das überlegene männliche Prinzip.

Eine neue Phase der Rezeption deutet sich erst seit Ende der achtziger Jahre an. Es ist das Verdienst der umfangreichen Werkmonographien Bartschs und Höllers, sowohl der sozialen als auch der historisch-kritischen Dimension des Bachmannschen Gesamtwerks in der literarischen Öffentlichkeit Gewicht verschafft zu haben.5

Das Bild Ingeborg Bachmanns bleibt gleichwohl uneinheitlich: Ist sie nun die weltentrückte Dichterin, die engagierte Feministin oder die historisch bewußte, zeitkritische Schriftstellerin, welche Höller in ihr zu erblicken glaubt?

Der Weg zu Ingeborg Bachmann ist für denjenigen Leser, der sich ihrem Werk auf eine möglichst unvoreingenommene Art und Weise nähern will, bedauerlicherweise weitgehend verstellt – bietet sich ihm in der kritischen Literatur doch ein ebenso dogmatisches wie uneinheitliches, ja höchst widersprüchliches Bild. Die unterschiedlichen Phasen der Rezeption haben, so scheint es, ihre Ingeborg Bachmann überhaupt erst hervorgebracht, und so besteht das Ziel der vorliegenden Einführung zunächst einmal darin, dem Leser eine möglichst vorurteilslose Annäherung an die Bachmannschen Texte zu ermöglichen. Distanz ist notwendig, um Verdienst und Begrenzung aus heutiger Sicht nüchtern ins Auge zu fassen.

Die vermeintlich „innere Beteiligung“ einerseits, eine neugierige Interessiertheit am Privatleben der Schriftstellerin andererseits haben ihr Schreiben bei aller Verdienstlichkeit der Erkenntnis im Detail bislang doch nur scheinbar erhellt. Die Tatsache, daß Leben und Werk Ingeborg Bachmanns tatsächlich eine überaus enge, ja wesensmäßige Bindung eingehen, darf aber gerade nicht zur unkritischen Identifikation verleiten, sondern gibt im Gegenteil Anlaß zu nachdenklicher Kritik, liegen doch eben hier – so meine Annahme – die Wurzeln der immanenten Problematik ihres Werkes, denn nicht immer gelingt es Bachmann im Prozeß des Schreibens, die notwendige Distanz zu sich selbst und zu ihren Gegenständen herzustellen.

Von speziellem Interesse ist in diesem Zusammenhang das besondere Verhältnis von Lyrik und Prosa. Gegen Ende der fünfziger Jahre hörte Bachmann bekanntlich auf, Gedichte zu schreiben, um sich fortan zunächst den Erzählungen, dann seit Beginn der sechziger Jahre ihrem geplanten Todesarten-Projekt zu widmen. In einem Interview bemerkt sie dazu: „Es ist einerseits durch das Prosaschreiben gekommen, daß mir Gedichte schreiben unmöglich war, andererseits habe ich aber fast bewußt aufgehört, Gedichte zu schreiben.“ (GUI, 28)

Die Kontroverse innerhalb der Literaturwissenschaft, die Annahme eines auch innerlichen Bruches, der sich nach außen hin im Übergang von der Lyrik zur Prosa manifestiert, muß aber zwangsläufig in die Irre führen, denn er verstellt den Blick auf die innere Kontinuität des Bachmannschen Werkzusammenhanges – bleibt die Schriftstellerin ihren Erzählungen bis hin zum Todesarten-Projekt doch bei näherer Betrachtung auf verblüffende Weise treu.

Zentral ist, ganz in der Tradition der klassischen Moderne stehend, der Konflikt von Ich und Welt: die Unfähigkeit des Subjekts, in ein angemessenes Verhältnis zu den äußeren Bedingungen seines Seins zu treten. „Müdigkeit spürte er keine“, formuliert Büchner unübertroffen zu Beginn seines Lenz, „nur war es ihm manchmal unangenehm, daß er nicht auf dem Kopf gehn konnte“6. Georg Lukács prägt in seiner Theorie des Romans die Formel von der „Seele, die breiter ist als die sie umgebende Wirklichkeit“7.

Das problematische Verhältnis von Ich und Welt tritt im Bachmannschen Werk, sowohl in den frühen Gedichten als auch in der späten Prosa, auf sehr konkrete Art und Weise in Erscheinung. Bachmann begreift als Schriftstellerin ihre Zeitgenossenschaft als moralische Verpflichtung. Die existentiellen Widersprüche, die sie auf persönlicher Ebene erfährt, erschöpfen sich für sie keineswegs im Privaten, sondern sind vielmehr Ausdruck all jener Antagonismen, die das gesellschaftliche Miteinander ihrer Zeit prägen.

Da in der Kunst Versöhnung nicht sein kann, wird sie zum Ort der Konfrontation der Gegensätze. Daß jede Art von Ordnung dabei zweifelhaft wird, versteht sich von selbst: Nur indem das schreibende Ich im Gegenteil die Dinge durcheinanderbringt, entlarvt es die vermeintliche Sicherheit des Bestehenden in seiner fatalen Selbstgerechtigkeit. In Malina heißt es dazu: „Hier braucht sich kein Mensch auszukennen. Ich werde schon meine Gründe haben, alles immer mehr durcheinanderzubringen. Wenn aber jemand ein Recht hat, sich diese 'Fetzen' anzusehen, dann bist du es. Du wirst dich aber nicht auskennen, mein Lieber, nach Jahren würdest du nicht verstehen, was das eine und das andere bedeutet.“ (3, 288)

Durcheinanderbringen, also Dekonstruktion des falsch Konstruierten, als oberstes Prinzip einer subversiven Schreibpraxis, einer Literatur, die durch die systematische Zerstörung des falschen Scheins die ganze Unwahrheit über die bestehenden Verhältnisse in kritischen Augenschein nimmt.

Ingeborg Bachmann will die Wahrheit schreiben, eine Wahrheit, die, wie sie in ihrer Dankesrede zur Verleihung des Hörspielpreises der Kriegsblinden sagt, „dem Menschen zumutbar ist“ (4, 275). Das Schreiben der Wahrheit oder besser das Finden der Wahrheit im Prozeß des Schreibens ist Bachmanns ethischmoralischer Imperativ. An ihm mißt sie alle ihre Texte, die Lyrik ebenso wie die Prosa, mit ihm überfordert sie sich und ihre Kunst konsequent, wissend, daß, wie sie in ihrer Büchner-Preis-Rede formuliert, „das Konsequente [...] in fast allen Fällen etwas Furchtbares ist und das Erleichternde, das Lösende, Lebbare [...] als inkonsequent einherkommt“ (4, 278).

Obwohl sich Bachmann also sehr wohl des Widerspruchs von Leben und Kunst bewußt ist, verlangt sie doch von der Kunst, von ihrer Kunst, alles. Was das Leben versagt, kann aber in der Kunst nicht auferstehen: Es ist stets dieselbe Aporie, an der all jene Künstler scheitern, denen die Einsicht in das zutiefst unbefriedigende Verhältnis von Leben und Kunst menschlich unerträglich wird. Wo bei Goethe etwa oder bei Thomas Mann durch überlegenen Gleichmut und maßvolle intellektuelle Kühle die Leidenschaften und Widersprüche am Ende zu vollkommener ästhetischer Illusion gerinnen, scheitern andere, vielleicht nicht minder begabte Schriftsteller an denselben Voraussetzungen. Zum Schreiben sogenannter „großer“ Werke bedarf es offensichtlich neben einem überragenden Talent einer robusten seelischen Disposition, welche im entscheidenden Moment – in dem Moment nämlich, in dem es um Abbruch oder Vollendung geht – alle Zweifel über den Tisch zu fegen vermag. Das, was wir gemeinhin unter Größe verstehen, hat viel mit Kohärenz zu tun; kohärent aber ist nur derjenige, der unerbittlich denkt, weil er an vieles unerbittlich nicht denkt.

So bleibt das Bild der Dichterin und Schriftstellerin Ingeborg Bachmann widerspruchsvoll. Kaum je nimmt sie sich selbst in ihren Texten zurück. Gerade aber die Intensität ihrer persönlichen Anwesenheit ist zutiefst ambivalent, zeitigt sie doch ebenso Bilder von hoher ästhetischer Suggestionskraft wie schlechthin Mißlungenes, einen unvermittelten Abfall in Kitsch und Banalität. Der Wunsch, alles sagen zu wollen, hat, so scheint es, Bachmann in ihrem erzählerischen Werk bisweilen zum Rückgriff auf Klischees verleitet, die ihrem Rang als Schriftstellerin unangemessen sind. Souverän und überzeugend wie in der Lyrik ist ihre Sprache hingegen immer dort, wo sie – frei vom inneren Zwang zur Fiktion - die Angelegenheiten der Kunst mit ihren Worten benennen darf. Die Frankfurter Poetikvorlesungen sowie die kurzen Essays zur Kunst und Literatur sind in ihrer eindringlichen Bildhaftigkeit das bleibende Paradigma einer sensiblen Kunstbetrachtung.

Ob die augenscheinlichen Schwächen ihres Werkes mit der Tatsache zusammenhängen, „dar sie die Erfahrung der Frau, die sie ist, nicht in Kunst 'ertöten' kann“8, wie Christa Wolf vermutet, oder ob die totale Identifikation mit dem Schmerz, der Mangel an ästhetischer Distanz und innerer Gleichmut, den Prozess literarischer Formung automatisch unterläuft, ist eine Frage, die meine Bachmann-Lektüre begleitet hat.

Zunächst jedoch geht es in Auseinandersetzung mit den vorliegenden Interpretationsansätzen schlicht darum, die – wie Gadamer formuliert – Fragen zu verstehen, auf welche die jeweiligen Texte antworten.9

Im Interesse einer sinnvollen Aktualisierung des Bachmannschen Werkes soll darüber hinaus der Versuch unternommen werden, dessen spezifischen Standort im Kontext der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur neu zu bestimmen.

Stefanie Golisch         17.06.2006


1Frank, Manfred: Vieldeutigkeit und Ungleichheit, in: ders., Das Sagbare und das Unsagbare. Frankfurt/M. 1990, S. 202.
2Opel, Adolf: Ingeborg Bachmann in Ägypten. Wien 1996.
3Vgl. Fritz, Walter Helmut/Heißenbüttel, Helmut: Über Ingeborg Bachmanns Roman Malina, 5.132-141; Baumgart, Reinhard: Ingeborg Bachmann – Malina, 5.141-149; Blöcker, Günter: Auf der Suche nach dem Vater, S. 149-153; Hartung, Rudolf: Dokumente einer Lebenskrise, 5.153-157. Alle in: Kein objektives Urteil – nur ein lebendiges. Texte zum Werk von Ingeborg Bachmann, hrsg. von Koschel, Christine/von Wiedenbaum, Inge, München 1989.
4Vgl. Text und Kritik, Sonderband: Ingeborg Bachmann, hrsg. von Arnold, Heinz Ludwig, München 1984.
5Vgl. Höher, Hans: Ingeborg Bachmann. Das Werk, Frankfurt/M. 1993; Bartsch, Kurt: Ingeborg Bachmann, Stuttgart 1988.
6 Büchner, Georg: Lenz, in: ders., Werke und Briefe, Bd. 1, Frankfurt/M. 1970, S.85.
7Lukács, Georg: Die Theorie des Romans. Darmstadt/Neuwied 1971, S.83.
8Wolf, Christa: Vierte Vorlesung: Ein Brief über Eindeutigkeit und Mehrdeutigkeit, Bestimmtheit und Unbestimmtheit; über sehr alte Zustände und neue Seh-Raster; über Objektivität, in: dies., Kassandra. Erzählung und Voraussetzungen einer Erzählung: Kassandra, Frankfurt/M. 1990, S. 402.
9Gadamer, Hans Georg: Hermeneutik als praktische Philosophie, in: ders., Vernunft im Zeitalter der Wissenschaft, Frankfurt/M. 1991, 5.101: „Es ist eine der fruchtbarsten Einsichten der modernen Hermeneutik, daß jede Aussage als Antwort auf eine Frage angesehen werden muß und daß der einzige Weg, eine Aussage zu verstehen, darin besteht, die Frage zu gewinnen, von der her gesehen die Aussage eine Antwort ist.“

 

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