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Möblierter Herr

Gottfried Benn und Leopoldo María Panero
Nur zwei Dinge

Gottfried Benn | Foto: Klett-CottaGottfried Benn | SignaturLeopoldo María Panero

Nur zwei Dinge

Durch so viel Formen geschritten,
durch Ich und Wir und Du,
doch alles blieb erlitten
durch die ewige Frage: wozu?

Das ist eine Kinderfrage.
Dir wurde erst spät bewußt,
es gibt nur eines: ertrage
– ob Sinn, ob Sucht, ob Sage –
dein fernbestimmtes: Du mußt.

Ob Rosen, ob Schnee, ob Meere,
was alles erblühte, verblich,
es gibt nur zwei Dinge: die Leere
und das gezeichnete Ich.

(Gottried Benn. Sämtliche Gedichte, Stuttgart,1998, S. 320.)

Leopoldo María Panero

After Gottfried Benn
Posthume Imitation Gottfried Benns


Es gibt nur zwei Dinge: die Leere
und das gezeichnete Ich.


Noch einmal irrtest Du, das Scheitern
nur kennt keine Grenzen – , Du ja.
Nur diese dunkle Schwere ohne
Stimme – während Du von draußen diese Stimme hörst:
Das könnte bedeuten, Du bist verrückt
             wie die,
die andere hören.
             Das armselige
verhasste Zimmer ist voll
von diesem unerträglichen Gestank – und da ist
nur das erstickende Gemurmel,
             immer
die Stimme von Pilatus, die den Mund versiegelt.
             Und dort
im Dunkeln, niederknien, ohne dass der
Gestank der Pestilenz aufhörte, der niemanden
benennt, die
             erdrückende
Schwere ohne Stimme – niederknien
um zu beten, noch einmal, das Gebet,
das verdammte. Und masturbieren, während Du
in Deinen Ohren die eigene Stimme hörst, die
zu einem blinden Bläschen, das platzen wird,
             sagt
und sagen wird: „Schlag mich,
hau mich, bitte.
Bitte.“
             Und so geschah es
wirklich, dann war das Fleisch
lächerlich zerquetscht und die Scham.
             Und das Zimmer
und in einer Botschaft, die Bücher besiegt
und nur
diese Schwere ohne Stimme.
In dieser Zelle wird ich sterben.

(aus dem Spanischen von Susanne Detering)

Der letzte Rest,

die Leere und das Ich in seinem Schädelkerker zeigen sich in den unterschiedlichsten Gestalten. Der Einsamkeit hilflos ausgeliefert ist man an vielen Orten, etwa in einem Café am späten Nachmittag. Es duftet nach Kaffee und Kuchen, und der Herr oder die Dame am Nebentisch verspüren nur einen Hauch von Melancholie.
Es kann ein Augenblick sein, der vorüber geht, oder der allerletzte Augenblick, oder eine condition de vie, ein guter Freund, der es sich als Stein auf die Brust gelegt hat, weiß nicht mehr wann noch warum. Das Atmen fällt schwer und schwerer, dafür ist mein Makel exklusiv: nicht alle dürfen es tragen.
So wenig ein gezeichnetes Ich dem anderen gleich, so wenig gleicht eine Leere der anderen.
Benn lässt es offen.
Man kann seine eigene Leere nach Belieben möblieren.

Im dem Gedicht des spanischen Lyrikers Leopoldo María Panero (* 1948) ist Benns Leere ein schäbiges Zimmer, in dem es unerträglich stinkt. Ein Mensch ist in seiner allereigensten Enge langsam verwahrlost und schließlich an sich selbst verzweifelt. Ist er verrückt?
Stimmen verfolgen ihn, gegen die er sich nicht wehren kann; längst haben sich die Grenzen seines Ichs gefährlich aufgelöst.
Du lügst, ruft Panero Benn zu, dein gezeichnetes Ich ist viel zu schön um wahr zu sein! Es duftet nicht nach Veilchenparfüm, wenn dein Schiff bricht und dir die Feuchte in die Knochen kriecht und jeden Tag ein wenig mehr von deinem Ich Besitz ergreift. In meiner Zelle stinkt es nach einem, der sich seit Ewigkeiten nicht mehr gewaschen hat. Wie eine Ratte krieche ich im Staub. Ein namenloser Leib, der abwechselnd niederkniet und sich mit letzter Kraft traurige Erleichterung verschafft. Niemals kommt dieser Leib zur Ruhe, besteht die unbegreifliche Gnade Gottes doch gerade darin, das Zerquetschen so lange wie möglich hinaus zu zögern. Du hast keine andere Wahl als die, dich mit deiner eigenen Vernichtung vollkommen zu identifizieren, ja sie aus vollstem Herzen zu bejahen und noch nach Kräften voranzutreiben. Schlag mich, sagt Paneros Ich, denn es weiß, dass sein Schicksal längst besiegelt ist.
In Kafkas Prozess scheint es zum Schluss, dass die Scham den K. überleben soll, bei Panero stirbt am Ende auch sie.
Dann ist der Kampf vorbei, das Ich besiegt, endlich ist Leere; für zwei Dinge auf einmal ist in dem schäbigen Zimmer nämlich kein Platz, es gilt vielmehr: Entweder die Leere oder das gezeichnete Ich.

Derweil verlöschen im Kaffeehaus die Lichter. Ein Ich rückt seinen dunkelgrauen Hut zurecht, drückt im Herausgehen dem Kellner ein Trinkgeld in die Hand und ist, ein wenig gebeugt, auch schon in der Finsternis verschwunden.

Stefanie Golisch         21.06.2006

Gottfried Benn | Sämtliche Gedichte   Gottfried Benn
Sämtliche Gedichte
Stuttgart: Klett-Cotta 2002
(5. Aufl.)

 

Stefanie Golisch
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