Wie ich in Wirklichkeit heiße
Ich beiße nicht in Gras, ich
beiße in Kugeln, in Steine.
Ludwig Fels
Bobbie und Skelett sind mal wieder hier aufgetaucht. Wir sind im Bauch derselben Mutter gewachsen, aber wir sind nicht Bruder und Schwester, verkünden sie lauthals. Was sind wir denn?
Jeder Mensch muß ein Geheimnis haben, grunzt Skelett hochmütig, das ist sein gutes Recht! Wir wollen deine Scheiß-Geheimnisse auch nicht kennen! Und Bobbie nickt wie immer dazu. Wir glauben dir sowieso kein einziges Wort! Bobbie hat in Wirklichkeit Flügel. Wenn wir wollen, schnippen wir einfach mit dem Finger und schon sind wir weg! Dein Gelaber interessiert hier kein Schwein, hast du das endlich kapiert? Hau ab und lass uns in Ruhe!
Dann kneift Skelett die Augen zu und streckt mir seine beiden hohlen Hände hin, auf das ich in ihnen mein Portemonnaie entleere. Er ist gerissen, das muß man ihm lassen. Zwar will er mein Geheimnis nicht wissen, aber er riecht es förmlich, daß ich zu den Menschen gehöre, die niemals nein sagen werden. Er hat es nicht nötig, sich zu bedanken, statt dessen sagt er, los, verpiss dich, Alte. Aber ich denke gar nicht daran, sondern warte schweigend ab, bis die beiden im Gedränge verschwunden sind.
Wie klein Bobbie ist, denke ich jedes Mal, aber vielleicht ist es nur weil ihr Freund so ein krummer Riese ist. Vielleicht ist sie in Wirklichkeit gar nicht so klein, sondern groß und stark. Ein harter Brocken. Aber ich bin Bobbie niemals allein begegnet, und so ist sie in meiner Erinnerung ein junges Kätzchen. Wie gern würde ich ihr schöne Kleider kaufen und sie hegen und pflegen, ich würde ihr Süßigkeiten kaufen und sie zu einer Tasse Kaffee einladen, um ihr die ganze Sache in aller Ruhe zu erklären. Aber weil Bobbie Flügel hat, ist sie immer schon fort, bevor ich mir ein Herz fassen kann.
Ich bleibe dann, obwohl es ziemlich kalt draußen ist, noch etwas bei den anderen und trinke mit ihnen. Sie haben sich an mich gewöhnt, halten mir ihre Flasche hin, und, um sie nicht zu beleidigen, nehme ein paar Schlucke, es ist nicht das erste Mal, und ich verspüre fast keinen Ekel mehr dabei.
Nachdem wir noch ein bißchen geredet haben, gehe ich zur U-Bahn und fahre nach Hause. Ich füttere die Katze, koche mir eine Tasse Lindenblütentee und mache es mir im Wohnzimmer gemütlich. Dann schreibe ich einen Brief an Bobbie, in dem ich ihr alles so erkläre, daß ihr nicht anderes übrig bleibt, als ihrem Bruder, der nicht ihr Bruder ist, den Laufpass zu geben. Ich stecke den Brief in einen Umschlag, frankiere ihn ausreichend und werfe ihn in den Mülleimer. Dann rücke ich mir einen Stuhl ans Fenster und beobachte die Finsternis.
Dieses Mädchen heißt nicht Bobbie. Sein Name ist Friederike. Dieses Mädchen hasst seinen beschaulichen Namen und seine langen Zöpfe. Ihre Freundinnen müssen sie Jenny nennen, sonst sind sie ihre Freundinnen nicht mehr. Man muß die Wirklichkeit ein wenig bewegen, ihre Grenzsteine verschieben. Diese Jenny hat keine Mutter und keinen Vater, sie ist eine Puppe. Sie bewegt sich und trägt und sagt, was ich ihr befehle. Ich bin diese Jenny, und ich bin sie nicht. Daß ich mich nach Belieben verdoppeln kann ist ein schönes, billiges Spiel. Man kann sein eigenes Leben erfinden wie es einem gefällt! Mir kann keiner mehr was anhaben in diesem Scheiß-Kaff! Ihr kriegt mich nicht. Wo immer ihr mir auch auflauert, bin ich schon verschwunden. Ich bin fünfhundertzweiunddreißig Mal schneller als ihr! Ich schminke mir die Augen schwarz und trage schwarze Kleider. Ich verliebe mich, in wen ich will. Ich gebe meiner Liebe einen neuen Namen. Von nun an gehorcht meine Erfindung allen meinen Befehlen.
Verlieb dich nicht im mich. Ich bringe Unglück. Es ist besser, du bastelst weiter an deinem altem Motorrad, wenn ich in meinem langen Mantel vorüber gehe. Tu einfach so, als siehst du mich nicht. Du kennst mich nicht, hast mich nie zuvor im Leben gesehen. Trinkst abends mit deinen Freunden Bier, bis du umfällst. Du kennst mich nicht. Hast mich nie im Leben gesehen. Ich will dich nicht küssen, ich will an dir verzweifeln.
Die größte Lust und der größte Schmerz ist es, an dem Haus, in dem du wohnst vorüber zu gehen und genau zu wissen : er ist zu Hause! Die Möglichkeit ist in diesem Moment so groß, wie das Leben niemals sein wird. An dieses Gefühl will ich mich erinnern, beschließe ich. Die Erinnerung ist ein großer Topf, in dem kocht das Leben in kleinen Stücken. Man ißt von dieser Suppe eine Woche, einen Monat, ein Jahr, alle Zeit lang. Sie schließt die Augen und beschwört den pochenden Schmerz von gestern, das geronnene Blut und befiehlt ihm, ihrer Erfindung, tu mir noch mehr weh! Je tiefer der Schmerz in sie eindringt, desto außerordentlicher sind die Blüten, die er in ihrem Leben treibt, ihre Farben, ihr Duft, an dem ich mich berausche. Ich bin, sagt sie morgens bei Aufwachen und abends beim Einschlafen laut zu sich selbst, meine eigene Erfindung. Da ist sie fünfzehn: kein Mensch auf dieser schrecklichen Welt kann mir etwas anhaben! Die Wirklichkeit gibt es nicht! Sie ist eine Lüge! Ich weiß längst Bescheid!
Sie bekommt ihren Willen. So, wie sie es ihm befohlen hat, bastelt er ohne sie jemals eines Blickes zu würdigen stumm an seinem Motorrad und trinkt abends mit seinen Freunden bis zur Bewußtlosigkeit.
Da hast du ein Gefühl und die Erinnerung an ein Gefühl! Den Schmerz und die Erinnerung an den Schmerz. Nur, was fängst du damit an?
Ich werde Jenny rausschmeißen!
Aber Jenny läßt sich nicht so einfach rausschmeißen. Ich bin Jenny, und ich bin Jenny nicht.
Sie fühlt sich nämlich ziemlich wohl in meinen Herzkammern.
Ich habe ein weiche Haut, die ich mit schönen Kleidern bedecke und kaufe meiner liebsten Freundin von meinem Taschengeld Milchschokolade, Trüffelschokolade, Schokolade mit ganzen Nüssen.
Keiner von denen sagt dir die Wahrheit.
Keiner verrät dir den Namen der Stadt, in der er geboren ist. Zur Erklärung sagen sie höchstens, da wo Skelett her ist, sind sie alle so groß und krumm! Sie sind wie die Kinder. Sie glauben an Feen und Elfen und daran, daß wenn man sie mit einem Zauberstab berührt, sie augenblicklich versteinern. An der Wirklichkeit interessiert sie nur, wie sie möglichst schnell aus ihr abhauen können. Und Bobbie, frage ich. Bobbie kann fliegen, sagen sie. Vögel fliegen, sage ich, das gibt es nicht, daß ein Mensch fliegen kann. Bobbie schon, sagen sie und spucken einander zum Vergnügen Schokoladenstückchen ins Gesicht. Am Ende wollen sie ja doch nur mein Geld. Ich gebe ihnen alles, was ich dabei habe, aber ich lehne es ab, heute mit ihnen zu trinken.
Wo Bobbie wohl geblieben ist, versuche ich es noch einmal. Keine Ahnung, sagen sie und sind auch schon verschwunden, um jeder für sich dem Tag zu entkommen. Nur ich weiß nicht, wie ich dem Tag entkommen soll und deshalb setze ich mich in die nächste U-Bahn und fahre kreuz und quer durch die Stadt. Am Abend bin ich müde und lege mich früh schlafen.
Bobbie wird es gut bei mir haben. Sie soll sich erst einmal gründlich ausschlafen und sich um Gottes willen keine Sorgen mehr um den nächsten Tag machen. Alles wird gut, wenn du nur auf mich hörst, flüstere ich ihr ins Ohr, ich werde dir die ganze Geschichte wahrheitsgetreu erzählen, damit du verstehst, warum du bei mir am besten aufgehoben bist. Der verdammte Frühling kann uns kein Haar mehr krümmen, das kannst du mir glauben!
Auf Bobbies Bett habe ich eine Decke aus geblümtem Leinen gebreitet. Wenn sie dir nicht gefällt, kaufen wir eine andere. Es ist nicht wichtig. Du brauchst keine Ordnung zu halten und kannst kommen und gehen, wann du willst. Es interessiert mich nicht, wie deine Tage dahin gehen, wenn du es mir nur erlaubst, daß ich nachts deinem schlafenden Atem lausche.
Dafür will ich dir alles erzählen, was ich weiß.
Am liebsten aß Jenny Schokolade. Ihr Haar war weder blond noch dunkel. Ihre Augen weder blau noch braun. Jenny hieß in Wirklichkeit gar nicht Jenny. Das war nur ausgedacht, damit es sich schöner anhört. Das verstehst du doch, oder? Daß man die Wirklichkeit auf keinen Fall so hinnehmen kann, wie sie angeblich ist!
Du bist doch selbst aus diesem Dorf, dessen lächerlichen Namen ich niemals mehr in den Mund nehmen werde. In unterschiedlichen Sommern sind wir in demselben Wasser geschwommen. Ich kenne das Haus, in dem du gewohnt hast. Jenny ist oft an diesem Haus vorübergegangen. Es war sogar eine Zeitlang ihre Lieblingsbeschäftigung, an diesem Haus vorüber zu gehen. Jedes Mal hat sie sich eine andere Einzelheit eingeprägt. Noch heute kann ich mir dieses Haus so lebendig ins Gedächtnis zurückrufen als seien nicht dreißig Jahre vergangen seit jenen Nachmittagen. Woraus ist der Augenblick gemacht? Aus Blei. Nichts ist ihm fremder als federleicht. Über diesem Gedanken, der das Gegenteil der Schwerkraft bedeutet, ist Jenny fast verrückt geworden, aber nur fast.
Dieses Haus.
Sie hat sich dann gezwungen, nachmittags einen anderen Weg einzuschlagen, den entgegen gesetzten. Sie hat es von nun an links liegen lassen, das Haus, in dem du eines Tages wohnen würdest. Bei der nächst besten Gelegenheit hat sie sich von einem kleinen, dicken Jungen küssen lassen und dabei ihren Abscheu ausgekostet vor dem feisten Zungenlappen in ihrer feinen Mundhöhle. Damit ich dir einmal davon erzählen könnte, hat sie ihren Ekel in den großen Topf geworfen. Zu Löwen, Tigerstreifen, Langeweile. Es hat keine Bedeutung, daß eine Sache lange vorbei ist. Das Wort gestern ist ein Lüge. Das Wort vorgestern auch. Alles passiert heute. Jetzt, in diesem Augenblick. Jenny, die an dem Haus vorüber läuft und nicht sieht, daß man heimlich über sie lacht. Bobbie, die sich auf und davon macht. In ihrer grünen Tasche zehn Elefanten aus Holz, Stein und Plastik. Ein bißchen Unterwäsche und ihren Lieblingspullover, ihre Lieblingssocken, ihr Lieblingsnachthemd. Ich bin fort, hat sie auf den Zettel geschrieben, den ihr Vater am nächsten Morgen auf dem Küchentisch findet.
Dort, wo du eines Abends heimlich deine Sachen gepackt hast, ist Jenny hunderte von Male vorübergegangen, weil die Seele einen Ort braucht, um ihren Schmerz daran zu hängen.
An diesem Haus hängen viele Schmerzen. Bobbie hat ihren einfach dazu geworfen. Sie hat es nicht mehr ausgehalten, daß ihr Vater vergessen hat, daß er ihr Vater ist. Zwei Tage hat dein Vater abgewartet. Dann erst hat er die Polizei benachrichtigt.
Am Wochenende bastelt er an alten Motorrädern und trinkt mit seinen Freunden.
Nur seine Hände, Bobbie, nicht? Seine Hände.
Ich selbst hatte ihn, weil ich leiden wollte, wie es in manchen von mir sehr bewunderten Gedichten beschrieben wurde, darum gebeten, sich nicht um das Mädchen zu scheren, das ich war, denn auf solchen Dörfern gibt es genau zwei Möglichkeiten. Die andere ist, du erfindest dir dein eigenes Leben. Oder du haust gleich ab.
Wahrscheinlich heißt du in Wirklichkeit gar nicht Bobbie.
Wenn ich dir meinen richtigen Namen verrate, sagst du mir dann auch deinen?
Aber noch bevor Bobbie mir antworten kann, schaue ich auf die Uhr und sage: Es ist spät geworden, komm, gehen wir schlafen.
Am Sonntag morgen gibt es frische Brötchen für alle. Es hat einmal zufällig angefangen damit, und schnell ist daraus eine Gewohnheit geworden. Sie haben zwar nie richtigen Hunger, aber sie freuen sich trotzdem über die Aufmerksamkeit. Was übrig bleibt, das meiste, kriegen die Tauben und die fetten Spatzen. Vorsorglich besorge ich noch eine Flasche Schnaps. Durst haben sie immer. Und Bobbie? Ist die mal wieder aufgetaucht, frage ich so gleichgültig wie möglich. Keine Ahnung sagen sie. Bobbie kann fliegen, ruft einer.
Ich weiß, sage ich.
Dann wollen sie Geld, und ich gebe ihnen alles, was ich bei mir habe. Wenn ihr Bobbie seht, sage ich zum Abschied, bestellt ihr doch bitte, sie soll sich mal bei mir melden. Ich bin mir ziemlich sicher, daß sie es ihr nicht sagen werden und daß Bobbie meine Telefonnummer längst verloren hat. Es hat alles keinen Sinn. Aber am nächsten Sonntag bin ich doch wieder da, mit frischen Brötchen und Schnaps und soviel Geld, wie ich gerade auftreiben kann.
Das sind meine Nächte.
Gegen Morgen schlafe ich ein. Vielleicht kommt Bobbie mich heute besuchen.
Eigentlich sind meine Nachmittage ganz anders.
Das Mädchen, das ich war, heißt Friederike und hat lange Zöpfe. Es ist ziemlich glücklich, wenn es unter Wasser ist und von den Menschen nur noch deren Beine wie Kaulquappen sieht. Ich tauche nur auf, um schnell Luft zu holen, sonst bleibe ich die ganze Zeit mit aufgerissenen Augen unter Wasser. Einmal finde ich, kurz bevor sie zusperren, auf dem Rasen eine Tauchermaske. Ich lasse sie schnell in meiner Tasche verschwinden, wage es aber nicht, sie jemals aufzusetzen. Ich verstecke die Tauchermaske so lange an verschiedenen Orten, bis ich sie eines Tages nicht mehr wieder finde. Aber da ist der Sommer auch schon vorbei, und ich vergesse die ganze Geschichte. Ich schneide mir mit der Küchenschere die Haare ab und danach kreisrunde Löcher in meine Jeans. Deinen Vater sehe ich manchmal, wenn ich morgens mit dem Fahrrad zur Schule fahre, aber er sieht mich nicht. Aus purer Langeweile zerschneide ich auch noch das Sonntagskleid meiner Mutter in kleine Stücke. Ich stricke mir einen drei Meter langen Schal. Dann habe ich Geburtstag, aber keine Freundin zum einladen. Ich würde der Freundin, die ich nicht habe, gerne einen drei Meter langen Schal stricken, aber die Freundin will nicht. Deinen Vater sehe ich manchmal, wenn ich morgens mit dem Fahrrad zur Schule fahre, aber er sieht mich nicht, denn er hat keine Ahnung, in welchem Stück wir eigentlich spielen. Im Februar schreibe ich ein Gedicht über Schneeglöckchen, das viel dümmer ist als ich. Ich muß aber trotzdem weinen, wenn ich es lese. Ich zerschneide meinen drei Meter langen Schal in kleine Stücke. Der Winter ist vorbei. Deinen Vater sehe ich manchmal, wenn ich morgens mit dem Fahrrad zur Schule fahre, aber er sieht mich nicht. Ich schreibe Reimgedichte über Märzbecher und Krokusse und über Bäume, die ausschlagen. Alle diese Gedichte sind wesentlich dümmer als ich, aber dennoch schäme ich mich nicht für sie. Ab Mai kann man endlich wieder schwimmen gehen. Dem Sommer sind meine Gedichte scheißegal. Am liebsten würde ich meinen alten blauen Badeanzug ebenfalls in kleine Stücke zerschneiden, aber dann kann ich nicht mehr ins Wasser, und so schäme ich mich lieber dreißig Sekunden lang, während ich vom Beckenrand bis zur Liegewiese laufe, um mich so schnell wie möglich unter Handtüchern zu verstecken. Deinen Vater sehe ich dort niemals, außer einmal im Wasser seine Beine und auch die nur ziemlich verschwommen. Ich mache aus seinen stummen Beinen ein etwas weniger dummes Gedicht, das ich umgehend zerreiße. Am Ende des Sommers finde ich endlich eine schöne, blasse Freundin. Deinen Vater sehe ich manchmal, wenn ich morgens mit dem Fahrrad zur Schule fahre, aber er sieht mich nicht, oder er will mich nicht sehen, oder er hat mich längst vergessen oder niemals gekannt. Du kannst dir aussuchen, Bobbie, welche Version der Wirklichkeit dir besser gefällt.
In demselben, hellblau ausgemalten Schwimmbecken hast auch du einige Sommer lang gebadet, und manchmal bist du hier ziemlich glücklich gewesen. Manchmal hast du deinen kleinen Bruder dabei und den ganzen Nachmittag keine Ruhe in deinem hübschen rot-weiß gestreiften Badeanzug. Dein Vater bringt dir das Schwimmen nicht bei, du willst es allein lernen, eigensinnig wie du bist. Als du es endlich kannst, sagst du keinem Menschen etwas davon, nur hast du plötzlich keine Lust mehr, nachmittags schwimmen zu gehen. Sie fragen dich. Es ist nicht so, daß keiner dich fragt, nur hast du keine Lust zu antworten, und so bleibt ihnen nichts anderes übrig, als dich in Ruhe zu lassen. Du bist so hübsch mit deinem glatten dunklen Haar, und alle Mädchen möchten am liebsten deine beste Freundin sein, aber du stößt sie alle vor den Kopf. Sie sollen dich gefälligst in Ruhe lassen. Es ist nicht so, daß du etwas Besseres mit deiner Zeit anzufangen wüsstest, im Gegenteil ist dir oft langweilig, aber sie sollen dich trotzdem in Ruhe lassen, du willst mit ihnen nichts zu tun haben, das ist alles.
Stattdessen willst du reiten lernen, aber niemand soll es dir beibringen. Du willst nicht im Kreis reiten, sondern im Wald. Man überlässt dir einen altersschwachen Gaul, um den es nicht schade ist, und ein paar Wochen klang lang streifst du ziemlich glücklich allein durch den Wald. Doch eines Tages stürzt das Pferd unter deiner Wildheit so unglücklich, daß sie den Tierarzt rufen müssen. Dein Vater verspricht dir ein neues Pferd, aber du lehnst ab. Ein Mädchen, das dich weinen gesehen hat, will deine Freundin werden, aber du lehnst ab. Nur wenn du die Musik so laut stellst, daß du deine eigenen Gedanken nicht mehr hörst, vergisst du dein Entsetzen darüber, daß alles nur zufällig ist und ohne jeden erkennbaren Sinn. Lass uns trinken, sagt einer, lass uns tanzen ein anderer, und dir ist plötzlich alles recht. In deinem Rausch ist keine Unordnung sondern endlich schönste Geometrie.
Wenn man es schafft, daß man sich selbst gleichgültig wird, tut nichts mehr weh, schreibst du in dein Tagbuch. Ich habe diesen Satz gelesen. Du hast ihn zwei Mal dick unterstrichen. Da bist du fünfzehn und ein paar Monate hältst du es noch zu Hause aus. Es ist nicht so, daß dich keiner fragt, nur siehst du keinerlei Veranlassung auf dumme Fragen zu antworten. Deine Augen sind die Augen deines Vaters, über deine Lippen kommt kein Wort, kein zusammenhängender Satz, nicht der Versuch einer Erklärung. Wie kann man euch bitteschön begreifen, dich und deinen Vater? Ein anderer Satz steht in deinem Tagbuch, er lautet, daß es sinnlos ist, einen anderen Menschen verstehen zu wollen, wo man sich selbst doch am allerwenigsten versteht.
So ungefähr habe ich mir deine Geschichte zusammengereimt, während ich sehr langsam, eine nach der anderen, deine Haarspangen und Ohrringe und Stofftiere und Hefte durch meine Hände gleiten lasse, um auf ihnen eine Spur zu hinterlassen.
Ansonsten kannst du dir vorstellen, was sie mir über dich erzählt haben, aber ich habe ihnen kein einziges Wort geglaubt.
Es war nicht einmal besonders schwer, deinen Vater nach so vielen Jahren ausfindig zu machen. Wir stellen uns einander mit Vor - und Nachnamen vor. Er hat meinen Namen noch nie gehört und erinnert sich nur sehr undeutlich an ein Mädchen auf einem Fahrrad. Überhaupt hat er ein sehr schlechtes Gedächtnis, wofür er sich mehrere Male entschuldigt. Das Freibad weiß er aber noch, Bobbie, wo wir in Sommern, jede für sich, annähernd glücklich gewesen sind.
Dein Vater lebt jetzt mit einer Frau, die doppelt so alt wie du und halb so alt wie ich ist. Diese Frau heißt Tanja. Nein, sagt dein Vater, sie heißt nur Tanja, sie hat weder einen zweiten Namen noch einen Spitznamen, und er wundert sich über meine seltsame Frage und über meine Freude darüber, daß endlich jemand in seinem eigenen Namen zu Hause ist. Ich bin sehr glücklich mit ihr, sagt dein Vater, ohne daß ich ihn danach gefragt hätte. Und Bobbie, frage ich.
Bobbie ist nicht zu helfen, aber ich bin mit Tanja sehr glücklich, sagt er, und ich sehe es seinem Gesicht an, daß er gerne gesagt hätte: Was wollen Sie eigentlich von mir?
Aber um deinetwillen spricht er den Satz nicht aus. Tanja kocht inzwischen Kaffee, den wir aus blauen Tassen trinken. Tanja hat ein ebenmäßiges Gesicht, und ihre Hand passt genau in die Hand deines grauen, ein wenig schwerfälligen Vaters.
Dreißig Jahre sind eine lange Zeit, sagt er, als Tanja aufsteht, um die Tassen in die Küche zu bringen.
Nein, gebe ich ihm zur Antwort, dreißig Jahre sind nur so ein Fingerschnipsen. Es ist eine Lüge, daß die Zeit vergeht. Ich bin das Mädchen, das morgens mit dem Fahrrad zur Schule fährt. Ein nicht ganz dünnes Mädchen mit Pickeln auf der Stirn und runden Löchern in ihren Jeans. Jeden Morgen fährt es zur Schule und wartet darauf, daß du es endlich bemerkst. Dieses Mädchen hält nichts von der Theorie des Zufalls. Es will, wie im Märchen, ein Schicksal.
Tut mir wirklich leid, sagt dein Vater, daß ich ein so schlechtes Gedächtnis habe.
Und Bobbie, frage ich.
Bobbie ist nicht zu helfen, sagt dein Vater, aber ich bin mit Tanja sehr glücklich.
Weiß Tanja den Sommer noch, als sie fünfzehn Jahre alt war, frage ich. Aber er versteht meine Frage nicht. Es tut mir sehr leid, sagt er, daß ich Ihnen nicht weiterhelfen konnte.
Weiß Tanja den Sommer noch, oder hat sie in vergessen, wiederhole ich meine Frage.
Es tut mir sehr leid, sagt dein Vater, während er aufsteht und mich zur Tür begleitet, daß ich Ihnen nicht weiterhelfen konnte. Wir haben ein ziemlich schlechtes Gedächtnis, Tanja und ich…
Und grüßen Sie Bobbie von mir, sollten Sie sie einmal treffen. Natürlich kann sie jederzeit…
Ist schon gut, sage ich.
Hast du gehört, Bobbie, ich soll dich von deinem Vater grüßen! Schau, er schickt dir diese Halskette, sie passt zu deinen grünen Augen, dein Vater hat deine grünen Augen nämlich nicht vergessen! (Ich habe die Kette persönlich danach ausgesucht, wie ich mir den erwachsenen Geschmack des Jungen vorstelle, der an Motorrädern bastelt.)
Du kannst dir dein Geschenk jederzeit bei mir abholen. Ich frage dich nichts und bitte dich nicht darum zu bleiben, wenn du nicht willst. Komm doch einfach einmal auf einen Sprung bei mir vorbei!
Oder am Sonntagmorgen. Ich bringe euch Brötchen und Schnaps und Geld. Dann lasse ich euch in alle Himmelsrichtungen davon laufen. Bei mir muß sich keiner bedanken. Habe ich etwa eine Ahnung davon, wie man leben soll? Habe ich euch je versucht zu belehren? Habe ich es jemals gewagt, euch einen guten Rat zu erteilen? Ich trinke mit euch. Ich höre eurem Gerede zu und schweige dazu. Bin kein Beispiel für nichts, daher mein gutes Recht, aus der selben Flasche zu trinken wie ihr.
Hör zu, Bobbie, was deinen Vater betrifft. Sei nicht zu streng mit ihm. Wahrscheinlich liebt er dich. Aber leider hat er auch ein sehr schlechtes Gedächtnis. Und deshalb wird er niemals begreifen, wie die Dinge zusammen hängen. Diese Frau hat ihn in seiner Ruhe gestört. Dreißig Jahre sind eine verdammt lange Zeit. Er hört die Lieder nicht mehr, die sie in jenem Sommer gespielt haben. Er hat diese Frau in ihren schwarzen Kleidern niemals zuvor gesehen und versteht beim besten Willen nicht, was sie eigentlich von ihm will. Ich habe die Blicke von ihm zu Tanja und zurück in den Augenwinkeln erhascht. Nur um deinetwillen hat er mich nicht schon viel früher hinausgeworfen. Tanja hat keinen Hunger auf Kieselsteine. Sie kocht lieber Kaffee, den sie in hübschen blauen Tassen serviert. Bekommt eine Tasse einen Sprung, wirft Tanja das ganze Service in den Müll und kauft noch am selben Tag ein neues in einer anderen schönen Farbe. Kein Zweifel, dein Vater muß den Eindruck erhalten haben, er habe es mit einer Verrückten zu tun.
Aber ich bin nicht verrückt, Bobbie, ich entwirre Fäden.
Wieviele Monate sind vergangen, seit Bobbie und Skelett das letzte Mal hier aufgetaucht sind?
Sie zucken mit den Achseln.
Einmal haben sie Skelett am anderen Ende der Stadt gesehen, mit einer Trommel unter dem Arm, aber ohne Stöcke. Ein anderer hat von der Brücke aus beobachtet, wie die beiden im eiskalten Flußwasser gebadet haben ohne dabei zu erfrieren. Bobbies sehr weiße Haut, sagt er. Bobbies grüne Augen, sagt ein anderer, der die ganze Nacht mit Bobbie in der Falle getanzt hat. Wann war das? Keine Ahnung. Gestern. Vor zwei Monaten, drei Tagen und dreizehn Stunden. Vielleicht war es ja auch gar nicht Bobbie, sondern ein anderes Mädchen. Vielleicht war es ein als Mädchen verkleideter Junge! Ich glaube, er hatte einen blauen Hund dabei!
Bobbie kann fliegen, ruft das Mädchen mit den roten Schuhen dazwischen.
Ich weiß, sage ich und schütte ihnen mein ganzes Geld in die schmutzigen Hände.
Stefanie Golisch 30.05.2006
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