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Aus der Mitte Amerikas
Gedichte aus Zentralamerika und der Karibik
Zusammengestellt von Timo Berger (Teil 1) |
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Mit Gedichten von Alfredo Trejos, Elena Salamanca, Juan Dicent (Teil 1)
Timo Berger hat junge Lyrik aus der Mitte Amerikas und der Karibik zusammengestellt und zusammen mit Sarah Otter übersetzt. Neben der Einleitung werden in einer ersten Folge drei Autoren mit Gedichtbeispielen vorgestellt. Die vollständige Sammlung ist zu finden im Literaturmagazin poet nr. 16.
Mittelamerika, geografisch die Landbrücke zwischen Nord- und Südamerika plus die großen und kleinen Antillen, ist literarisch eine schon länger in Deutschland fast vergessene Region. Das war in den 1980er Jahren anders: Im Zuge der sandinistischen Revolution in Nicaragua fiel der Blick auf die Literatur der Region, die Dichter Ernesto Cardenal und Gioconda Belli wurden auch hierzulande bekannt. Von der folgenden Generation wurden einzelne Werke übersetzt – wie die Romane von Horacio Castellanos Moya oder Rodrigo Rey Rosa. Wo begegnet uns heute Mittelamerika? Man könnte sarkastisch sagen, vor allem im Supermarkt. Neben den Bananen aus den sprichwörtlichen Republiken finden wir Ananas, Kaffee, Kakao.
Doch in den im kontinentalen Vergleich kleinen Ländern gibt es viel zu erschließen. Ein Direktimport neuer Dichtung wäre dringend vonnöten. Die vorliegende Auswahl beschränkt sich auf Dichterinnen und Dichter aus den spanischsprachigen Ländern Zentralamerikas und nimmt zwei Dichter aus der Dominikanischen Republik hinzu. Es sind Dichter, geboren zwischen 1969 und 1986, die auf Festivals wie dem Festival Internacional de Poesía de Granada in Nicaragua oder im Rahmen von Buchmessen wie der Feria Internacional del Libro en Centroamérica (FILCEN) auftreten, die in unabhängigen Verlagen wie Editorial Germinal (Costa Rica), Leteo Ediciones (Nicaragua) oder Catafixia (Guatemala) veröffentlicht werden und in Sammlungen lateinamerikanischer Lyrik Aufnahme finden wie in »Cuerpo Plural. Antología de la poesía hispanoamericana contemporánea«, erschienen 2010 im spanischen Verlag Pre- Textos.
Es wäre verfrüht zu behaupten, die hier Vorgestellten seien vom Rang eines Rubén Darío. Im Rückspiegel sieht man die Zukunft schlecht. Aber es sind Dichterinnen und Dichter, die ein interessiertes Publikum in Zentralamerika »kennt«, Dichterinnen, die sich politisch positionieren wie Mayra Oyuela und Karen Valladares aus Honduras. Beide engagieren sich in dem Künstlerkollektiv »Artistas en Resistencia«, das mit Aktionskunst gegen den Putsch 2009 in Honduras und die Nachfolgeregierung protestiert. Es sind aber auch Dichter wie Frank Báez oder der in New York lebende Juan Dicent, die ihre ironisch-kritische Sicht auf die Gesellschaft in performative Texte packen, die sie bisweilen begleitet von einer Band aufführen – die Nähe zur zeitgenössischen US-amerikanischen Dichtung und der Spoken-Word-Bewegung ist spürbar. Überhaupt hohe Töne, salbungsvolle Worte findet man selten. Und wenn einer wie Javier Alvarado sie dann doch mal im Mund führt, dann um so etwas Alltägliches wie die Zwiebel zu besingen. Auch Heiligenlegenden oder die Verse der ersten lateinamerikanischen Dichterin Sor Juana Inés de la Cruz werden bei Elena Salamanca mal feministisch, mal ironisch gegen den Strich gebürstet. Formal nehmen sich die jungen Dichter Zentralamerikas alle Freiheiten. Die ebenfalls in New York lebende Nicaraguanerin Gema Santamaría erweitert ihre Gedichte transmedial, indem sie zu jedem Text einen Poetry film dreht. Dass man performative Elemente aber auch allein auf dem Papier realisieren kann, beweist wiederum Alfredo Trejos aus Costa Rica mit seinem Brief an die Herren von der Stromgesellschaft in Echtzeit. Wir werden Zeugen eines Gedichts, bei dem die Stimmung von einer Sekunde auf die andere radikal umschlagen kann.
Dass Mittelamerika bunt und vielgestaltig ist, dort mehrere Kulturen und Einflüsse zusammenkommen, wird besonders bei dem Guatemalteken Wingston González deutlich. Er remixt Garifuna, die Sprache der Nachfahren von Afrikanern und Indigenen, und ein Spanisch in fehlerhafter Orthographie. Seine Gedichte sind Predigten, Endzeitvisionen, Liriqueo (der Sprechgesang beim Reggeaton) und Neo-Beat-Poesie.
Die Texte der zentralamerikanischen Dichterinnen und Dichter enthalten aber nicht nur Spuren anderer Kulturen, Frachtgut, das über den Ozean gereist ist, sie sind auch wie die Seile, mit denen die Schiffe vertäut wurden, im besten Fall spannen sie Netze, die ein literarisches Universum mit einem anderen verbinden.
Timo Berger
Dank an Andre Beyer-Lindenschmidt, Léonce Lupette und Sarah Otter
Alfredo Trejos
Alfredo Trejos, geboren 1977 in San José, Costa Rica, ist Drucker, Korrektor und Leiter von Schreibwerkstätten. Von ihm erschienen die Gedichtbände Carta sin cuerpo (2001), Arrullo para la noche tóxica (2005), Vehículos pesados (2010) und Prefiero ver estática (2013). Sein Lyrikband Cine en los sótanos wurde mit dem Premio Nacional de Literatura Aquileo J. Echeverría ausgezeichnet.
Brief an die Herren von der Stromgesellschaft in Echtzeit
I
Lassen Sie mich eins sagen: Sie sind herzlos.
Wenn das alles wäre: Arschlöcher.
Einen schönen Morgen
haben Sie sich ausgesucht, um uns
den Strom zu kappen.
Ich bin fürchterlich verkatert.
Wenn ich mich mit eiskaltem Wasser dusche,
kratze ich ab.
Ich will mir ein Spiegelei braten,
kann aber nicht.
Genau jetzt tritt
die heilige argentinische Nationalmannschaft an
und ich verpasse das Spiel.
Alles liegt in völliger Dunkelheit.
Der Tod sickert durch die Ritzen,
der Einband der Bibel
löst sich auf …
Einen schönen Morgen haben Sie, Würstchen,
sich ausgesucht, um … Moment!
Das Licht geht wieder an.
Schönen Tag noch.
II
Wozu stellen Sie
die Versorgung wieder her?
Warum verbinden Sie, Kabelschneider, uns
mit den grausamen Dingen, die unser harren?
Wir haben Strom, aber kein Leben.
Maradona sitzt so einsam
auf der Bank; er sieht aus wie ein Oger
in den Wäldern von Palermo.
Wieso haben Sie, Funkenverbinder, uns überhaupt
an den Strom angeschlossen?
Ah! So ein ungerechter Endstand …
Nur ein Augenblick und das Denkmal stürzt vom Sockel.
Deutschland vier, das Leben null.
III
Es bringt nichts, sich mit der Nummer Zehn anzulegen,
zu ihm zu sagen: »durchgedrehter Junkie,
wer hat dir gesagt, dass du Trainer kannst?
Du großes Unglück der Sizilianerinnen.«
Der Fernseher springt an mit dem Feuer
eines Elektrogrills,
um Luftschlangen zu verbrennen,
die letzten weiß-himmelblauen Papiere,
traurige Ausweise der Seele.
Herren von der Stromgesellschaft:
Was habe ich mir dabei gedacht,
Ihnen einen guten Tag zu wünschen?
Sie haben es nicht verdient.
Sie wissen nicht, wie man
die Dunkelheit verwaltet.
Übertragen von Timo Berger
Elena Salamanca
Elena Salamanca, geboren 1982 in San Salvador, El Salvador, ist Schriftstellerin und Historikerin. Von ihr erschienen der Erzählband Último viernes (2008) sowie die Gedichtbände Peces en la boca (2011) und Landsmoder (2012). Sie lebt seit 2013 in Mexiko-Stadt.
Sor Juana erbricht das Abendmahl
Hör zu, Juana, dieses Stückchen Brot ist so nahrhaft wie die Erde,
von ihm zehren noch die Kinder und Kindeskinder
deines Leibes, Jesus.
Juana ergibt sich dem Ekel vor der Frucht eines Leibes der
einen Mann gebar, von dem Wasser und Essig tropfte,
sie hält sich die Hände vor den Mund
und krümmt sich in der Küche.
Im frischen Fruchtfleisch erkannte der Schwarze seine Frau
und der Indio fiel vor dem Vogel auf die Knie:
Früher waren sie gleich, lebten auf dieser Erde,
heute darf er ihn nicht mal fliegen sehen:
Der Vogel ist näher bei Gott, sagte man ihm,
du bist es nicht wert, ihn zu sehen.
An diesem Brot klebt das Blut der Vögel und der Früchte,
das geronnene schwarze Blut des Schwarzen
und das vergossene rote Blut des Indios.
Und Juana krümmt sich, hustet,
windet sich angesichts des Brots.
Was ist los, Juana.
Und Juana spuckt:
Spatzen
Goldfische
und zwei Hostien
weiß
wie Papier.
Vom Mythos der Heiligen Thekla
Ein Mann wird um meine Hand anhalten
und ich schlage sie mir ab.
Mir wird eine neue wachsen
und wieder schlage ich sie mir ab.
Der Mann wird denken:
Was für eine vollkommene Frau, ein Baum aus Händen ist sie,
kann die Ziegen melken,
Käse machen,
Kichererbsen kochen,
Wasser vom Fluss holen,
mir Unterhosen stricken.
Aber ich werde weiter meine Hände abschlagen
wenn er mir sagt:
Weib, ich hab um dich angehalten,
jetzt hast du die Ziegen zu melken.
Weib, du bist mein,
schöpf Wasser aus dem Fluss,
bring mir den Käse,
hol mir Wein aus dem Dorf.
Meine Hände werden abfallen wie Blüten
und durchs Land ziehen,
blind.
Sie werden weder die Ziegen melken
noch Wein aus dem Dorf holen,
niemals werden sie seine Unterhosen stopfen
und vor allem
werden sie nie im Leben
seine Hoden liebkosen.
Der Mann wird sagen:
Was für eine böse Frau,
sie ist ein Fluch aus Händen.
Er wird eine Axt holen
und meine Arme abhacken.
Doch es wachsen mir neue.
Dann wird er denken,
der Anfang allen Lebens liegt im Nabel,
und schlägt meinen Körper entzwei.
Meine tausend abgehackten Hände
werden blau anlaufen
und losziehen.
Sie werden den Weizen verdorren,
das Wasser verprassen,
den Fluss austrocknen,
das Gras mit der Wurzel ausreißen,
die Ziegen vergiften,
den Käse.
Und der Mann wird denken:
Was für ein furchtbarer Fluch.
Es gehört verboten, um eine Frau mit eigenem Kopf anzuhalten.
Übertragen von Sarah Otter
Juan Dicent
Juan Dicent, geboren 1969 in Bonao, Dominikanische Republik, ist Schriftsteller. Er veröffentlichte mehrere Gedichtbände, unter anderem Poeta en Animal Planet (2007), Summertime (2006) und den Erzählband Winterness (2012). Dicent betreibt das Blog blogworkorange.blogspot.de und lebt in New York.
Why do poets love to write about broken hearts?
Wir Dichter lieben es, über gebrochene Herzen zu schreiben
Ihr wisst, wie der Hase läuft
Eine Frau zieht nach Barcelona, um Medizin zu studieren
Ein Mann bleibt in Santo Domingo zurück
Alle halbe Stunde hat er eine Panikattacke
Ein Fass ohne Boden.
Und was ist mit den glücklichen Herzen?
Ich bin mir sicher, es gibt sie
Denn ich habe glückliche Männer gesehen
die mit einer telefonierten, die ihre Liebe erwiderte
Man kann es daran erkennen, wie sie
Das iPhone halten
Sweetheart
Mon amour
Verrückte Maus
Principessa
Du scharfes Kätzchen
Sie sprechen ganz zärtlich mit ihnen
Sie sprechen ganz zärtlich mit ihnen
Sie sprechen ganz zärtlich mit ihnen.
Ich habe glückliche Männer gesehen, umarmt von glücklichen Frauen
Sie lächelten, nachdem sie Karten für einen Film mit Sandra Bollock besorgt hatten
Ich habe glückliche Paare beim Candle-Light-Dinner gesehen
Die während eines Schneesturms in einem Restaurant in Soho saßen
Seht sie euch an
Sie füttern sich gegenseitig
Löffel für Löffel
Ti
ra
mi
su.
Warum lieben wir Dichter es, über gebrochene Herzen zu schreiben?
Wir Dichter lieben es einfach, über Enttäuschungen zu schreiben
Scheitern
Selbstmord
Ende
Verzweiflung
Aber ich bin sicher, dass es auch
Ein glückliches Ehepaar geben muss, das gerade heute die letzte Rate
Einer dreißigjährigen Hypothek beglichen hat
Ein glückliches Ehepaar, das eine Kreuzfahrt plant
Zu einem magischen Karibikstrand
Ich weiß nicht, wo dieser Strand liegt
Ich kenne die Koordinaten dieses Strands nicht
Ich kenne den Namen dieses Strands nicht
Aber sie werden sich dort richtig vergnügen
Sie werden dort viel poppen
Werden sehr glücklich sein
Ich hoffe, dass sie dort sehr glücklich sind
Seht sie euch an, sie sind schon wieder zurück
Von der Sonne gebräunt
Sie ist so schön
Ihre Haut glänzt
Sie
glaubt
sie
sei
geschwängert.
WAS, werte Dichterkollegen?
Zu kitschig?
Zu vorhersehbar?
Zu normal?
Aber was wollen wir eigentlich?
Das Leben ist sicher kein Roman von Paulo Coello
Aber auch kein Film von Lars von Tri
von Lars von Tiers
von Lars von Triers
Egal, also der mit dem Antichrist
Der Björk auf dem Gewissen hat.
Übertragen von Timo Berger
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Lyrik-Dossier Zentralmaerika,
Gedichte und Prosa
und sechs Gespräche
zum Thema
Literatur und Rausch
in poet nr. 16
Literaturmagazin
Poetenladen, 2014
240 Seiten, 9.80 Euro
ISBN 978-3-940691-51-4
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Dossier von Timo Berger 11.07.2014
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