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Hugo Dittberner

Das See-Vokabularium

Ein spätes Roadmovie der Achtundsechziger

Kritik
Hugo Dittberner | Das See-Vokabularium   Hugo Dittberner
Das See-Vokabularium
Wallstein Verlag 2010
136 Seiten, 18 Euro


Ginge es Hugo Dittberner in seinem Roman „Das See-Vokabu­larium“ um die Erfül­lung des Plots, wäre die Fabel schnell umrissen. Albert, der Prota­gonist seines Buches, bekommt eines Tages Besuch vom Bruder eines Freundes, der ihm mitteilt, sein Bruder sei vor einigen Jahren ver­schwun­den und wurde unlängst von der Familie für tot erklärt. Torge, so der Name des Bruders, bittet ihn, der Familie die Notizbücher, an denen er schrieb, wenn er mit seinem Studien­freund Rainer unterwegs war, als Erin­nerungs­stücke an den Bruder zu über­lassen. Albert erinnert sich an die Notizbücher, die in einem entle­generen Winkel seines alten Bücher­regals liegen. Er hat sie seit Jahren nicht mehr angerührt, schlägt eines der verstaubten Notiz­bücher, das „See-Voka­bularium“, auf und beginnt, ein paar Wörter daraus vorzu­lesen; doch er zögert, das Notiz­buch Torge zu geben, da es ihm nicht nur eine Erinnerung an den Studien­freund bedeutet, sondern ein Dokument der gemein­sam gegan­genen Wegstrecke darstellt. Während er dem Bruder erklärt, dass nur er und der verschol­lene Freund mit den Notiz­büchern etwas anfangen könnten, fasst er bereits den Ent­schluss, sich vorerst selbst im See-Voka­bularium zu „tummeln“.

Was damit beginnt, ist eine Art Roadmovie, das durch Nord­deutsch­land führt und von den verqueren Augen­blicken und von seiner Situationskomik lebt. Es erscheint einem dabei fast so, als müsse Albert erst die entspre­chenden Menschen, Land­schaften und Erinnerungen aufsuchen, bevor er Torge wenigs­tens eines der Bücher, das „See-Voka­bularium“, guten Gewis­sens über­lassen kann. Zusammen mit seiner Lebens­gefährtin Britta (und dem Stapel der Notiz­bücher) besucht Albert die „Erbtante“ seines Freundes, in der Hoffnung, dort ein anderes Buch, das „Dünenbuch“, welches Rainer einst bei ihm ausge­borgt hat, wieder­zubekommen. Auf dem Weg dorthin geraten sie in ein Gewitter und über­nachten im Künstler­dorf Worpswede bei einer Stipendiatin. Bei der Weiter­fahrt schließ­lich vergisst Albert aus Ver­se­hen das liegen­gelas­sene Notiz­buch bei der Malerin in Worpswede – was der Geschichte im Verlauf des Buches immer neue und über­ra­schende Wendungen beschert.

Der Unterschied zu vielen anderen Romanen der Gegenwartsliteratur (und das ist letztendlich auch der Grund, weswegen man als Rezensent kaum umhin kommt, das Buch von seiner Machart her zu besprechen) liegt an der Art und Weise, mit der Hugo Dittberner an die Gestaltung dieser Geschichte herangeht. Der Romancier leistet sich nämlich auf den NUR 136 Seiten und innerhalb seiner (kurzweiligen!) acht Kapitel eine Genauigkeit, die schon erst einmal durch die Musikalität seiner Sätze besticht. Dazu kommt, dass sich Dittberner beim Schreiben buchstäblich durch die imaginären Stich­wort­kata­loge des See-Vokabu­lariums arbeitet und die Möglich­keit, Asso­ziations­räume zu schaffen, auf sein gesamtes Voka­bular ausdehnt. Ein einmal gefun­denes Zauber­wort gibt quasi dem nächsten schon die Klinke in die Hand, sie bestimmen zu einem gewissen Teil den Ablauf des Buches mit, halten den Roman in Gang, durch die Dialoge hindurch, die vom Tonfall her zwischen Ironie und Selbstironie pendeln, bis hin zu den Beschrei­bungen, die durch ihre Bild­lichkeit hin und wieder die Qualität einge­streuter Gedichte mitbringen.

Ein Aspekt, der mir in diesem Zusammen­hang wichtig erscheint, ist die Tatsache, dass ein zweiter und anderer Gedanken­gang das Assozi­ieren und Kombinieren beim Schreiben dieses Buches ganz sicher beeinflusst hat. Denn was eine Vokabel zur Vokabel macht, ist in erster Linie ihre relativ punkt­genaue Übertrag­barkeit in eine andere Sprache. Bei der Über­tra­gung künstle­rischer Texte (in andere Sprachen oder aus einer anderen Sprache) ist nur eben die Genauig­keit so eine Sache. Jede gespro­chene Sprache ist ein lebendiger Körper, der ständig im Fluss ist, der neue Bedeutungen schnell absorbiert; und auch die Subjek­ti­vität dessen, was ein Übersetzer aus seinem Blickwinkel für genau hält, führt dazu, dass eine Reihe von Texten immer wieder neu in andere Sprachen oder aus anderen Sprachen übersetzt werden. Sobald ein Schriftsteller dann innerhalb seiner Mutter­sprache mit seltenen und nicht überall bekannten Wör­tern arbeitet, die regional gebunden sind, keine privaten Sprach­schöp­fungen darstellen und am jeweiligen Ort zum üblichen Vokabular gehören, kann jedes dieser unge­wöhn­lichen Worte bei der Über­tragung in ein für viele ver­ständ­liches Idiom zu einer echten Heraus­forderung werden. Was in diesem Fall meint: Hugo Dittberner erzeugt an der ein oder anderen Stelle mit seinem Vokabular Ausleuchtungen einzelner Wörter, die wie Ver­suchs­anord­nungen wirken, denen man besonders gern folgt, weil sie den Roman offen halten.

Wäre dieses Buch ein Gedichtband, würde ich unverhohlen sagen, der Autor lässt seine Worte wie flache Steine genussvoll über das Wasser springen und zählt mit, wie oft sie (Steine = Worte) auf dem Wasser aufsetzen, bevor sie darin verschwinden. Doch wir haben es mit einem Roman zu tun. Man verweilt beim Lesen fast unmerklich mit, wo eine dieser Sentenzen entsteht, die so viel aussparen wie sie zu trans­por­tieren vermögen. Ganz ohne Zweifel gehört „Das See-Voka­bularium“ zu den angenehmen und sinn­lichen Momenten in der deutschen Gegenwartsliteratur. In der Sparte Roman ist es vielleicht sogar das späte Roadmovie der Achtund­sechziger, und das um so mehr, je weniger es Hugo Dittberner darauf angelegt hat, ihn zu schreiben. Dem Buch wäre zu wünschen, unter den Neuerscheinungen des Jahres mit zu den Best­sellern zu gehören. Die kurze An­moderation des Wallstein Verlages hält in der Tat, was sie dem Leser verspricht. „Ein Buch über Freundschaft, die Vokabeln des Meeres und den Norden Deutschlands: zart, diskret, voller Poesie.“
Tom Pohlmann   22.04.2010   
Tom Pohlmann
Lyrik