Das Cover des neuen Gedichtbands von Ron Winkler ziert ein Gemälde des britischen Künstlers Christopher Winter mit dem Titel Daytripper im Stil der sog. Neuen Leipziger Schule. Man sieht vor einem Gebirgspanorama, wie Alpen, eine monströs wirkende Idyllik, vor der zwei jugendliche Gestalten, ein Mädchen und ein Junge, im Zentrum des Bildes über einer Bergwiese schweben. Im zweiten Moment könnte man sie für vermeintliche Suizidanten halten vor einem stark klischierten Hintergrund. Die Ästhetik des Bildes wirkt auf eine befremdliche Weise künstlich und insofern verstörend, dass dem Bild als Ausschnitt – welcher Wirklichkeit auch immer – scheinbar jegliche Tiefe fehlt. Das Motiv des Schwebens, u.a. bei Marc Chagall noch visionär besetzt, wendet sich hier für das Auge des Betrachters in ein lähmendes Entsetzen. Die beiden Figuren schweben mit geschlossenen Augen auf der Stelle – wie in einem kalten Rausch – in einer frenetischen Stille der Dissoziationen? Man möchte fast trotzig meinen: die Stille als Ort meditativer Einkehr gibt es nicht mehr, zumindest in besiedelten Gebieten. Und in den Metropolen ist die Stille wohl mittlerweile undenkbar geworden. Von einem veränderten Begriff der Stille ausgehend, gut fünf Jahrzehnte nach John Cages Silence und dem popmusikalischen Timbre von Simon & Garfunkel (The Sound of Silence) wundert es kaum, dass Ron Winkler im Titel seines neuen Werkes die Stille in ein Gegensatzpaar verwickelt hat. Man möchte fast trotzig meinen in Anbetracht der immerwährenden elektrischen Schwingungen in der Luft, müsste man die reine Stille mieten können und mit ihr auf der hauseigenen Yacht vor St. Tropez hinausfahren aufs Meer ... Aber zur Winklerschen Stille bzw. ihrer Frenetik: sie findet sich auf Seite 88 des nämlichen Bandes in dem Gedicht „nach den Erlkönigen“. Hier im Zusammenhang von „irregulärer Natur“. Ohne zuviel verraten zu wollen, irregulär ist hier das Pendant zu regulär, im Sinne von regulärem Kaffee. Den erhält man in global-uninspirierten Gaststuben auf Bahnhöfen, in Innenstadtbereichen und Malls. „nur / dass wir keine Saugnäpfe besaßen / war ein Problem. wie gut / hätten wir sonst die Entropie zu reapieren vermocht.“ Wie schön selektiv, wie selektiv schön die Apokalypsen doch sind, die uns erreichen. Zum Glück gibt es posthumoristische Nachfahren mit untergründigem Witz wie Ron Winkler, der seinem poetischen „Flying Circus“ im Sinne jener wunderbaren Welt der Schwerkraft sonnenenergetische Flügel verleiht. Haftete seinen Gedichten in den beiden Bänden zuvor etwas (geschmacklich ausgereift) Delikatessenhaftes bzw. Feingeschliffenes an, so findet man in Frenetische Stille weitaus größere sprachliche Aufrauhungen und grobkörnigere Bildwelten. Gleiches gilt für die Denk-und Sprechfiguren, die in ihren Reflexen und Reflektionen zu stärkeren Ausschlägen neigen. „wir spürten die Mischung / aus Revolte und Parkplatz. spürten das / Potenzial der Geisha-Chicas so, wie wir / ihre Schmauchspuren spürten. tief / in uns selbst, wo 17-Fronten- Zwei Richtungen scheinen deutlich zu werden: eine gewisse linguistische Ruhelosigkeit im Winklerschen Werk und der stärkere Einfluss gewisser überseeischer poetischer Drogen. Letzteres muss auch in der Beschäftigung Ron Winklers mit der nordamerikanischen Gegenwartslyrik begründet liegen. In einer Vielzahl von Übertragungen und Nachdichtungen, die ihren zwischenzeitlichen Höhepunkt in der beeindruckenden Anthologie Schwerkraft (Jung und Jung, 2008) fand, die er herausgab. Seitdem hat sich sein Blick fokussiert auf metropolitane Dichtung. Fanden sich in Fragmentierte Gewässer (Berlin Verlag, 2007) deutliche Spuren von Rudimenten des Naturgedichts, die Winkler in hohem Maße ironisch-süffisant verabschiedet hat, so sind im neuen Werk Kühe und andere (halb) tierische Freaks Großstädtebewohner geworden. Freaks wie „die verschiedenen obdachlosen Sloterdijks“, die man sich vor dem Cartier- oder Appleladen vorstellen muss. Konzessionslose Fruchtfleischdesigner, die der Dichter in Urbanitätsreservaten gescoutet hat für das Gegenwartsgedicht. Denn schließlich geht es an die Blutbank- und Liegewiesenreserven. Ron Winkler weiß das: „bitte tank noch einmal leer. vom Trost, / den der Leser braucht.“ Allenthalben sind Winklers Gedichte für Fünfsternelyrik-Leser tröstlich in dem Sinn, dass sie auch „zungensprachliche Liebesabenteuer“ sind. Ihre Berücktheit entspringt dem unbedingten Willen zu gedanklicher Luzidität. Sie erhellen sich und den Leser ohne kassenärztliche Zahnbrücken. Sie kommen ganz ohne geistige Stützstrümpfe und Einlagen aus. Das Spiel mit den sprachlichen Hintergründigkeiten bleibt jedoch an einigen Stellen ein schwieriges. Wenn Ron Winkler die „Bewohner der Zukunft“ in seinem mit Freud betitelten Gedicht „elfisch fremde Borderline- Gewiss: den Sprachoptimisten- und halbwegs Naiven in der deutschsprachigen Lyrik bleibt Ron Winkler um Jahrzehnte voraus. Hier haben wir Dichtung im Zeitalter der Globalisierung, die zwischen hoher Konzentration und lustvoller Abschweifung changiert. In poetischen Entwürfen, die Verwirrung stiften und Klarheit evozieren. Denn trotz aller möglichen Fachsprachen- und Fremdsprachenregister, die Winkler auf irritierend gekonnte Weise in eine Mixtur aus Bauhaus-Stühlen und darauf posierenden Dubuffet-Schafen verwandelt, wissen diese Texte um ihr sinnliches Potenzial. Es sind niemals Trockentexte oder Staubsaugergebrauchsanweisungen. Im Gegenteil: am Ende bleiben in kristallinen Überzuckerungslofts Froschsubjekte zurück, die gleichfalls geküsst werden wollen. Und, für die Nachwelt muss zum Glück nicht gesorgt werden. Auch Kritiker und Betriebswirtschaftler verfügen über sogenannte Erleuchtungspools und Abendmahlreserven. Bon Appetit! „wir lebten laboristisch weiter. in den Sommerhäusern / unserer Synaptikclubs. gut, wer über Vignetten / für Clownstunnel verfügte.“ Ron Winklers poetisches Œuvre hat sich mit Frenetische Stille um ein weiteres Glanzlicht fortgeschrieben im Sinne von Schönheit als Evidenz. Schönheit als Weltverständnis.
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Tom Schulz
Lyrik
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