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Forever young!
Das Gedicht im 39. Jahrhundert

Von Tom Schulz


Das ist alles so trostlos in unserem Deutschland. Weiß Gott, ich liebe Kaiser und Reich mit meinem ganzen Herzen, aber die Erbärmlichkeit der Deutschen, mit der sie ihre paar (gegen die Millionen schrecklicher Dilettanten) wirklichen Dichter behandeln, empört mich immer von neuem.
Immer nur die Modedichter sind es, die gelesen werden, diese saft- und kraftlosen Kerls.
Detlev von Liliencron

Noch ist es das Schweigen, das Quelle und
Vorbedingung von Lyrik wie Musik ist.
Michael Hamburger


I

In der zeitgenössischen deutschsprachigen Lyrik wurde in den letzten Jahren vieles gesichtet, gesammelt und empor gehoben, dass sich stringent mit dem Begriff der Jugend verband. Man hat vieles unter dem Etikett „jung und neu“ bewundert, junge Dichterinnen und Dichter, oft verwirrt ob der Dimensionen von Anspruch und Wirklichkeit. Oftmals waren uns jüngere Frauen, Jünglinge oder Adonisse lieber als dickbäuchige Herren mit Schnauzbart jenseits der sechzig bzw. jene Damen des fort­geschrit­tenen Mittel­alters. Warum eigentlich?
Das Preisen des Adoles­zenten entspricht den Standards einer Medien­gesell­schaft, die uns gern das Unverbrauchte zeigt, die frischen Gesichter, die sogenannten Ent­deckungen, die noch nicht integrierten oder verein­nahmten Talente. Wie schön ist es, mag man denken, dass aus dem Jung sein immer wieder ein strah­lender Entwurf, gemischt mit der Sehnsucht nach diesem und jenem, zu Tage tritt. Es ist so schön, dass ich mir wünsche, alle Menschen würden jung sterben, Dichterinnen und Dichter vor allen anderen.
Und: Die wir bewundert haben, von den meisten von ihnen ist in gut einem Jahrzehnt beinah die ganze jugend­liche Schönheit gewichen; geblieben ist ein Ähnlicher werden mit einem Menschen­alter, das von diesen und jenen Spuren gezeich­net ist: saturiert, verzweifelt oder einfach nur schmerzlich. Um all dieses Jung sein, das wir so gern stilisieren, ranken sich, was das lyrische Jetzt angeht, das sich nach und nach auflöst wie eine Alka Seltzer, Gedichte und Geschichten, die heute bereits so gut wie vergessen sind.
Kann man das schlecht finden?
In einem Kommen und Gehen, sind jene geblieben, die auf ihre Art tüchtig sind, geschäfts­tüchtig oder selbst­süchtig, und jene gegangen, die nach der Flamme der reinen Kunst griffen und sich die kleinen Finger verbrannt haben an einem schwach lodernden Docht.
Natürlich hat sich vor allem das Mediokre mani­festiert, denn Mediokrität bedeutet Ausdauer, Fleiß und Anpas­sungs­fähigkeit.
Eine Unfähigkeit und Unwillig­keit zur Kritik, die sich vieler­orts breit gemacht hat, verweist auf eine Generation der manisch Kreativen, die alles erdulden, nur eines nicht: Widerspruch gegen ihr Tun und Lassen.

Andererseits: Dichtung, die aus ihrer Zeit ragt in andere Jahr­hunderte, hat kein Alter. Wie heißt es so treffend: die Toten bleiben jung, und die Gedichte der früh Vollen­deten am Leben. Was überdauert schon, könnte man fragen oder ein­wenden. Nichts oder wenig noch. Es hat sein Gutes, es wird makuliert und in den Papier­müll geworfen. Es wird Platz gemacht für immer wieder in kühlen Nächten Ungereim­tes oder am hellen Tag herbei Gesprochenes. An das Ende muss man nicht sehen, es sei denn man heißt Wilhelm Busch. Es gibt kein Ende, es gibt in Reispapier Gewickeltes und Baumfrösche.
Solange es Menschen gibt, die sich die Mühe machen, mit Worten etwas Unkon­ventionelles oder Verrücktes anzu­stellen, muss einem nicht bange sein um die lyrische Verwicklung der Süßkirsche mit dem Horseradish oder der Knall­erbse mit dem Meister Floh.
Bedenklich eher ist die Gesellschaft: Sie ist wie ein hoch betagtes Brot oder der Mond. Maliziös und mit einer harten Leber ausgestattet. Sie liebt weitaus eher den gepressten Dung, aus dem sie Geld spinnt, als die schöne Leier, die Lyra. Was soll ich noch singen, mag sich die Nachtigall denken, dann tanze ich eben! Wen kennt das Volk der Dichter: Podolski oder Hoffmannswaldau? Wie man hinein ruft, schallt es heraus: Schnauze!
Der Dichter, jahrhundertelang ein Aussatz der Gesellschaft, heutzutage ist er im besten Falle ein aus­gehal­tener Sonder­ling, menschen­scheu und immer im Zwie­gespräch mit sich selbst. Er ist nicht Mitglied im Automobil­club, sondern in der Künstler­sozial­kasse; er erhält keine Vergünstigungen und Bonus­meilen, doch hofft er auf einen Ehrensold oder den Gnaden­schuss. Manchmal hält man ihn für einen Parvenü oder einen Blender, oft zu Unrecht, denn der Dichter kauft seine Brötchen nicht an der Diesel-Jeans­tankstelle. Lebens­umstände hat er, die oft schwer zu fassen sind. Schwierige Zeiten liegen hinter ihm, er blinzelt in das Licht der Alpen, trotz allem will er es wagen, die Likörgläschen zum Klingen zu bringen! Gewiss er hat ein paar Freunde auf Lebens­vermitt­lungs­platt­formen, denen er Fotos zeigt. Er wird getagged und ab und zu postet er ein Wort zum Wochentag. Das ist alles.
Warum schreibe ich dies, was der Spatz all hier am ersten schon vom Dach pfeift, was die Taube über ihm längst weiß?

II

Immer wieder habe ich mich gegen jenen Satz wehren wollen, dem von den dümmsten Bauern und den größten Kartoffeln. Jetzt, nach soundso vielen Jahren bin ich ratlos deswegen, denn die Klügsten bestel­len nur noch ein Feld für sich selbst. Dummheit kann man auf Kredit kaufen mit einem Zinssatz von Null auf Hundert.
Die strahlenden Beispiele gegen­wärtiger Dichte­rinnen und Dichter; von denen es weiß Gott einige gibt unter den vielen Ruderern der Armada; ihre Leucht­kraft beschränkt sich fast ausnahmslos auf ihr Profil und die Seitenansicht. Auch sie haben zumeist den Faden der Ariadne verloren oder ihn nicht aufgenommen; sie sind Einzel­unternehmen mit keiner Haftung für irgendetwas.
Ihre Kunstübungen sind von stupender Art, doch meistens ohne Ausrichtung, ohne die Idee einer wahrhaft humanen Kondition. Empfinden äußert sich vornehmlich in Ironie und Kühle; eine ethische, moralische oder politische Haltung gilt als verpönt.Anstelle einer rettenden Schönheit hat sich eine Form von coolem Ästhe­tizismus entwickelt wie ein Wurmfortsatz.
Zum Glück ist dies wenig beklagenswert, und wenn ich es doch tue, dann eingedenk der Epochen deutschsprachiger Dichtung, die mir aus der Ferne erstrebenswert und ernst, um das Leben ringend und nicht dieses verhöhnend, vorkommen. Ich möchte mich von der Gegenwart abwenden, würde ich sie nicht selbst bevölkern; so bleibt mir kein Ausweg, als mit den Staren zu singen, ein Gesang, der zu nichts nutz ist und mir gefällt, betend zum Hanf und zu den Laternen, verbittert womöglich am Ende mit dem Gedanken an den verlorenen Stolz eines Volkes auf seine Dichterinnen und Dichter.
Wir leben in der Armut der Empfindungen, was die Kunst betrifft; das wenige Schöne mildert unseren Schmerz an manchen Tagen. Doch vielleicht ist auch dies nur eine Placebowirkung.

So wenig ist schön, doch dem Schönen gebührt alles.


III

Man wird jetzt Namen* von mir hören wollen, Hoffnungs­träger(innen), nämlich die* der Erleuchteten und Umleuchteten. Die von einem Ablass versehenen, der von einer kleinen Riege gewährt wird, einem elitäreren Kreis, der sich gern gegenseitig versichert, zum Höchsten hiesiger Kunst und Kultur zu zählen. Der Teil eines ausge­höhlten Systems ist, das Karrieren vor allem aus Eigennutz fördert und aus Ignoranz vernichtet. Doch wen interessiert das, und mich selbst wohl am wenigsten, wenn ich es recht bedenke?
Glücklich sind die, die zum Vergessen neigen, dass sie auf Kosten anderer leben, die nicht die Hand in etwas hatten, das dunkel war.
Indes der Betrieb ist oft gemein, kurzatmig und schaut auf den schnellen Erfolg: Fastfood geht über die solitäre Beere. Denk ich nachts an Verlage oder Anstalten, träume ich nicht länger: In meinen Träumen kommen keine Meistersinger vor, keine Denkmäler, kein rotes Sofa, keine Honorationen.
Sehe ich einen Teil der Dichter und Dichte­rinnen hierzulande an, erschreckt mich zuweilen ihr Gleichmut. Sie leben wie Robinson auf einer Insel. Sie denken sich: wenn Freitag doch endlich kommen möge. Es kommt Freitag und sie trinken Rotwein mit Cola. Dann fühlen sie eine Verspannung im Nacken, sie sind apolitisch und asexuell, Etepetete und immer steif. Dann gehen sie nach Hause und löschen das Licht.

Nun, es wird doch erlaubt sein, die Hand auszuschlagen, die den Hund ernährt! Wer gehört nicht einer Maschinerie an, die das geistige Eigentum zur Ware erhoben hat? Die Literaturkritik, sofern es sie gibt, die Rudimente des Feuilletons, die künstlerischen Berater und Agenturen?
Dieses System bedin­gungsloser Effizienz und barba­rischer Ökonomie wird sich weiter verschleißen auf Kosten des Erbes einer langen Tradition, die darin bestand, dass Kunst etwas von Wider­ständig­keit besaß und besitzt, dass sie nicht um jeden Preis den herr­schenden Institutionen und ihrer Vertreter gefallen will.Und: Die ihre schön geistige Traditionslinie verlassen haben, die einstmals darin bestand, ein Volk zur Mensch­lich­keit zu bilden durch Kunst und minimale Moralia, ihnen ist wohl kaum mehr zu helfen – ach was.
Natür­lich gibt es noch Nischen, hier und da, auf dem langen Flur und vor lauter Eigensinn könnte man behaupten, es sei dort etwas los; ja es ist etwas los: eine andere Form von (Selbst) Ausbeutung und Illusionierung.

Anderer­seits: Das nachmoderne Leben, es ist zu anstren­gend geworden für kognitive Bereit­schaft bei der Lektüre. Der permanente Leistungs­druck in allen Bereichen des Lebens, Arbeit Partner­schaft Familie Haushalt, hat dazu geführt, dass ein Erwachsener heutzutage durch­schnitt­lich das Leseniveau eines zwölf­jährigen besitzt. Statt klassischer Literatur liest der Erwachsene Krimis, Fantasy, Nacken­beißer, Schundromane aller Art, Lebens­berichte von Politikern und Groß­industriellen. Auf einhundert Tausend Bahn­reisende, so habe ich in langen Studien ermittelt, kommt gerade noch ein potenzieller Proust-Leser!
Von Poesie bzw. Gedichtbänden nicht zu reden. Den Tränen nahe, gestehe ich, den letzten Menschen mit einem Gedichtband habe ich auf einer Insel vor Neufundland gesehen … Es war ein Wilder, wie man früher gesagt hätte, und er hatte einen Bart wie Archimedes!

IV

Vielleicht nützt es, sich Gedichte unter das Kopfkissen zu legen. In Nächten, in denen einzig der Mond einen anschaut. Gedichte von Gertrud Kolmar und Karoline von Günderrode, von Marianne Moore oder Elizabeth Bishop. Man sollte Bettine von Arnim nicht vergessen, Else Lasker, Anna Achmatowa. Oder die Droste, wenn der Mond feind­selig werden sollte. Verse der Englischen Romantik könnten hilfreich sein, sogar Klopstock oder Brentano. Tröst­lich sind die Ver­wand­lungen von Ovid. Emily Dickinson hilft immer, wenn der Mond bereits im Zimmer ist, voll wie das kenternde Boot.
Wenn der Mond anfangen sollte, die letzten Zigaretten, die man besitzt, auf­zu­rauchen, greife man zum Barock. Der Mond hat ein Loch in den Boden geraucht. Sind dies bereits erste Halluzinationen?
Einer der beiden Schlegel könnte Abhilfe schaffen, Freund Heine oder doch Oswald von Wolken­stein? Ich ziehe Mechthild von Magdeburg vor, höre ich den Mond sagen. Der Mond rollt durchs Zimmer, reißt die Schrank­wand mit den Blüm­chen­tassen mit sich. Dylan Thomas, zur Rettung. Bitte. Ganze Jahr­hunderte reißt der Mond mit sich aus den Regalen. Animus hilf. Heiliger Mandelstam zu Hardenberg von Lohenstein!

V

Das Gedicht im 39. Jahrhundert wird eine Art Schlafbrille sein, ein herun­ter­geladener Lehr­film sonniger Nächte. Gedichte wird man nicht mehr lesen, sondern sie als ein bewußt­seins­erwei­tern­des Programm auf einen Neben­speicher­platz des Kopfes (unab­gesicher­ter Modus) legen. Ein Höl­derlin­vers wird über Hirn­ströme über­tragen werden und eine Fülle von Reizen auslösen. Reize wie ein Denken in den Maßen einer Sternen­karte aus Sehn­suchts­gründen. Empfin­dungen ein­geflüs­ter­ter Worte, die dem Tanz der Delphine gleichen.
Jugend, die allezeit ein Element der Poesie war, ist und sein wird, auf ihrer inneren Barri­kade, einem Baum voll noch nicht ganz und gar legali­sierter Früchte, soll etwas blühen, dass sich einem Establishment (der Bornier­ten und Satten) ent­gegen­stellt. Etwas das, pathe­tisch ausge­drückt, brennen will oder sogar verbrennen. Es gilt, wieder einen Konsens zu finden, der Dichtung mit dem magi­schen Moment der Suche, des Auf­bruchs ver­bindet. Eine Reise um alle mögli­chen Welten, vor allem den imaginären.
Letztend­lich geht es auch um einen Rest­funken Sub­version und zwar nicht allein aus ethi­schen und mora­lischen, sondern aus ästhe­tischen Gründen.
Um Dichtung, voll verrücktem Pathos und einer Unbe­dingt­heit, Wildheit und Zärt­lich­keit, mit bunten Fischen, Korallen und Muschel­bänken, mit lang gestreckten Dünen und Regen­pfeifern. Einem Watt, auf dem der Meeres­spargel wächst, die Ess­schalen­algen; wo Krebse und Schlangen züngeln, jene mit dem heilenden Biss.
Dichtung, voll trau­ernder Lianen und Leguane, voller Sehnsucht nach einer Welt, die verloren ist. Die verloren schien. Auf der Suche nach dem ver­sunkenen Kontinent, nach Atlantis. Auf der Suche nach dem achten Blau des Himmels, nach dem Grund zu leben. Den Wogen, den Wellen: um ins Meer zu gehen. Um Meer zu sein.
Tom Schulz   07.03.2011   

 

 
Tom Schulz
Lyrik