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Forever young!
Das Gedicht im 39. Jahrhundert Von Tom Schulz
Das ist alles so trostlos in unserem Deutschland. Weiß Gott, ich liebe Kaiser und Reich mit meinem ganzen Herzen, aber die Erbärmlichkeit der Deutschen, mit der sie ihre paar (gegen die Millionen schrecklicher Dilettanten) wirklichen Dichter behandeln, empört mich immer von neuem. I In der zeitgenössischen deutschsprachigen Lyrik wurde in den letzten Jahren vieles gesichtet, gesammelt und empor gehoben, dass sich stringent mit dem Begriff der Jugend verband. Man hat vieles unter dem Etikett „jung und neu“ bewundert, junge Dichterinnen und Dichter, oft verwirrt ob der Dimensionen von Anspruch und Wirklichkeit. Oftmals waren uns jüngere Frauen, Jünglinge oder Adonisse lieber als dickbäuchige Herren mit Schnauzbart jenseits der sechzig bzw. jene Damen des fortgeschrittenen Mittelalters. Warum eigentlich? Das Preisen des Adoleszenten entspricht den Standards einer Mediengesellschaft, die uns gern das Unverbrauchte zeigt, die frischen Gesichter, die sogenannten Entdeckungen, die noch nicht integrierten oder vereinnahmten Talente. Wie schön ist es, mag man denken, dass aus dem Jung sein immer wieder ein strahlender Entwurf, gemischt mit der Sehnsucht nach diesem und jenem, zu Tage tritt. Es ist so schön, dass ich mir wünsche, alle Menschen würden jung sterben, Dichterinnen und Dichter vor allen anderen. Und: Die wir bewundert haben, von den meisten von ihnen ist in gut einem Jahrzehnt beinah die ganze jugendliche Schönheit gewichen; geblieben ist ein Ähnlicher werden mit einem Menschenalter, das von diesen und jenen Spuren gezeichnet ist: saturiert, verzweifelt oder einfach nur schmerzlich. Um all dieses Jung sein, das wir so gern stilisieren, ranken sich, was das lyrische Jetzt angeht, das sich nach und nach auflöst wie eine Alka Seltzer, Gedichte und Geschichten, die heute bereits so gut wie vergessen sind. Kann man das schlecht finden? In einem Kommen und Gehen, sind jene geblieben, die auf ihre Art tüchtig sind, geschäftstüchtig oder selbstsüchtig, und jene gegangen, die nach der Flamme der reinen Kunst griffen und sich die kleinen Finger verbrannt haben an einem schwach lodernden Docht. Natürlich hat sich vor allem das Mediokre manifestiert, denn Mediokrität bedeutet Ausdauer, Fleiß und Anpassungsfähigkeit. Eine Unfähigkeit und Unwilligkeit zur Kritik, die sich vielerorts breit gemacht hat, verweist auf eine Generation der manisch Kreativen, die alles erdulden, nur eines nicht: Widerspruch gegen ihr Tun und Lassen. Andererseits: Dichtung, die aus ihrer Zeit ragt in andere Jahrhunderte, hat kein Alter. Wie heißt es so treffend: die Toten bleiben jung, und die Gedichte der früh Vollendeten am Leben. Was überdauert schon, könnte man fragen oder einwenden. Nichts oder wenig noch. Es hat sein Gutes, es wird makuliert und in den Papiermüll geworfen. Es wird Platz gemacht für immer wieder in kühlen Nächten Ungereimtes oder am hellen Tag herbei Gesprochenes. An das Ende muss man nicht sehen, es sei denn man heißt Wilhelm Busch. Es gibt kein Ende, es gibt in Reispapier Gewickeltes und Baumfrösche. Solange es Menschen gibt, die sich die Mühe machen, mit Worten etwas Unkonventionelles oder Verrücktes anzustellen, muss einem nicht bange sein um die lyrische Verwicklung der Süßkirsche mit dem Horseradish oder der Knallerbse mit dem Meister Floh. Bedenklich eher ist die Gesellschaft: Sie ist wie ein hoch betagtes Brot oder der Mond. Maliziös und mit einer harten Leber ausgestattet. Sie liebt weitaus eher den gepressten Dung, aus dem sie Geld spinnt, als die schöne Leier, die Lyra. Was soll ich noch singen, mag sich die Nachtigall denken, dann tanze ich eben! Wen kennt das Volk der Dichter: Podolski oder Hoffmannswaldau? Wie man hinein ruft, schallt es heraus: Schnauze! Der Dichter, jahrhundertelang ein Aussatz der Gesellschaft, heutzutage ist er im besten Falle ein ausgehaltener Sonderling, menschenscheu und immer im Zwiegespräch mit sich selbst. Er ist nicht Mitglied im Automobilclub, sondern in der Künstlersozialkasse; er erhält keine Vergünstigungen und Bonusmeilen, doch hofft er auf einen Ehrensold oder den Gnadenschuss. Manchmal hält man ihn für einen Parvenü oder einen Blender, oft zu Unrecht, denn der Dichter kauft seine Brötchen nicht an der Diesel-Jeanstankstelle. Lebensumstände hat er, die oft schwer zu fassen sind. Schwierige Zeiten liegen hinter ihm, er blinzelt in das Licht der Alpen, trotz allem will er es wagen, die Likörgläschen zum Klingen zu bringen! Gewiss er hat ein paar Freunde auf Lebensvermittlungsplattformen, denen er Fotos zeigt. Er wird getagged und ab und zu postet er ein Wort zum Wochentag. Das ist alles. Warum schreibe ich dies, was der Spatz all hier am ersten schon vom Dach pfeift, was die Taube über ihm längst weiß? II Immer wieder habe ich mich gegen jenen Satz wehren wollen, dem von den dümmsten Bauern und den größten Kartoffeln. Jetzt, nach soundso vielen Jahren bin ich ratlos deswegen, denn die Klügsten bestellen nur noch ein Feld für sich selbst. Dummheit kann man auf Kredit kaufen mit einem Zinssatz von Null auf Hundert. Die strahlenden Beispiele gegenwärtiger Dichterinnen und Dichter; von denen es weiß Gott einige gibt unter den vielen Ruderern der Armada; ihre Leuchtkraft beschränkt sich fast ausnahmslos auf ihr Profil und die Seitenansicht. Auch sie haben zumeist den Faden der Ariadne verloren oder ihn nicht aufgenommen; sie sind Einzelunternehmen mit keiner Haftung für irgendetwas. Ihre Kunstübungen sind von stupender Art, doch meistens ohne Ausrichtung, ohne die Idee einer wahrhaft humanen Kondition. Empfinden äußert sich vornehmlich in Ironie und Kühle; eine ethische, moralische oder politische Haltung gilt als verpönt.Anstelle einer rettenden Schönheit hat sich eine Form von coolem Ästhetizismus entwickelt wie ein Wurmfortsatz. Zum Glück ist dies wenig beklagenswert, und wenn ich es doch tue, dann eingedenk der Epochen deutschsprachiger Dichtung, die mir aus der Ferne erstrebenswert und ernst, um das Leben ringend und nicht dieses verhöhnend, vorkommen. Ich möchte mich von der Gegenwart abwenden, würde ich sie nicht selbst bevölkern; so bleibt mir kein Ausweg, als mit den Staren zu singen, ein Gesang, der zu nichts nutz ist und mir gefällt, betend zum Hanf und zu den Laternen, verbittert womöglich am Ende mit dem Gedanken an den verlorenen Stolz eines Volkes auf seine Dichterinnen und Dichter. Wir leben in der Armut der Empfindungen, was die Kunst betrifft; das wenige Schöne mildert unseren Schmerz an manchen Tagen. Doch vielleicht ist auch dies nur eine Placebowirkung. So wenig ist schön, doch dem Schönen gebührt alles. III Man wird jetzt Namen* von mir hören wollen, Hoffnungsträger(innen), nämlich die* der Erleuchteten und Umleuchteten. Die von einem Ablass versehenen, der von einer kleinen Riege gewährt wird, einem elitäreren Kreis, der sich gern gegenseitig versichert, zum Höchsten hiesiger Kunst und Kultur zu zählen. Der Teil eines ausgehöhlten Systems ist, das Karrieren vor allem aus Eigennutz fördert und aus Ignoranz vernichtet. Doch wen interessiert das, und mich selbst wohl am wenigsten, wenn ich es recht bedenke? Glücklich sind die, die zum Vergessen neigen, dass sie auf Kosten anderer leben, die nicht die Hand in etwas hatten, das dunkel war. Indes der Betrieb ist oft gemein, kurzatmig und schaut auf den schnellen Erfolg: Fastfood geht über die solitäre Beere. Denk ich nachts an Verlage oder Anstalten, träume ich nicht länger: In meinen Träumen kommen keine Meistersinger vor, keine Denkmäler, kein rotes Sofa, keine Honorationen. Sehe ich einen Teil der Dichter und Dichterinnen hierzulande an, erschreckt mich zuweilen ihr Gleichmut. Sie leben wie Robinson auf einer Insel. Sie denken sich: wenn Freitag doch endlich kommen möge. Es kommt Freitag und sie trinken Rotwein mit Cola. Dann fühlen sie eine Verspannung im Nacken, sie sind apolitisch und asexuell, Etepetete und immer steif. Dann gehen sie nach Hause und löschen das Licht. Nun, es wird doch erlaubt sein, die Hand auszuschlagen, die den Hund ernährt! Wer gehört nicht einer Maschinerie an, die das geistige Eigentum zur Ware erhoben hat? Die Literaturkritik, sofern es sie gibt, die Rudimente des Feuilletons, die künstlerischen Berater und Agenturen? Dieses System bedingungsloser Effizienz und barbarischer Ökonomie wird sich weiter verschleißen auf Kosten des Erbes einer langen Tradition, die darin bestand, dass Kunst etwas von Widerständigkeit besaß und besitzt, dass sie nicht um jeden Preis den herrschenden Institutionen und ihrer Vertreter gefallen will.Und: Die ihre schön geistige Traditionslinie verlassen haben, die einstmals darin bestand, ein Volk zur Menschlichkeit zu bilden durch Kunst und minimale Moralia, ihnen ist wohl kaum mehr zu helfen – ach was. Natürlich gibt es noch Nischen, hier und da, auf dem langen Flur und vor lauter Eigensinn könnte man behaupten, es sei dort etwas los; ja es ist etwas los: eine andere Form von (Selbst) Ausbeutung und Illusionierung. Andererseits: Das nachmoderne Leben, es ist zu anstrengend geworden für kognitive Bereitschaft bei der Lektüre. Der permanente Leistungsdruck in allen Bereichen des Lebens, Arbeit Partnerschaft Familie Haushalt, hat dazu geführt, dass ein Erwachsener heutzutage durchschnittlich das Leseniveau eines zwölfjährigen besitzt. Statt klassischer Literatur liest der Erwachsene Krimis, Fantasy, Nackenbeißer, Schundromane aller Art, Lebensberichte von Politikern und Großindustriellen. Auf einhundert Tausend Bahnreisende, so habe ich in langen Studien ermittelt, kommt gerade noch ein potenzieller Proust-Leser! Von Poesie bzw. Gedichtbänden nicht zu reden. Den Tränen nahe, gestehe ich, den letzten Menschen mit einem Gedichtband habe ich auf einer Insel vor Neufundland gesehen … Es war ein Wilder, wie man früher gesagt hätte, und er hatte einen Bart wie Archimedes! IV Vielleicht nützt es, sich Gedichte unter das Kopfkissen zu legen. In Nächten, in denen einzig der Mond einen anschaut. Gedichte von Gertrud Kolmar und Karoline von Günderrode, von Marianne Moore oder Elizabeth Bishop. Man sollte Bettine von Arnim nicht vergessen, Else Lasker, Anna Achmatowa. Oder die Droste, wenn der Mond feindselig werden sollte. Verse der Englischen Romantik könnten hilfreich sein, sogar Klopstock oder Brentano. Tröstlich sind die Verwandlungen von Ovid. Emily Dickinson hilft immer, wenn der Mond bereits im Zimmer ist, voll wie das kenternde Boot. Wenn der Mond anfangen sollte, die letzten Zigaretten, die man besitzt, aufzurauchen, greife man zum Barock. Der Mond hat ein Loch in den Boden geraucht. Sind dies bereits erste Halluzinationen? Einer der beiden Schlegel könnte Abhilfe schaffen, Freund Heine oder doch Oswald von Wolkenstein? Ich ziehe Mechthild von Magdeburg vor, höre ich den Mond sagen. Der Mond rollt durchs Zimmer, reißt die Schrankwand mit den Blümchentassen mit sich. Dylan Thomas, zur Rettung. Bitte. Ganze Jahrhunderte reißt der Mond mit sich aus den Regalen. Animus hilf. Heiliger Mandelstam zu Hardenberg von Lohenstein! V Das Gedicht im 39. Jahrhundert wird eine Art Schlafbrille sein, ein heruntergeladener Lehrfilm sonniger Nächte. Gedichte wird man nicht mehr lesen, sondern sie als ein bewußtseinserweiterndes Programm auf einen Nebenspeicherplatz des Kopfes (unabgesicherter Modus) legen. Ein Hölderlinvers wird über Hirnströme übertragen werden und eine Fülle von Reizen auslösen. Reize wie ein Denken in den Maßen einer Sternenkarte aus Sehnsuchtsgründen. Empfindungen eingeflüsterter Worte, die dem Tanz der Delphine gleichen. Jugend, die allezeit ein Element der Poesie war, ist und sein wird, auf ihrer inneren Barrikade, einem Baum voll noch nicht ganz und gar legalisierter Früchte, soll etwas blühen, dass sich einem Establishment (der Bornierten und Satten) entgegenstellt. Etwas das, pathetisch ausgedrückt, brennen will oder sogar verbrennen. Es gilt, wieder einen Konsens zu finden, der Dichtung mit dem magischen Moment der Suche, des Aufbruchs verbindet. Eine Reise um alle möglichen Welten, vor allem den imaginären. Letztendlich geht es auch um einen Restfunken Subversion und zwar nicht allein aus ethischen und moralischen, sondern aus ästhetischen Gründen. Um Dichtung, voll verrücktem Pathos und einer Unbedingtheit, Wildheit und Zärtlichkeit, mit bunten Fischen, Korallen und Muschelbänken, mit lang gestreckten Dünen und Regenpfeifern. Einem Watt, auf dem der Meeresspargel wächst, die Essschalenalgen; wo Krebse und Schlangen züngeln, jene mit dem heilenden Biss. Dichtung, voll trauernder Lianen und Leguane, voller Sehnsucht nach einer Welt, die verloren ist. Die verloren schien. Auf der Suche nach dem versunkenen Kontinent, nach Atlantis. Auf der Suche nach dem achten Blau des Himmels, nach dem Grund zu leben. Den Wogen, den Wellen: um ins Meer zu gehen. Um Meer zu sein.
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