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Valeri Scherstjanoilauter scherbenLautpoesie im Zeichen der Melancholie
Kritik
Das Buch von Valeri Scherstjanoi ist Ausstellungskatalog und Chronik. Die Gedichte, Prosaskizzen und Lautpartituren, die er in lauter scherben versammelt, lassen sich als Blätter eines übergeordneten, nicht ausgeschriebenen Textes lesen, als Autobiographie in aufblitzenden Fragmenten, Scherben eben. Allen Texten, und wahrscheinlich am vordergründigsten den Lautpartituren, scheint das Autobiographische als Geste eingeschrieben zu sein. Denn obwohl Scherstjanoi viel erzählt über sein Leben, etwa die Jugend im sowjetischen Krasnodar, oder uns mitlesen lässt, wenn er in Briefform das Gespräch sucht mit verstorbenen Dichterfreunden oder poetologischen Stifterfiguren, scheint die Prosa von lauter scherben es weniger auf Anekdoten abgesehen zu haben, als vielmehr Schlüssel bereitzuhalten, um in den Lautblättern und Gedichten des Buchs auf die Suche zu gehen nach dem mystischen Körper des Dichters. Den Ort, an dem man diesen Dichter finden könnte, nennt Scherstjanoi selbst Lautland. Wer kein Dichter sein könne, schreibt Scherstjanoi, der müsse in die Heimat zurück. Hinzufügen könnte man in der Umkehrung, dass der folglich heimatlose Dichter seine Heimat an den Schuhsohlen mit sich trägt, denn sie ist sozusagen nicht von dieser Welt. Lautland, das ist Stimme und Gedächtnis, eine Topographie, die sich auf einer Karte ins scheinbar Unendliche auszuweiten scheint. Um den Dichter Kurt Schwitters rankt sich eine Mythe, die davon erzählt, dass auf der norwegischen Insel Hjertøya Stare Teile von Schwitters Ursonate intonieren, auch heute noch, viele Jahre nach seinem Tod. Schwitters hatte in den 30ern dort in einem Häuschen gelebt. Auf dem fast menschenleeren Eiland hatte Schwitters seiner Leidenschaft für das Rezitieren im Freien ohne weiteres nachgeben können. Dort, so erzählt die Mythe weiter, konnte man Schwitters in einem Baum sitzen sehen und seine Ursonate üben hören. „In der Krone einer alten Kiefer am Strande von Wyk auf Föhr hörte ich Schwitters jeden Morgen seine Lautsonate üben. Er zischte, sauste, zirpte, flötete, gurrte, buchstabierte.“ In dieser vom Inselbesucher Hans Arp kolportierten Begebenheit fällt es nicht schwer, den im Baum sitzenden und übenden Dichter mit dem Vogel zu identifizieren, der Jahrzehnte nachher Teile der Dichterstimme reproduziert. Und tatsächlich scheinen Vögel wie die Stare von Hjertøya sich dafür anzubieten, aus ihnen ein Sinnbild des Lautdichters zu machen, denn die Imitationsfähigkeit ihrer Stimmen reicht bis in die banalsten Zivilisationsgeräusche. So versucht ein Singvogelmännchen sich von anderen abzuheben, indem es Motorengeräusche, Handyklingeln oder Bremsenquietschen in seinen Gesang einbaut. Vor dieser Hintergrundgeschichte lässt sich Scherstjanois Lautland zunächst als Landschaft aus gefundenen Klängen und Geräuschen verstehen, würde man dabei nicht einen wesentlichen Bestandteil seiner Poesie unterschlagen. Was der Dichter hört, aber auch was er sieht, imitiert er nicht bloss, er setzt es in eine Geste um, in die sich etwas anderes mischt, er selbst nämlich. Das betrifft ihn als den Interpreten seiner Texte, aber auch als ein denkendes und fühlendes Wesen, das sich zu seiner Umwelt verhält. Wie, das ist über die Stimme des Dichters hörbar und lässt sich anhand der von Scherstjanoi entwickelten Schriftzeichen auch sehen. „Das scribentische Alphabet besteht aus ca. 70 Zeichen, mehr als jedes europäische Alphabet.“ Jedes dieser Schriftzeichen dokumentiert, was in dem Sprechapparat des Dichters geschieht. Schriftlich fixiert können wir Scherstjanois „Mundwerk“ sehen und die Schnörkel, Striche, Notationen und geschwungenen Linien der Handschrift mit den Augen nachvollziehen als Gesten der Hand, die die Laute, zwischen Zeichnung und Schrift in Zeichen überträgt. Für den Dichter wäre das die Lautpartitur und für uns eine Zeichnung. In einem Text („Die Buchstaben und die Schrift“) leitet Scherstjanoi, was man salopp die Lust am Schreiben nennen würde, von zwei Motiven ab. Das Stadtkind Valeri ist begeistert von den Lichtern der Stadt, ihren Leuchtreklamen, den „großen, hellen und bunten Neonlampenbuchstaben: ZIRKUS! HERZLICH WILLKOMMEN! CAFÉ. LIMONADEN. SPARKASSE. Die Buchstaben tanzten, leuchteten, sprangen, jubelten!“ Dagegen ist das Lernen von Buchstaben für den Schuljungen Musterschreiberei, Schreiben unter Druck und dem Zwang fremder Regeln. Beide Erfahrungen schüren auf je eigene Weise die Schreiblust, beide veranschaulichen einen inhaltlichen und einen formalen Aspekt. Denn zum einen regt der kindliche Blick auf die Buchstaben, wie sie die Welt bebildern, die Fantasie an, ihnen Sinn zu verleihen jenseits der profanen Schulbuchbedeutung, auch wenn sie eigentlich nicht deutbar sind. Gleichzeitig stellt das stupide Nachschreiben von Buchstaben und Worten formal gesehen einen inhaltslosen Raum dar, in den die Fantasie während des Schreibens Einzug halten kann. Für den jungen Valeri scheint dieser Aspekt des Schreibens den besten Rückzugsort geboten zu haben. „Ich musste lernen anders zu sein. Ich sitze im Dunkeln und sehe meine Handschrift leuchten, das Papier schwebt im Raum.“ Die leuchtende Handschrift von der Scherstjanoi hier spricht, darf durchaus allegorisch gedeutet werden, denn die „illuminierte“ Seite verweist auf den quasi-liturgischen Zusammenhang von Laut, Schrift und Körper. Im Rückblick auf diese Schreiberfahrung im Dunkeln mit ersten Gedichten, inszeniert er die Ursituation seines Schreibens als Bewusstwerdung des jungen Valeri. Zu den Allgemeinplätzen über „avantgardistisch“ oder „experimentell“ apostrophierte Literatur gehört es, dieser Traditionszerstörung oder sogar Traditionslosigkeit zu unterstellen. Ironischerweise reichen die Traditionen einer solchen Literatur und Kunst in den meissten Fällen weiter, als die Tradition sogenannter traditionsverbundener Künstler und Autoren. Der Treppenwitz, wenn man so will, bestünde also darin, dass experimentelle Literatur und Kunst den Rahmen dessen was man Literatur oder Kunst nennt zwar sprengt, nicht jedoch, um sie an ihre Grenzen zu treiben. Das Ziel bestünde eher darin, dem Leben und der Welt einen lebendigen, nicht erstarrten Ausdruck zu verleihen. Für uns als Leser bedeutet das, dass wir keinen nach Plan gebauten Texten oder Bildern begegnen, eher Partituren, aus denen heraus das Wort lebendiges Fleisch wird, zu einem Teil der realen Welt, und wo der die Buchseite sprechende Körper zum Zeichen wird. Bei Dichtern wie Hugo Ball, Kurt Schwitters oder Henri Chopin ist das so, oder eben bei Valeri Scherstjanoi. Schließlich reicht ihre Tradition weit über das 20.Jahrhundert hinaus, bis in die Zeit mittelalterlicher Mönche, für die Schrift und Welt nicht voneinander losgelöst gedacht werden konnten. Der von Scherstjanoi gegen Ende von lauter scherben zitierte Ausspruch von Carlfriedrich Claus darf daher programmatisch gelesen werden: „Ich begreife das Leben als Experiment…Die Wirklichkeiten, mit denen ich biologisch, psychisch, sprachlich, sozial in Wechselwirkung bin, erscheinen aus fremdem Licht. Von ihm her bestimme ich mein Verhältnis zu ihnen, zu mir neu.“ An dieser Stelle dürfte deutlich werden, dass Biographie, wie sie in lauter scherben auftritt, nicht als Fundgrube für Anekdoten missverstanden werden darf. Stattdessen ist Biographie wie sie sich wiederspiegelt in Gedichten, Skizzen oder Lautpartituren, das was den Text macht, die Geste einer Körper-Haltung von Leben geprägt. Bleibt zu hoffen, dass die im Titel enthaltenen Scherben nicht Überreste einer zerschlagenen Welt und eines zerschlagenen Lebens andeuten, dessen Totemfigur der Hund Majakowskis ist, von allen das melancholischste Tier. Und zu wünschen, dass diese Scherben Bauklötze von etwas Neuem bleiben, einem nie endenden Anfang.
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