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Adam Schwarz
Der Rückgang der Wüsten
Tripadvisor bewertete die Aussicht vom Warschauer Kulturpalast mit 4 von 5 möglichen Punkten. Nicht atemberaubend also, aber ganz schön als Hintergrund für Vertragsabschlüsse. Der Insektenhändler schloss das App und vergrub die Hände in den Anzugtaschen. Die Gesellschaft hatte Gehringer nach Warschau beordert, um 500 Kilo senegalesischer Grashüpfer an ein Restaurant im Pragaviertel abzusetzen, Lebendware. Sagten sie dem Betreiber zu, waren regelmäßige Lieferungen ausgemacht. Nun, da die Einzelphase des Produkts vorüber war – Gehringer hatte die Farm selbst besucht – konnte die Schwarmphase einsetzen. Der Markt ahnte nicht, was für erstklassiges Eiweiß da auf ihn zukam.
Er sah auf die Uhr. Sein Geld sollte bald kommen. Es war bereits halb drei, der Besitzer des Restaurants hatte ihn um Viertel nach auf der Aussichtsplattform im einunddreißigsten Stock treffen wollen. Die Aussicht begann ihn zu langweilen, also schlich er ins Warme zurück. Im Foyer hatte irgendeine NGO eine Ausstellung über die Gefährdung der Wüsten eingerichtet. In einem Glaskasten hatte man Kunstsand aufgehäuft, den zwei Lämpchenreihen durchzogen, eine rote und eine grüne. Die rote war weiter oben und stellte dar, wie weit sich die Sahara in den kommenden Jahrhunderten zurückziehen würde, wenn die Heuschreckenjagd nicht reguliert würde. Ziemlich überspannt. Neben dem Kasten stand eine Plexiglaskollekte. Die Münzen darin waren auf einen Blick zu zählen.
Er spürte, wie ihm jemand auf die Schulter tippte. Und, haben Sie bereits Ihren Beitrag zur Redesertifikation geleistet, Herr Gehringer? Es war der Kunde. Er lächelte mit dem Mund. Der Mund war schmal, wie bei einem Kriegsdenkmal, und unter dem buschigen Schnurrbart kaum zu sehen. Komische Kleidung trug er außerdem, eine weiße Jacke mit goldfarbenen Knöpfen, aber das war nicht Gehringers Sache. Der Kunde reichte ihm die Hand, wobei er den Arm starr ausstreckte. Gehringer schüttelte sie die obligaten drei Sekunden lang. Gehen wir nach draußen, bemerkte er. Der Kunde nickte. Sie traten auf die Ostseite. Am Hotelkomplex gegenüber zeigte ein Werbebildschirm eine Frau, die mit einer gelben Boa constrictor Tango tanzte. Die Kamera zoomte auf ihr Gesicht, sie lächelte. Eine Aufschrift erschien: Boa Cometics. Tame the snake. Das Lieblingsparfüm meiner Frau, sagte Gehringer, einige Details aus seinem Leben würde den Verhandlungen eine persönlichere Note verleihen. Der Kunde schnäuzte sich in ein Papiertaschentuch. Das enthält aber Schildlauspulver, sagte er. Gehringer lächelte halbseitig und nickte. Sollte der Kerl doch von sich selbst glauben, dass ihn die artgerechte Insektenhaltung kümmerte. Sein Geld sprach eine andere Sprache. Der Kunde rieb sich die Nase und sagte: Verziehen Sie, wenn ich unhöflich wirke. Dann wies mit er mit dem Daumen über die Schulter Richtung Ausstellungsraum. Aber der Wüstenrückgang geht uns alle etwas an, und der Grashüpferschwund ist eine der wichtigsten Gründe dafür. Gehringer dachte an das Pint nachher im Bulldog Pub an der Jerozolimskie, da schlug ihm der Kunde mit den Knöcheln in den Oberarm und fragte ihn laut, ob er ihm zuhöre. Das konnte man gerade noch als freundschaftlich durchgehen lassen. Gehringer wich etwas zurück und rang sich ein Lächeln ab. Der Andere fabulierte weiter, wie die Städte schrumpften und die Wälder wuchsen. Das Insektenproblem hätte sich inzwischen auf Europa ausgedehnt. Dagegen müsse man sich organisieren. Schwärme bilden. Dann schwieg er. Verkehrsgeräusche waren von unten zu hören. Der Kunde schnäuzte sich erneut. Gehringer wies darauf hin, dass ihre Bratlinge das Gütesiegel erhalten hätten. Der Kunde ging nicht darauf ein. Vielmehr erklärte er die Soziale Distanz zwischen ihnen beiden mit einer Handbewegung für nichtig und trat so dicht auf Gehringer zu, dass dieser einen Schritt zurücktat und in einen roten Rollkragenpullover taumelte. Die Frau darunter beschimpfte ihn auf Polnisch.
Meine Schwester, stellte der Kunde fest. Der Insektenhändler machte eine nervöse Drehbewegung und die Frau packte seine Hand. Echanté, sagte sie. Dann übergab sie an ihren Bruder, der Gehringer bei der Schulter in die kleine Bar führte und zwei Zywiecs aus dem Barkeeper herauslockte, mit dem er anscheinend bekannt war. Die beiden setzten sich an die Theke. Gehringer entspannte sich ein wenig.
Wenn das so weitergeht, wird es bald kein Bier mehr geben. Dann hocken wir alle in unseren Hütten im Urwald. Die Arbeitsteilung ist eine der besten Erfindungen, die uns Menschen mit den Insekten verbindet. Die dürfen wir nicht gefährden, sagte der Kunde, wobei einige Speicheltropfen in seinem Glas landeten und in der weißen Schaumkrone versanken. Gehringer strich sich die Falten aus dem Jackett. Wovon reden Sie?
Von den Feinden der Gesellschaft.
Der Gesellschaft oder der Gesellschaft?
Sie glauben wohl, dass die Gesellschaft die Gesellschaft sei, sagte der Kunde. Gehringer nahm ein großen Schluck, weil er nicht sicher war, was er darauf antworten sollte. Das Bier war kühl. Am liebsten hätte er das Glas an sein Ohr gehalten und gelauscht. Stattdessen sagte er: Kommen wir zur Sache, Herr Pradzynski. Genug Politik. Der Kunde nahm einen langen Schluck. Er ließ die Flüssigkeit von Backe zu Backe schwappen. Dann wischte er sich den Mund trocken. Das ist nicht mein Name, sagte er.
Gehringer öffnete die Aktentasche und zog die Papiere heraus. Missmutig nahm er hin, dass seine Hand dabei zitterte. Er sah auf den Namen des Vertragspartners. Pradzynski, sagte er. Das steht hier so.
Mag sein. Aber eigentlich bin ich Stalin.
Verzeihung?
Josef Stalin.
Hilfesuchend sah sich Gehringer im Raum um. Der Barkeeper polierte einen Zapfhahn und schien nicht hingehört zu haben. Die Schwester nickte ihm aufmunternd zu und strich ihr Haar zurück.
Josef Stalin der II. – Gehringer sah auf den roten Teppichboden. Für einen Moment sprach niemand. Der Barkeeper putzte die Tische in der Bar. Da ihm nichts anderes übrigblieb, lachte Gehringer schließlich. Na gut, Herr Stalin. Mir solls Recht sein. Hauptsache, sie überweisen das Geld. Er schob dem Mann den Vertrag zu. Die Schwester setzte sich auf den Stuhl links von ihm, was Gehringer aber nur aus den Augenwinkeln bemerkte, weil er Stalin beobachtete, der einen schwarzen Füllfederhalter hervorgenommen hatte, den er schüttelte, um dann eine Unterschrift auf den Bogen zu schmieren. Dabei beugte er sich dicht übers Papier und murmelte, er sei gestern Abend zum dritten Mal in Folge zum besten Stalindoppelgänger ernannt worden am Imitatorentreffen, das jährlich hier im Kulturpalast stattfände. Gehringer sah ihn. Das erklärte die weiße Jacke. Wenn ich das Kostüm anziehe, sagte Pradzynski, gibt es keinen Pradzynski mehr. Eigentlich hat's nie einen gegeben. Ich könnte mich auch Beethoven nennen, aber ich sehe nun einmal wie Stalin aus. Namen sind Schall und Rauch, wir sind alles dieselben Käfer. Er sah vom Blatt auf und starrte Gehringer an. Da draußen gibt es noch viele Stalins.
Ein Hobby meines Bruders, erklärte die Schwester.
Ein schönes Hobby, hörte Gehringer die eigene Stimme.
Nicht nur ein Hobby, sagte Stalin. Eine Lebensart. Mehr als Nachahmen können wir Menschen ja nicht. Er wies vage nach draußen in Richtung der zahlreichen Büroblöcke. Sie haben unsere Straßen schon gesehen. Und erst die Bienenstöcke aus Stahl und Glas. Alles von den Insekten geklaut. Und jetzt behandeln wir sie so. Er nahm noch einen Schluck. Ich würde ja keine Heuschrecken anbieten, sagte er. Aber all die anderen Restaurants in der Gegend machen das auch. Da hat man keine Wahl, vorerst.
Gehringer missverstand den Ernst hinter diesen Sätzen, wie er später feststellen musste. Dabei heißt es, die sollen die Welt beherrschen, wenn wir gegangen sind, sagte er launig. Scheint, als beherrschten sie bloß unsere Speisezettel. Er versuchte ein Lachen, aber es war bereits tot, als es auf die Welt kam. Die Schwester legte ihm eine Hand mit roten Nägeln auf die Schulter und hielt ihn fest. Vergessen Sie Ihr Bier nicht, Herr Gehringer. Er nickte, legte das Glas an die Lippen und trank hastig, wie damals in der Verbindung. Es fühlte sich eisig an in der Kehle.
Sie werden mir nachher die Lieferung übergeben, ja?, fragte Stalin. Gehringer ließ die Finger über die eigene Brust gleiten und in der Jackettinnentasche verschwinden. Ein schwarzer Schlüssel kroch hervor. Gehringer zappelte damit durch die Luft, als wollte er einem Hund einen Knochen zuwerfen. Die Lieferung wartet am Bahnhof und mein Chauffeur draußen auf dem Parkplatz, sagte er mit ungewohnt schwacher Stimme. Aus irgendeinem Grund tränte er dabei. Die Flüssigkeit leckte dermaßen aus seinen Augen, dass er Stalin bloß noch verschwommen wahrnahm. Sein Herz schlug ziemlich schnell. Die Schwester schien in ihrer Handtasche nach etwas zu suchen. Jemand – Stalin? – stand auf und schrie, nun sei es soweit. Gehringer spürte er etwas Kaltes am Hinterkopf. Es war nicht das Bierglas, es war eine Pistole, die auf einmal in der Hand der Schwester lag. Er hörte, wie Stalin ihn anbrüllte. Es klang, als stünden sie in einer großen Höhle, bis zu den Schenkeln im Wasser. Her mit dem Schlüssel!, schrie Stalin. Gehringers Handfläche streckte sich langsam dem Kunden entgegen, wie eine Schnecke, die die Fühler ausstreckt. Die Heuschrecken werden fliegen, schrie die Schwester. Darauf wurde ihm mit einem stumpfen Gegenstand auf den Kopf geschlagen. Er fiel vom Hocker und auf den Teppichboden. Auf dem Rücken liegend sah er, wie Stalin und seine Schwester mit ihrer Waffe herumfuchtelten und ausgewählte Parolen durchgaben. Befreit die Wüsten! Befreit die Städte! Es leben die Insekten! Dann sah er, wie sie Richtung Lift stürmten. Schreie waren zu hören. Gehringer tastete nach seinem Portemonnaie. Sie hatten es ihm nicht genommen, immerhin. Er sah, wie der Barkeeper in die Knie ging und die Hand auf seine Stirne legte. Scopolamin im Bier, sagte der Barkeeper. Immer dieselbe Masche. Dann wurde es dunkel.
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