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Andreas Heckmann
Kindheitsflecke
1     Die Dinge liegen voller Verzweigungen namenlos da. Sie glänzen, sie riechen, sie haben Haut und Kanten. Ihre Farben verändern sich in der verwunderten Hand. Durch sie geht ein Zusammengehören wie durch Wasserpflanzen im Fluss. Ich bin ein Fisch und gleite durch grüne Tentakel. Ich suche die Nähe der Dinge, wünsche mich in sie hinein. Aufgenommen werden, verschwunden sein, verzweigt und verschwistert mit allem.

2     Im Kindergarten gibt es den Hagebuttentee aus abge­wetzten, ein wenig durch­sichtigen Plastiktassen, von deren Griff sich manchmal Späne abziehen lassen. Viele rosa Tassen gibt es und grüne, auch gelbe, glaube ich. Und es gibt die dunkel­blaue Tasse, begehrt und ersehnt. Aus der dunkelblauen Tasse zu trinken heißt, ein König zu sein. Undenkbar, dass darin Tee sein könnte – sondern ein geheimnisvolles, nie genossenes Getränk.

3     Die Schaukel schwingt ins Grüne und lässt die Sonne pendeln. Der Mäher braust über den Rasen und lässt nur eine Fläche zurück, vom Löwen­zahngelb übersät. Erdbeeren stehen in Reihen und reifen im mulligen Boden: Rücken­schmerzen beim Pflücken und verstaubte Fruchtporen. Erst die gebadeten Beeren glitzern.

4     Gedränge im Bus, miefige Feuchtigkeit und der Blick ins Dunkel der nassen Scheibe: das gespiegelte Gesicht und die Lichter der Autos und Ampeln. Auf dem Schoß sitze ich und schaue auf die Werbetafel neben der Vordertür: Langsam läuft die Reklame weiter, steht dann still. Ein Taxi-Unternehmen wirbt um all die stummen Fahrgäste mit müden Augen, die hier zusammengedrängt sind, die Hände in den Schlaufen zur Decke gereckt. Dann Zigaret­ten­reklame, Strumpfhosen namens elastex. Die tiefgrünen, dicken Kunstlederpolster mit schwarzem Schlierenmuster, der vibrierende Diesel, das Getöse der achtfach scharnierten Tür, die beim Halten aufspringt, als wolle sie sich verbeugen und zugleich den Ein- und Aus­steigenden beschleu­nigende Tritte versetzen.

5     Jedes Frühjahr setzt mein Vater die Wäschestangen in ihre Fundamente, was wie die Obstbaumblüte die Ankunft des Sommers verbürgt. Die Segel der im Garten trocknenden Wäsche und ihr von der Brise geschwungener Schatten im Gras. Dazwischen umhergehen, die Nase an feuchtem Stoff, der waschpulverfrisch riecht, dann an sonnen­warmem Stoff, aus dem die Sauberkeit papierdünn quillt. Zwischen der Wäsche Gartenaus­schnitte: Kontrast von Kirschblüte und weißen Laken.

6     Eines Tages rückt der Grundschulleiter Wiggers, ein großer, sportlicher Mann mit schlohweißem Haar und schon weit über 60, zum Beweis seiner Kraft und Gesundheit und aus reiner Lebensfreude zwei Bänke vor seinem Pult näher zusammen, lässt einige Klassen­kameraden zum Beschweren sich draufsetzen und macht ächzend und mit hoch­rotem Kopf einen Handstand, dass seine Hosenbeine zu den Knien rutschen und sein Schlips im schnaufenden Atem tanzt.

7     Die kratzigen, weinroten Teppichfliesen in meinem Zimmer mit ihrer Unterseite aus dunkelgrauem, gerilltem Kunst­stoff. Sie sind nicht verklebt, und zwischen ihnen ist ein wenig Spiel. Manchmal liege ich bäuch­lings auf dem Boden, hebe sie an und blicke auf den hell­grauen Estrich. Überhaupt fasziniert die Wohnungs­welt von unten: die Holz­beine der Sessel im Wohnzimmer, die sich in den Teppich einge­graben haben; das Innenleben der Sitzflächen, wie es sich dem indis­kreten Blick vom Boden her offenbart; die Fransen des Teppichs auf dem roten Linoleum. Schlägt man den Teppich um, ist er nicht weich und farbig, sondern zeigt eine raue, grauweiße Sisalstruktur.

8     Zwei kaum genutzte Räume, von denen einer im Erdgeschoss, der andere im Dachgeschoss liegt, hießen früher Fremdenzimmer, obwohl sie nie ein Fremder betreten, geschweige denn dort übernachtet hat. Kam meine Großmutter zu Besuch, schlief sie im Fremden­zimmer oben, kamen meine Tante und mein Onkel, so schliefen sie im Fremdenzimmer unten. Ich frage mich, ob Großmutter und Tante als Fremde galten oder ob diese Zimmer für unbekannte Gäste gedacht waren, die nie kamen. Heute heißt das Fremden­zimmer unten Klavierzimmer, das Fremdenzimmer oben Bügelzimmer. Wenn ich sie betrete, glaube ich, ins Reich jener Fremden einzudringen, auf die meine Eltern noch immer warten.

9     Schlaglöcher wollen schnittig umfahren oder beim Bremsen mit dem Vorderrad eben erreicht werden. Der Regen verbirgt ihre Tiefe, macht ihren Rand zum Steilufer eines Sees, dessen Wasser vom Mittelpunkt der Erde kommt.

10     Das leise Klappern der Dachgauben­schindeln in der Nacht, das mit dem Wind zwar aus­dauernder, doch kaum lauter wird. So rütteln Gespenster nicht am Haus. Selbst flatternd und im Sturm pochend, geben die Schindeln noch zu verstehen, dass sie mich behüten, während sich die Hausecken schon mit dem Sturm zum Geheul verbündet haben.

11     Wenn ich mich abwende, bricht der Zauber meiner Spiele entzwei, und zurückgekehrt blicke ich lange auf die verlassenen Spiel­land­schaften: erstarrte Fahrten der Matchbox-Autos, Bauruinen aus Lego-Steinen, abgebrochene Erd­bewegungen im Sandkasten – sinnlose Konstel­lationen fremd gewor­dener Hand­lungen. Erst die Zerstörung der Anordnung befreit die Dinge aus der Umklammerung, in der das letzte Spiel sie gefangen hält.

12     In den Gräben stehen Stichlinge nervös schlin­gernd über dem Sand und doch wie rastend auf ihren Reisen durch die Wasserzüge. Am Grabenrand hockend, betrachte ich meinen Schatten.

13     Einmal fahren wir Taxi. Während meine Mutter besorgt auf den tickenden Taxameter schaut, berauscht mich dies Fahren. Wie mächtig müssen wir sein, dass wir in so einer Karosse sitzen. Der schwarze Lack der Türen und die leuchtend­rot prunkenden Sitze, während draußen alles wie im Halblicht daliegt, entwertet durch eine Opulenz, die nur für uns geschaffen ist und mich beglückt, während sie meiner Mutter Angst zu machen scheint. Ich aber habe keine Angst: Ich sitze im Zentrum der Welt.

14     Auf den Moorwegen aus Bauschutt recken Klinker ihre Spitzen in die Höhe, und ich trete von Stein zu Stein wie zwischen Abgründe hin.

15     Wenn ich bei meiner Großmutter zu Besuch bin, gehen wir sonntags zur Messe in den Dom. Sie kniet nieder und hält die Hände betend vor die Stirn, während ich auf ihre Hand­tasche schaue, die an der Kirchenbank leise pendelt. Mittwochs steht sie sehr früh auf, um wie andere Witwen aus Ober­schlesien in die Rosen­kranz­andacht zu gehen. Ich stelle sie mir dort im Winter vor: alte Frauen aus Gleiwitz, Beuthen, Oppeln und Hindenburg, über die dunkle Kirche verteilt, jede für sich die Litanei murmelnd.

16     Mesalliance und Bankrott haben meinen Onkel ins Elend gebracht. Mit stumpfer Frau und stumpfen Kindern im Schlepp taucht er nur auf Familien­feiern auf. Ununter­brochen redet er wie ein Ver­wirrter auf meinen Vater ein, berichtet von seinen Lkw-Fahrten durch Deutsch­land, Frankreich, Benelux, während seine Frau wie in Trance Kuchen isst und seine Kinder sich unter dem Tisch zu treten beginnen. Seine großen Gesten passen nicht zu seinen Worten: Er begleitet seine Fahrt­routen­referate mit den Arm­bewe­gungen eines Welteroberers, der zu Daheim­gebliebenen spricht, er schichtet Wälle von Städte­namen um sich und berichtet von Bau­stellen, die er mit knapper Mühe in gefährlicher Fahrt passiert hat. Er redet gegen das Schweigen der Familie, gegen Verwandten­fragen nach dem Wohl­ergehen an, und erschöpft verstummt er erst, wenn seine Frau ihm plötzlich harsch den Mund verbietet. Dann sackt er zusammen und starrt in seinen Schoß. Mein Onkel hat tiefbraune, melancho­lische und zugleich verwegene Augen. Mit ihnen könnte er ins Schweigen hinein Geschichten voll Glück und Geheimnis malen, denen kaum jemand widerstände.

17     Wenn meine Eltern arbeiten, bin ich bei einer Tages­mutter. In einem verschlissenen Säckchen hütet sie einen Schatz: elfenbein­farbene Plastik­figuren aus den Dreißiger Jahren, die es damals zur Margarine dazugab: Bäume, Tiere, Menschen, Autos – Silhouetten, die ein Standfuß vor dem Umkippen bewahrt. Mit großer Ausdauer schiebe ich die Figuren auf dem Reso­pal­tisch herum und lasse sie mit­einander Gespräche führen wie Mitglieder einer verschwo­renen Gemeinschaft, während die Tagesmutter in der Stube nebenan fern­sieht, umstellt von Gehäkeltem, die krampfadrigen Beine auf einen Hocker gelegt.

18     Dem Bett gegenüber hängt mein Schutzengel. Er breitet seine Flügel über mich, und ich ziehe froh­gemut mit einem Stecken in die Welt. Der Blick des Engels wacht über meinen Weg, und seine Hand ruht auf meiner Schulter.
Andreas Heckmann 16.04.2011 (1997)   

 

 
Andreas Heckmann
Prosa