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Andreas Heckmann
Der Vogelbeerenentsafter
Es setze sich einmal ein wohlgelockter Mann im Schneidersitz auf den Marktplatz einer Kleinstadt und flicke dort seine Jacke, nach Möglichkeit einen schwarzen, halsbandlosen Hund neben sich. Scheuabfällige Blicke warten seiner, aber auch einige teils schüchterne, teils offene Avancen – das wäre einmal einer, um auf und davon mit ihm zu gehen: nähen kann er, fürsorglich ist er, und die Treue verbürgen schon die Augen des Hundes. Ob er in den Wäldern schläft, die ringsum liegen? Ob er einen Besuch macht und hier verabredet ist, aber wen mag er besuchen? Ob er nicht vom Himmel gefallen ist, gerade auf diesen Fleck, um das Glück zu bringen?
Manch einer führt neben dem Nähzeug auch eine Flöte, eine Querflöte gar mit sich. Oder einen Skizzenblock. Oder beides und obendrein Papier und Feder. Dann kann er sich sogar das Nähzeug sparen, aber bitte nicht den Hund. Kommt er beispielsweise nach Marburg und setzt sich an den Brunnen des Rathausmarktes, so fliegt ihm die Neigung der Studentinnen und Land-WGlerinnen von Gießen bis Biedenkopf, von Herborn bis Stadtallendorf stracks und stark entgegen, vor allem im Frühsommer, in der Zeit von Ende Mai bis in den Juli, wenn die Herzen geöffnet sind und Unruhe in der Brust schlägt.
Aber nicht davon will ich erzählen, sondern von einem der schönsten Berufe, die die Provinz zu bieten hat, dem des Vogelbeerenentsafters. Im Herbst fährt er mit dem Pritschenwagen ins Moor oder ins schüttere Gebüsch. Dort schnallt er eine Kiepe auf den Rücken und beginnt sein Tagwerk mit geschürzten Lippen. In der einen Hand hat er eine Rosenschere, die andere legt er um die Früchte, wenn er mit raschem Schnitt die Ernte einbringt. Die Beeren wirft er, schwupps, über die Schulter in die Kiepe. Rasch wird sie schwer und schwerer, der Schweiß tritt auf die Stirn, der Rücken schmerzt. Mit Schwung kippt er den Inhalt seiner Kiepe auf die Pritsche, und weiter geht's, diesmal ein Lied auf den Lippen. Mittags hat er sich eine Pause verdient, schnallt ächzend die Kiepe ab und öffnet den Henkelmann mit der Erbsen­suppe. Leider ist kein Löffel dabei, da schlürft er aus dem Blech­geschirr, und der Brei läuft ihm übers Kinn. Macht nichts – sieht ja keiner. Nun noch ein wenig auf den Rücken gelegt und den Wolken zugeschaut, dann aber weiter, Kiepe aufge­schnallt, arg gestöhnt und losgezogen. Wieder zu Hause, wird die Ernte auf der Tenne ausgebreitet und mit Stolz beschaut: Was so zusammen­kommt, wenn man pflückt! Am nächsten Tag geht er woanders­hin mit seiner Kiepe, denn da, wo er war, hat er ja schon geerntet – da gibt es nichts mehr zu holen. So lernt der Vogel­beerenent­safter seine Heimat kennen, die kreuz, die quer, in alle Himmels- und Windrichtungen. Mal grüßt ihn der Pfarrer und wünscht gutes Gelingen, mal bekommt er vom Bäcker eine Mohn­schnecke geschenkt. Hausfrauen winken beim Fenster­putzen mit karierten Tüchern. Er strahlt so viel Positives aus mit seiner Kiepe, seinem Pritschenwagen – selbst Lkws hupen im Vorbeifahren. So vergeht der Herbst, und wenn die Blätter fallen und der große Regen beginnt und auf den Wiesen der Nebel in Bänken lagert, bleibt er daheim und wirft die Beeren in die Kelter. Dann ein wenig am Rad gedreht, da sinkt er millimeter­weise ab, der Pressstein, da platzen die Beeren, da läuft der Saft durchs Sieb und sammelt sich in Kanistern. Mit denen fährt er auf die Märkte, im späten Winter und im Frühjahr. Er hat ein Büdchen, darin ein Tischchen, darauf ein paar Kanister, ein, zwei, fünf Liter – der Kunde darf wählen, das tut er gern, und mit glänzenden Augen bezahlt er für den Saft aus den Beeren der Vögel. Kaum ist der Frühling vorbei und der letzte Kanister verkauft, legt sich der Vogel­beerenent­safter in seine Hänge­matte in den Birken und schaut in die Blätter. Erst im Herbst gibt es für ihn wieder zu tun.
Lassen wir nun zwei Menschen aufeinander treffen, nennen wir den Entsafter Erwin, nennen wir die Frau, die auf ihn trifft, Laetitia, die Freude, und tatsächlich freut sie sich über den Erwin, wie er da vor ihr auftaucht. Geben wir Laetitia lange Haare? Geben wir ihr Dreadlocks? Wir geben ihr einen Hund und einen Rucksack, und in den Rucksack stecken wir Malsachen und ein Tagebuch. Wir geben ihr Sandalen und einen knöchellangen Rock, eine Bluse und ein buntes Kopftuch, eine Muschelkette um den Hals und einen Stock in die Hand. Wir geben ihr zweiundzwanzig Jahre oder sechsundzwanzig, vielleicht geben wir ihr dreißig Jahre, dem Vogelbeerensammler vielleicht ein paar Jahre mehr. Aber eigentlich ist das Alter nicht wichtig. Der Erwin jedenfalls hat ein kariertes Hemd an, und seine Haare sind kurz. Gerade liegt er neben seiner Kiepe, der Henkelmann ist leer, der Mund gewischt, nur auf dem Hemd kleben einige Suppentropfen. Er blinzelt in die Sonne, ein Bein über das andere geschlagen. Er wippt mit dem nackten Fuß, raucht eine Selbst­gedrehte und lässt den lieben Gott einen guten Mann sein. Da spürt er den Hund neben sich, gleich versteht er sich mit ihm, zwei Braunäugler, die einander auf den Grund der Pupillen schauen. Dann sieht er Laetitia, auch eine Braunäuglerin, ein richtiges Klassentreffen hier. Hallo, sagt er. Hallo, sagt sie, das ist der Felix. – Angenehm, ich bin der Erwin. – Laetitia. Kann ich mir eine drehen?
Geben wir dem Erwin ein Haus auf dem Land, irgendwas Altes, Abgelegenes, wo mit Holz geheizt wird und der Blick ins Gebirge geht. Von wo's nicht allzu weit in die Stadt, aber doch einsam ist. Nur paar nette Nachbarn, einen Hügel weiter oder zwei oder ein bisschen den Bach entlang. Wiesen, paar hohe Bäume, nur Boiler und Herd sind elektrisch. Und Telefon, nun ja, Telefon hat der Erwin auch. Und viel Platz. Diesmal für Felix und Laetitia.
Wir lassen die Sonne untergehen, ziemlich rot, wir backen uns einen Abendhimmel, doch, das muss heute mal sein. Wir setzen die beiden an den Küchentisch, und den Felix legen wir darunter. Sie trinken Tee, Brot gibt's, Butter und Käse. Auf Kerzen verzichten wir, eine schwache Lampe tut's auch. Der Erwin kann schweigen. Manchmal kann er auch reden, plaudern, parlieren, er kann sogar charmant sein. Aber eigentlich schweigt er lieber. Und das geht mit Laetitia gut. Schon wegen Felix. So ein Hund erspart einem viele Sätze. Sie sitzen also in der Küche, essen, und der Abendhimmel ist sehr rot. Später – auch das gönnen wir ihnen –, später machen sie einen Vollmondspaziergang, die Sterne blinken, und vor ihnen stehen die Berge, dunkel und klar.
Am nächsten Morgen muss der Erwin wieder mit der Kiepe raus, er ist ja Entsafter, da darf er nicht ruhen, da muss er ernten, solange die Trauben orange in den Büschen hängen. Er lässt einen Zettel auf dem Küchentisch: Bin gegen sechs zurück. Fühlt euch zu Haus. Das tut Laetitia, das tut der Felix, dann erkunden sie die Gegend, kaufen ein, Hundefutter und Pizzazutaten. Am Abend ist's bewölkt, später regnet's, dafür gibt's Pizza, diesmal mit Kerzen. Ein Gespräch gibt's auch, über Musik und über die Sterne, übers Malen, übers Hiersein, übers Jetzt. Unter Braunäuglern ist das ja so üblich – die merken das gar nicht; die halten das für normal; die sitzen in verschossenen Ohren­backen­sesseln, rauchen Selbstgedrehte, trinken Wein, jetzt brennt sogar der Kamin, da redet sich's noch besser, und der Felix hat inzwischen ein Körbchen – perfekt.
Den Morgen darauf regnet's noch immer, doch der Erwin geht mit der Kiepe raus – dieses Jahr ist er spät dran mit den Beeren, hat zu lange in die Birken geschaut in diesem großen, warmen Sommer. Wusste ja nicht, dass eine Laetitia käme und ein Felix. Laetitia kramt die Malsachen raus, schreibt Tagebuch, hört Musik, spielt mit dem Hund, macht sich bisschen nützlich. Abends also Eintopf, und dann an den Kamin. Schon nett, das Leben auf dem Lande.
Kann so natürlich nicht weitergehen. Wir wollen uns ja nicht langweilen. Soll der Erwin sich also schneiden beim Beerenpflücken, so richtig tief und brutal? Soll der Hund erkranken oder gar Laetitia? Soll sie ihr Bündel schnüren und gehen, auf und davon, nur einen Zettel auf dem Küchentisch zurücklassen: Danke – viel Glück? Soll jemand dazukommen? Ein streunender Förster? Ein Bösewicht? Ein Nachbar, einer, in den Laetitia sich sofort verliebt? Soll's ja geben, soll vorkommen. Vielleicht ein anderer Entsafter, ein Kollege? Mit kariertem Hemd und kurzen Haaren? Oder ein nassforscher Hühnerdieb? Ein Haderlump?
Lassen wir Laetitia zeichnen, lassen wir sie aus dem Fenster sehen in eine milchige Brühe, neblig, halbdunkel, trüb. Lassen wir sie zeichnen. Geben wir ihr Dämmerung, lassen wir es wirklich dunkel werden. Lassen wir sie Licht machen und in die Küche gehen. Kalt ist es geworden. Lassen wir sie einheizen und den Tisch decken, heute nur Reste von gestern, Brot und Tee. Lassen wir's dabei.
Andreas Heckmann 16.04.2011 (2002)   

 

 
Andreas Heckmann
Prosa